Spracherwerb und osteopathische Gedanken zur Dyslalie

Spracherwerb und osteopathische Gedanken zur Dyslalie

Osteopathische Medizin ÜBERSICHT Spracherwerb und osteopathische Gedanken zur Dyslalie Matthias Riedel* Zusammenfassung Abstract Anders als beisp...

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Osteopathische Medizin

ÜBERSICHT

Spracherwerb und osteopathische Gedanken zur Dyslalie Matthias Riedel*

Zusammenfassung

Abstract

Anders als beispielsweise die motorische Entwicklung im Säuglingsalter, die sich durch relativ hohe Präzision auszeichnet, ist die sprachliche Entwicklung einer größeren physiologischen Schwankungsbreite unterworfen. Die Hauptursache hierfür ist vermutlich, dass viele verschiedene Einflussfaktoren (Hör- und Sehfähigkeit, motorische Koordination der Sprechorgane, aber auch psychische Faktoren, Interaktionen in der Familie usw.) zur Ausdifferenzierung kommunikativer Leistung beitragen. In diesem Zusammenhang ist für den Osteopathen auch die anatomische und damit funktionelle Ausgestaltung der expressiven Systeme bedeutsam. Beispielsweise wird eine Beeinträchtigung der Zungenkoordination durch eine asymmetrische Fehlspannung am Hyoid zur Beeinträchtigung der Formulierung von Zungenspitzenlauten führen. Die Unfähigkeit in einem anderen Beispiel, das /g/ zu formulieren und über ein /t/ zu kompensieren, ist bei einem 3-Jährigen noch nicht auffällig, hingegen bei einem 6-Jährigen behandlungspflichtig. Gründe hierfür sind vielfältig und bedürfen einer guten Diagnostik. In der folgenden Übersicht werden nach einem historischen Überblick zunächst wesentliche Meilensteine des Spracherwerbs beschrieben, um ein überblickendes diagnostisches Instrument für osteopathisch zugängliche Sprech- und Sprachstörung zu vermitteln. Anhand zweier Kasuistiken werden einige wesentliche und typische osteopathische Befunde diskutiert und therapeutische Maßnahmen erläutert.

Other than for example the motor development in a newborn child, which is characterized by a high precision, the speech development is subject to a higher physiologic range of variation. The major cause is probably the influence of multiple factors (as hearing, seeing, motor coordination, but also emotional factors or family interactions and others) on the differentiation of communicative abilities. In these perspectives the anatomic and therefore functional embodiment of the expressive systems is important for osteopaths. For example a discoordination of the tongue muscles caused by an asymmetric strain of the hyoid or the temporal bone will lead to a disturbance of the ability to form the sounds of the tip of the tongue. The inability to produce for example a /g/ (as in the word ghost) and to compensate with a /t/ (as in the word toast) in a 3 year old toddler is not uncommon, but might be necessary to be treated in a 6 year old school child. Reasons for this inability are manifold and need a good diagnostic procedure. This article introduces some meaningful milestones of speech development in order to communicate a surveying instrument in the management of the child with speech- and language-problems. Based on two casuistics, some elementary and typical osteopathic findings are discussed, therapeutic manoeuvres are described.

Schlüsselwörter Sprachentwicklung, Dyslalie, Propriozeption, intrazerebrale Vernetzung, intrakranielle Fehlspannung, muskuläre Koordination

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Keywords Speech development, language disorder, proprioception, intracerebral networking, intracranial strain, muscular coordination

Einleitung Die Humanmedizin beschreibt aus praktischen Erwägungen heraus verschiedene Teilleistungen des Menschen und unterscheidet im Störungsfalle sogenannte Teilleistungsstörungen. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die menschliche Ontogenese ein außerordentlich komplexer dynamischer Vorgang ist. Letztendlich sind Teilleistungen des Körpers in größerer oder geringerer Ausprägung Ausdruck von Gesamtleistungen des Organismus, die das Ineinandergreifen aller Systeme im Körper voraussetzen. Dieses Ineinandergreifen der Funktionssysteme als Voraussetzung für den Erfolg der Ontogenese beginnt bereits mit der ersten Zellteilung nach der Befruchtung der in die Tube entlassenen Eizelle und setzt sich in dem täglichen Gestaltwandel des werdenden und dann im Schwerefeld der Erde reifenden Organismus fort [2]. Jeder Schritt in der motorischen und kognitiven Entwicklung setzt eine Kaskade zuvor beherrschter sogenannter sensomotorischer Meilensteine voraus. Die interindividuelle Variabilität ist allerdings groß. Dies wird allzu leicht übersehen, da wir aus ebenso praktischen Überlegungen heraus zu jeder dieser Teilleistungsstörungen entsprechende Normtabellen und Checklisten entwickelt haben, die uns die Diagnostik erleichtern. Die Zuordnung des einen oder anderen Defizits nach Kriterien dieser Checklisten verleitet manchmal zu vorschneller „Klassifizierung“ von Verhaltensweisen als Teilleistungsstörung.

Dr. med. Matthias Riedel, Jg. 1963, studierte von 1982–1989 in Aachen und Bonn Medizin; 1997 Facharztprüfung in Physikalischer und Rehabilitativer Medizin; 1998–2004 in der Ambulanz für Manuelle Medizin, Bad Krozingen, seit Februar 2004 in Freiburg niedergelassen in eigener Praxis (Ärztliche und Physiotherapeutische Partnerschaft Dr. Riedel & Sailer-Kramer & Schäfle). Seit 2004 Lehrer für Manuelle Medizin bei Kindern bei der Deutschen Gesellschaft für Muskuloskelettale Medizin (DGMSM), seit 2006 Lehrer für pädiatrische Osteopathie, Sprecher des Arbeitskreises pädiatrische Osteopathie in der Deutschen Gesellschaft für Osteopathische Medizin (DGOM).

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Aus der Absicht, diese Teilleistungsstörungen auch als solche zu behandeln, haben sich verschiedene „Teilleistungsstörungstherapien“ abgeleitet, wie z.B. Ergotherapie, Logopädie, Krankengymnastik etc. Ganzheitliche Herangehensweisen, als die sich beispielsweise die osteopathische Medizin versteht, kommen dem tatsächlichen Problemkreis aber näher.

Historischer Überblick Die Menschwerdung begann nach heutigem Forschungsstand in Ostafrika. Durch zufällige Veränderungen (Mutationen) des Erbguts, genetische Rekombinationen und natürliche Selektionsprozesse entstanden aus schimpansenähnlichen Vorfahren – der Gattung Homo – in mehreren Ansätzen und teilweise parallel, neue Zweige des Stammbaums, wobei aus einem davon letztlich der Homo sapiens hervorging [4]. Vögel können Stimmen und Lautäußerungen imitieren, nicht aber Affen. Daraus wird geschlossen, dass unsere Vorfahren das stimmliche Imitieren erst erlernten, nachdem sich die Entwicklungslinien von Schimpansen und Menschen vor etwa 6 Mio. Jahren trennten. Ein versteinertes ca. 60.000 Jahre altes Hyoid eines Neandertalers, das auf israelischem Boden gefunden wurde, zeigt große Ähnlichkeit mit dem des heutigen Menschen. Ganz anders das eines 3-jährigen Kindes, das vor etwa 3,3 Mio. Jahren in Äthiopien zu Tode kam. Diese Knöchelchen ähneln denen der Schimpansen. Irgendwann in dieser Zeit muss sich demnach der menschliche Sprechapparat formiert haben. Erste sichere Hinweise auf lautähnliche vokale Kommunikation fanden Wissenschaftler bei etwa 400.000 Jahre alten Schädeln. Die Anatomie des Innenohrs lässt darauf schließen, dass sprechspezifische Frequenzen schon zu diesem Zeitpunkt gehört werden konnten. Allgemein geht man davon aus, dass die Sprache im Sinne einer Kommunikation auch als Überlebenssicherung vor 80.000 bis 60.000 Jahren entstand [4].

ÜBERSICHT Der physiologische Spracherwerb Die Sprache des Menschen ist das artspezifische Produkt einiger Besonderheiten in der menschlichen Evolution und der Ontogenese. So sind die Aufrichtung gegen die Schwerkraft, die damit verbundene Vergrößerung des Nasen-Rachen-Raums, die Bildung eines Resonanzbogens sowie die Verlagerung der Kopfabstützung auf der Wirbelsäule nach vorne unter die Schädelbasis die Voraussetzungen für das Artikulationsvermögen. Auch scheint die im Wachstum typische Winkelabflachung zwischen Sphenoid und Okziput eine wesentliche Rolle bei der Fähigkeit zur Lautpräzisierung zu spielen. Die Synchondrosis sphenobasilaris (SSB) ist der wesentliche Wachstumsfaktor dieser zentralen Achse Okziput-Sphenoid-Ethmoid (Abb. 1). Weitere Voraussetzung für verbale Kommunikation ist die Entwicklung einer extrem schnellen und differenzierten efferenten neuronalen Versorgung der orofazialen und pharyngealen Region, aber auch des Larynx. Andererseits sind die Optimierung des visuellen, akustischen sowie des propriozeptiven Systems und vor allem die Vernetzung dieser afferenten Systeme entscheidende Faktoren auf dem Weg zum normalen Spracherwerb.

Abb. 1: Die Vergrößerung des Winkels zwischen einer horizontalen Referenzachse durch Ethmoid und Inion einerseits und der Pars basilaris des Okziput andererseits ist entscheidend für den Wachstumsvektor der SSB sowie des Gesichtsschädels und die Bildung des Resonanzraumes. (Aus [3])

Die neuronale Versorgung Die wesentlichen Aspekte hinsichtlich der sehr dichten Versorgung mit afferenten aber auch efferenten Nerven sind durch die sogenannte Zerebralisation des Menschen erklärt [2]. Bis zum Ende des dritten Monats nimmt die räumliche Größe der sich entwickelnden neuronalen Strukturen etwa die Hälfte des gesamten Embryos ein. Nur so können später zahlenmäßig ausreichende Afferenzen ihr zerebrales Ziel auf dem sensorischen Kortex finden und Efferenzen ihren Weg durch die neuronalen Netze bahnen. Beim Blick auf den sensorischen Kortex deutet sich die erhebliche Dominanz der Repräsentation aus dem orofazialen, pharyngealen und laryngealen Regionen an (Abb. 2).

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Abb. 2: Sensorischer Kortex. Man beachte die relative Überrepräsentanz des vom Trigeminussystem gespeisten Gebietes. (Aus [7])

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ÜBERSICHT Visuelle und auditive Vernetzung Auch das wirksame Zusammengreifen dieser Systeme ist abhängig nicht nur von der anatomischen Ausgestaltung sondern auch von ihrer ungestörten Vernetzung. Beispielsweise ist das Nachsprechen eines geschriebenen Wortes oder eines bildlich dargestellten Objekts (z.B. aus einem Bilderbuch) nur dann störungsfrei möglich, wenn die funktionelle Verbindung zwischen dem visuellen und dem auditiven System gelingt [10]. Auch kann die kognitive Wertung des gehörten Wortes „Haus“ nur dann gelingen, wenn ein Kind schon einmal ein Haus gesehen hat. Dies gelingt über zerebrale Schaltbahnhöfe, in denen die Systeme zusammenlaufen und wo einkommende Informationen sowohl des einen als auch des anderen Systems gemeinsam und in direkter Abhängigkeit voneinander bearbeitet werden. Solche Schaltbahnhöfe sind z.B. die Vierhügelplatte oder der Gyrus angularis [10].

Die periphere Perzeption In den weiteren Schritten im Hinblick auf die motorische Ausgestaltung (Schreiben, Nachsprechen) ist die Verbindung zum präfrontalen Kortex wegweisend. Die gezielte und störungsfreie Einbindung muskulärer Leistung in „Gehörtes“ und „Gesehenes“ ist eine weitere Voraussetzung, um expressive Kommunikation zu ermöglichen [10]. Ein Kind kann – um im genanten Beispiel zu bleiben – nur dann lernen, das Wort „Haus“ motorisch auszusprechen oder später mit differenzierter muskulärer Leistung des Armes und der Hand zu schreiben, wenn die afferenten Informationen aus der Sehund Hörbahn qualitativ sauber mit den motorischen Neuronen vernetzt sind. Werden diese Informationen (Afferenzen aus Muskeln, Sehnen, vegetativen Ganglien der beteiligten Funktionsketten) gut verrechnet, sind wesentliche Voraussetzungen zum Sprech-, Lese- und Schreiberwerb gegeben.

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Um diesen wichtigen Punkt zu erläutern, nehmen wir zunächst ein weiteres Beispiel: Um das schwierige Wort „Brezel“ auszusprechen, müssen zunächst die Lippen geschlossen werden (/b/). Gleich im nächsten Schritt muss mit einem Uvulavibrato ein /r/ geformt und mit einem dosierten Luftstrom durch den Larynx intoniert werden. Sofort anschließend müssen über eine Anspannung der suprahyoidalen Muskulatur das Hyoid und der Zungengrund angehoben werden (/e/). Daraufhin muss die Zungenspitze durch Verschluss des Luftstroms weit distal gegen die Maxilla das /t/ formen und dann in gleicher Positionierung vorsichtig und feindosiert ein wenig Luft unter der Zungenspitze für das /s/ vorbeilassen. Anschließend müssen wieder das Hyoid und der Zungengrund angehoben werden für das /e/. Zum Abschluss wird die Zungenspitze gegen die Maxilla in den vorderen Anteilen gedrückt und so der durch thorakale Atmung generierte Luftstrom durch den Larynx in der Mitte unterbrochen, während für das /l/ die Luft und der Ton seitlich um die Zungenspitze herum geleitet wird. Diese hoch anspruchsvolle Arbeit im Wechselspiel zwischen Fühlen (der Muskulatur), Hören und aktiver muskulärer Leistung kann nur gelingen, wenn das Kind genau weiß, in welchem Zustand (Länge, Spannung, Gelenkposition) die hierfür benötigten Strukturen des gesamten muskuloskelettalen Systems (mimische Muskulatur, Kiefermuskulatur, HWS-Muskulatur, aber auch die respiratorische Muskulatur und das Diaphragma thoracalis etc.) sich zu Beginn der Ausführung gerade befinden. Mit anderen Worten: Die afferente Information – die sogenannte Wahrnehmung – muss exakt sein. Dies ist Voraussetzung. Zusammenfassend ist die korrekte Entwicklung der Sprache und des Sprechens auch – und in den genannten Perspektiven besonders – von der funktionsfähigen Vernetzung der afferenten Systeme abhängig. Ein verspannter, im „strain“ befindlicher Muskel kann niemals die Quelle einer sauber und ökonomisch koordinierten Bewegung sein [6]. Diese Bewegung (z.B. die orofazialen Bewegun-

gen zum Sprechen) gelingt nur und ausschließlich dann optimal, wenn Fehlspannungen weder auf artikulärer, ligamentärer, faszialer noch auf muskulärer Ebene vorliegen.

Die Neugeborenenperiode Neugeborene sind in der Lage, nach Geburt all die Laute zu hören und zu bewerten, die sie auch intrauterin gehört haben. Die mütterliche Stimme wird erkannt, die väterliche Stimme anfangs nicht. Mit fortschreitender Entwicklung der kommenden Monate wandelt sich dies, die väterliche Stimme wird zunehmend interessanter und wichtiger. Spricht die Mutter nach der Geburt eine andere Sprache, als während der Schwangerschaft, wird die Stimme aber nicht mehr erkannt [4]. Entscheidender Faktor beim Wiedererkennen von Lauten scheint die Prosodie der Stimme zu sein. Dieser Begriff beschreibt den Klang der Stimme und die Satzmelodie, mit welchen vor allem die emotionale Botschaft in den ersten Lebenswochen transportiert wird. Interessanterweise wird ein Tape, auf dem die Stimme der Mutter aufgenommen ist, erkannt, rückwärts abgespielt aber nicht [4]. Hier ist die Prosodie verändert, was die Botschaft unverständlich macht. Hauptfaktor im Spracherwerb ist nach Tomasello die Nachahmung ([9], zitiert nach [4]). Neugeborene beginnen mit etwa zwei bis drei Monaten, Lippenbewegungen und Prosodie von Bezugspersonen nachzuahmen. Daher ist es ab dieser präverbalen Zeit förderlich, durch besondere Intonation bei Kindesansprache, lange Pausen und übertriebenes Gestikulieren den Kindern eine Vorlage anzubieten. Vier Monate alte Kinder seien in der Lage, aus dem Redefluss heraus den eigenen Namen zu erkennen [4]. Bis zum Ende des ersten Lebenshalbjahres lautieren alle Kinder dieser Welt weitgehend gleich, anschließend konzentrieren sie sich auf die typischen Phoneme (kleinste differenzierende sprachliche Einheit ohne Bedeutung) der Muttersprache. Japanische Kinder können schon kurz nach diesem ersten Halbjahr nicht mehr zwischen /r/ und /l/ differenzieren und deren Aus-

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ÜBERSICHT Tab. 1: Ort der Tonentstehung (Artikulationsort). (Nach [11]) Artikulationsort

Konsonant

Vorne

Bilabiale (p, b, m) Labiodentale (f, v) Alveolare (t, d, n ...) Postalveolare/ Präpalatale (sch) Palatale (ch) Velare (k, g ...) Uvulare (r) Laryngeale (h)

Mitte

Hinten Abb. 3. Im sogenannten Vokaltrapez wird die Positionierung der Zunge zur Bildung der Vokale verdeutlicht. a Bei Vokalen. b Bei Doppellauten. (Aus [11], zitiert nach [5])

sprache erlernen, da es diesen Buchstaben in der Muttersprache nicht gibt. Schwedische Kinder können in diesem Alter zwischen drei unterschiedlichen /a/ unterscheiden [4]. Nach dem ersten Lebenshalbjahr erfolgt zunehmende Wissensvermittlung, und beginnend wird linkshemisphärische Leistung in die Kommunikation eingebracht (z.B. Verbindung von Gesagtem mit Gezeigtem, sog. Triangulation) [13]. Silbenverdopplungen und -ketten haben im diesem Alter eine besondere Bedeutung, da erstmals eine korrekte willkürliche Artikulation von Silbenstrukturen der Sprache gelingt, in die das Kind hineinwachsen wird.

Vokalerwerb Die Vokalbildung wird einerseits von der Mund- und Lippenöffnung gewährleistet, andererseits ist hierfür die muskuläre Führung des Hyoids entscheidend. Im Vokaltrapez wird die Position der Zunge für die verschieTab. 2: Art der Tonentstehung (Artikulationsart). (Nach [8]) Artikulationsart

Konsonant

Plosiv

Stimmlos (p, t, k) Stimmhaft (b, d, g) Verschlusslaut bei gesenktem Velum (m, n, ng) Reibelaute (f, s, sch ർ w, s) l r Doppellaute aus plosiv und prikativ (pf, ts, tsch)

Nasal

Frikativ Lateral Vibrant Affrikat

denen Vokale dargestellt (Abb. 3). Die phylogenetisch und ontogenetisch „älteren“ Vokale sind, mit Ausnahme bei mentalen Behinderungen, in der Behandlung der Sprache und des Sprechens in der Regel kein wesentliches Problem. Voraussetzung für die differenzierte Formulierung von Vokalen ist die Mobilität des Hyoids und die Funktion der supra- und infrahyoidalen Muskulatur.

Konsonantenerwerb Konsonanten haben in der Beurteilung der Sprachentwicklung eine größere Bedeutung. Der Grad der Schwierigkeit, einen Konsonanten zu formieren, spiegelt sich in dem durchschnittlichen Zeitpunkt seines Beherrschens wider. Bei der Betrachtung der Artikulation von Konsonanten wird der Artikulationsort von der -art unterschieden (Tab. 1 u. 2). In Tab. 3 ist der durchschnittliche Entwicklungszeitpunkt der verschiedenen Konsonanten dargestellt. Zur Diagnostik

von Störungen der Sprachentwicklung können uns verschiedene Bildtafeln dienen (Abb. 4).

Störungen des Sprechens und der Sprache Der Begriff Dyslalie kann als ein übergeordneter Begriff verstanden werden. Bei der Dyslalie unterscheiden wir einerseits die phonetischen Störungen des Sprechens (Lautbildungsstörung) und andererseits die phonologischen Störungen, wenn Worte ihrem Sinn entsprechend in der Kommunikation nicht korrekt formuliert werden, während die Einzellaute korrekt artikuliert werden können (Lautverwendungsstörung). Die Einteilung der Sprach- und Sprechstörungen ist in den verschiedenen Fachdisziplinen nicht einheitlich. Die „International Classification of Diseases“ unterscheidet in ihrer 10. Fassung (ICD-10) die expressive von der rezeptiven Artikulationsstörung,

Tab. 3: Durchschnittlicher Zeitpunkt der korrekten motorischen Ausführung beim Lauterwerb. Auch wenn konstante Ersatzmuster (Lispeln) die korrekte Verwendung des Buchstabens /s/ anzeigen, wird dieser Buchstabe oft zur Einschulung noch nicht vollständig beherrscht. Er ist daher in dieser Liste nicht mehr aufgeführt. (Nach [8]) Alter (Jahr;Monat)

Einzelkonsonanten

1;6–1;11

m, d

2;0–2;5

b, p, n

2;6–2;11

w, f, t, k, h,

3;0–3;5

j, ng, r, g

3;6–3;11

Konsonantenverbindungen (initial)

pf, fr, kl bl, br, fl, gl, gr,

4;0–4;5

ch

dr, tr, kr, kn, kv, schm, schr, schn

4;6–4;11

sch

schpr, schtr

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ÜBERSICHT a

b

c

Abb. 4: Beispiele für die Diagnostik. a Das Wort „Saft“ beinhaltet das oft erst zur Einschulung beherrschte /s/ und die Konsonantenkombination /ft/. b Das Wort „Brezel“ greift die erst mit 3,5 Jahren beherrschte Konsonantenkombination /br/ ab, sowie das /ts/, das eine Zungenspitzenkoordination voraussetzt (alveolar, d.h. gleich hinter den Oberkieferschneidezähnen). c Das Wort „Streichhölzer“ birgt eine Fülle schwieriger Konsonantenkombinationen. (Aus [12])

was im Wesen der oben genannten Unterscheidung entspricht. Als weitere Diagnose wird (allerdings nicht im ICD-10) hiervon die sogenannte verbale Entwicklungsdyspraxie abgegrenzt [1]. Hierbei sind die zentrale Sprechplanung und die neuronale Sprechprogrammierung gestört (motorisches Programm, Sprechbewegung) im Sinne einer kombinierten Störung der sensomotorischen Kaskaden. Sie zeichnet sich beim Sprechversuch durch orofaziale Suchbewegungen aus, bei altersentsprechendem Sprachverständnis. Häufig begleitet eine Entwicklungsverzögerung der motorischen Meilensteine mit leichten neurologischen Auffälligkeiten die Artikulationsstörung [1].

fahrungsgemäß ist hierbei häufig das Os palatinum in der Sutura palatina mediana und transversa fixiert. Dies wird palpabel an einer Prominenz dieser Suturen (Abb. 5). Dies führt ebenso wie die diagonale Kompression des Schädeldaches häufig zu einer intraossären Läsion des im frühen Säuglingsalter noch nicht ossifizierten Sphenoids. Nicht ausreichend behandelt kommt es zu einer Links-/ Rechts-Asymmetrie der integrierten Muskulatur. Als häufig dysfunktionell zu nennen sind die Mm. pterygoidei, die bei Fortbestand dann zu einem funktionellen Kreuzbiss führen können. Zudem wird der Wachstumsvektor der maxillären und ethmoidalen Nebenhöhlen durch die Fehlspannung

verändert. Beide Umstände, vor allem aber die Verminderung der Stimulation des Vorwärtswachstums von Sphenoid und Ethmoid kann zu einer Sprachentwicklungsstörung führen, welche – wenn frühzeitig einsetzend – unter kraniosakralen Gesichtspunkten therapierbar scheint (Abb. 6).

Kasuistik 1 Ein heute 4-jähriger Junge wurde mir erstmals im Alter von vier Monaten wegen einer Schräglage und Haltungsasymmetrie vorgestellt. Geburt in 39. SSW aus einer „Vorderhauptslage“ (Näheres war nicht zu eruieren), im Laufe der ersten wenigen Wochen

Osteopathische Therapieschwerpunkte Wenn wir uns die eingangs dargestellten Funktionsabläufe beim Spracherwerb und dann beim Sprechen (aber auch beim Lesen und Schreiben) vergegenwärtigen, so finden sich mehrere osteopathische Fenster, durch die wir therapeutischen Zugang zum Patienten finden. Als Beispiel sei die Mittellinienverlagerung der Ethmoidachse bei einem Säugling mit Schräglage/ Plagiozephalie genannt. Durch die so getriggerte Mittellinienverlagerung der Bewegungsachse der Dura (reziproke Spannungsmembran) und des durch diese vermittelten Cranial Rythmic Impulse (CRI) wird es zu einer asymmetrischen Spannung der assoziierten Strukturen kommen. Er-

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Abb. 5: Bei diesem 4-jährigen Mädchen lässt sich die Prominenz der Sutura palatina mediana erahnen.

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Abb. 6: Beispiel für einen therapeutischen Zugang zur Vomer-Ethmoid-Achse

Abb. 7: Durch Kontakt mit den Alae majores einerseits und unter der Sutura intermaxillaris andererseits kann die Funktion der Vomer-Ethmoid-Achse beurteilt und behandelt werden. Zum anderen können so intraossäre Läsionen zwischen Prä- und Postsphenoid beurteilt und behandelt werden.

Hinterkopfabflachung rechts und einseitige Kopfdrehung nach rechts. Die Therapie gestaltete sich in der Säuglingsphase sehr hartnäckig über insgesamt sechs Sitzungen mit begleitender Physiotherapie. Vorübergehender Abschluss der Behandlung mit elf Monaten im Zustand des Rehlingsläufers mit noch diskreter Asymmetrie im Krabbeln und bei den labyrinthären Funktionstests. Nebendiagnose Asthma bronchiale mit expiratorischem Stridor. Wiedervorstellung im Alter von vier Jahren, durch den Kinderarzt eingeleitete Logopädie. Auffällige muskuläre Hypotonie orofazial und vor allem der Zunge mit häufiger interdentaler Zungenlage. Versteht Gesprochenes, befolgt einfache Anweisungen. Spricht wenig, wirkt gehemmt. Bei dem Bildertafeltests (Abb. 4a-c) fallen Schwierigkeiten der Zungenspitzenkoordination auf, auch die Verschlusslaute /g/ und /k/ aus der hinteren Zungenlage werden wortfinal inkonstant kompensiert durch /d/ und /t/, wortinitial sicher formuliert. Sätze werden vorsichtig und langsam gesprochen, zum Teil

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in einer „eigenen“ und für Außenstehende unverständlichen Sprache. An wesentlichen somatischen Dysfunktionen findet sich eine Seitneigung nach links kombiniert mit einer Rotation nach rechts (SNRre) der Synchondrosis sphenobasilaris (SSB) mit geringer rechts-lateraler Komponente. Die Ethmoiddynamik ist zwar deutlich, aber nicht mit der Membrandynamik synchronisiert. Die Behandlung bestand nach sanftem Lösen der beteiligten Suturen in einer direkten Behandlung der SSB, in einem Lösen des linken Os temporale an der Sutura petrojugularis und einer intraoralen Behandlung des Vomer. Nachdem sich daraufhin das Ethmoid noch nicht gelöst hatte, wurde in einer balancierenden intraoralen Technik die Achse Palatinum – Sphenoid – Ethmoid gelöst. Abschließend erfolgte eine Membrantechnik ebenfalls aus dem Balanced Mebranous Tension Technikenkonzept (BMT) für die Falx und das Tentorium mit Behandlungsfokus auf das Sutherland-Fulcrum. Beim Folgetermin drei Wochen nach dieser Erstbehandlung kommt der Junge fröhlich vor sich hin redend in das Untersuchungszimmer. Er spreche nach Angaben der Mutter sehr viel mehr, auch im Kindergarten sei er – obwohl noch nicht wesentlich verständlicher – sprachlich aktiver. Außerdem traue er sich auch hinsichtlich der körperlichen Bewegung mehr zu, er sei motivierter und aktiver. Der SSB-Strain ist palpatorisch noch in Resten nachweisbar und wird erneut behandelt. Die Fehlbewegung des Ethmoid ist allerdings noch deutlich und daher Gegenstand der weiteren noch andauernden Sitzungen.

Kasuistik 2 Geburt am Termin als elektive Sectio bei Beckenendlage und Fruchtwassermangel. Der bei Vorstellung sechs Jahre und zwei Monate alte Junge sei nach der Geburt sehr verspannt gewesen, habe als Säugling lange gefaustet, sei „verzogen“ und habe fast ausschließlich auf dem Rücken gelegen. Lange bestand eine Refluxproblematik. Therapien wurden

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ÜBERSICHT damals mit dem Vermerk „das wachse sich aus“ nicht angeboten. Später Entwicklung einer zeitlich leicht verspäteten Sprechaktivität, seit einem Jahr (Beginn 4. LJ) logopädische Behandlung nach dem TAKTKIN-Konzept [1]. Der Junge könne alles Sprechen, verstehe alles, nur der Sprech- und Redefluss sei beeinträchtigt. Er habe außerdem oft müde Augen, überspringe beim Lesen Zeilen, auch bei sehr groß Gedrucktem, und zeige Auffälligkeiten in der Augen-Hand-Koordination. Eine Intelligenzminderung sei ausgeschlossen. In der Diagnostik spricht der sehr selbstbewusste Junge alle Bildtafelworte aus. Die Laute sind mit Mühe verständlich. Sobald er in Sätzen spricht, ist aber der Inhalt kaum nachvollziehbar, die Sprache hat lallenden Charakter. Zungenspitzenlaute können kaum gebildet werden, sämtliche Laute entstammen aus dem hinteren Larynx. Bei der Palpation und der Untersuchung der Schädelstrukturen fallen im Schädel-Listening nach Barral eine massive intraossäre Läsion des Sphenoids auf der rechten Seite sowie eine kondylennahe okzipitale Läsion rechts auf. Das rechte Os temporale ist nicht synchronisiert. Das Ethmoid ist fixiert, das Palatinum links geblockt, auch fehlt die reziproke Beweglichkeit in der Vomer-Ethmoid-Achse. In der veranlassten augenärztlichen Kontrolle unbeeinträchtigte Funktion der Augen einzeln, allerdings sei die Konvergenz stark beeinträchtigt. Schwerpunkte der Therapie bei Diagnose „verbale Entwicklungsdyspraxie“ sind die artikulären Zusammenhänge mit dem Sphenoid als zentralem Wachstumsmotor der mittleren Achse [3]. Hierzu werden vorbereitend vor allem über dem anterioren duralen Gürtel gegen die Alae majores mittels Balanced Membranous Tension Techniken (BMT) balanciert, um zunächst die intraossäre Komponente zu mildern. Parallel wird die Vomer-Ethmoid-Achse einschließlich der Primärlä-

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sion (Palatinum) in Synchronisation gebracht (Abb. 7). Die zwischenzeitlich angepasste Sehhilfe wurde nach der Behandlung von dem Jungen verweigert. Zum sechsten Termin beschrieb die Mutter, der Junge habe sich im Wesen sehr verändert. Er sei aufgeschlossener und zugewandter. Im freien Redefluss seien die Sprechstörungen gemindert, aber noch deutlich. Hingegen seien die Störungen in dem Moment nicht mehr vorhanden, wenn der ein halbes Jahr zuvor eingeschulte Junge etwas vorlese. Dann seien keinerlei Störungen mehr zu hören.

Fazit Biomechanische Störungen der orofazialen Region spielen in der Therapie von Sprachentwicklungsstörungen eine wegweisende Rolle. Die neuronale Steuerung des Sprechens wird aufgrund der verbesserten Vernetzung der afferenten und efferenten Systeme durch die Behandlung im Rahmen der Möglichkeiten optimiert. Durch die osteopathische Therapie der expressiven motorischen Komponente scheinen auch die phonologischen Störungen beeinflussbar. Angesichts der eingangs geschilderten Zusammenhänge über die Vernetzung der Systeme ist dies plausibel. Viele Kinder, die ihre expressiven Probleme überwinden, werden gesprächiger, hören aufmerksamer zu und scheinen eine Verbesserung der zentralen Hörverarbeitung zu initiieren,

insbesondere dann, wenn eine verbale Entwicklungsdyspraxie [1] zugrunde liegt. Die vorgestellten Befunde zeigen nur einen Teil der für die Behandlung erforderlichen Zusammenhänge. Ich habe mich in der Zusammenstellung auf die intrakraniellen Befunde bezogen. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass ganzheitliche Phänomene in die Betrachtung einbezogen werden müssen, wie z.B. Haltung, viszerale Spannungsverhältnisse, interaktive familiäre und interpersonelle Gegebenheiten und vieles mehr. Therapiestudien sind wünschenswert. Die oft sehr günstigen Verläufe unter osteopathischer Herangehensweise bei Kindern mit Sprach- und Sprechstörungen in den verschiedenen Ebenen haben mich ermutigt, hier einen Schwerpunkt in der täglichen Arbeit einzurichten. fb

Ich bedanke mich sehr bei der Logopädin Frau Christiane Huck-Sofer aus Denzlingen für die Durchsicht des Manuskriptes.

Korrespondenzadresse: Dr. med. Matthias Riedel, D.O.M. Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin Manuelle Medizin, Sportmedizin Osteopathische Medizin, Spezielle Schmerztherapie Heckerstr. 3 D-79114 Freiburg Tel. (07 61) 61 16 06 www.drriedel.de

Literatur 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

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