FussSprungg 5:21–25 (2007) DOI 10.1007/s10302-007-0267-z
ORIGINAL ARBEIT
J. Hsu
Verlagerungen der Tibialis posterior-Sehne
Eingegangen: 27. Oktober 2006 Akzeptiert: 8. Dezember 2006
Übersetzung: Prof. em. Dr. med. René Baumgartner Langwisstrasse 14 CH-8126 Zumikon b. Zürich, Schweiz
John D. Hsu, M.D., FACS ()) Clinical Professor Chief of Orthopaedics Rancho Los Amigos National Rehabilitation Center 7601 E. Imperial Highway Downey, CA 90242, USA
Posterior tibial tendon transfer anteriorly through the interosseous membrane: indications and surgical technique " Abstract Posterior tibial tendon transfer is used in the ambulatory person to correct (1) dropfoot, (2) varus or equinovarus deformity of the ankle and foot,7 and (3) pes cavus. To minimize surgical trauma and allow a patient to resume standing and walking as quickly as possible post-operatively, a modified technique has been developed. Emphasis is placed on precise surgical technique so that the small incisions used could minimize post-operative pain and allow for early return to activities and better fitting of orthoses and shoewear. " Key words Dropfoot – posterior tibial tendon – interosseous membrane " Zusammenfassung Zwei grundverschiedene Methoden der Verla-
Einführung Sehnenverlagerungen am Fuß gehören zum klassischen Repertoire der rekonstruktiven Chirurgie. Ihr Ziel ist die Verbesserung des Muskelgleichgewichtes
gerung der Tibialis posteriorSehne werden vorgestellt. Bei der ersten Methode wird die Tibialis posterior-Sehne durch die Membrana interossea hindurch nach ventral geführt und kann so zur Korrektur einer schlaffen Lähmung der Fussheber eingesetzt werden. Diese Technik wurde 1954 von Watkins beschrieben und 1978 von Hsu und Hoffer für Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen modifiziert. Die zweite Methode ist die Teilverlagerung der Tibialis posteriorSehne auf die laterale Seite des Fußes oder auf die Peronealsehnen. Sie dient der Verbesserung des Muskelgleichgewichtes bei einer kombinierten flexiblen VarusSupinationsstellung (KlumpfußStellung) im Rahmen zerebraler Bewegungsstörungen. Das operative Vorgehen und die Nachbehandlung werden in allen Einzelheiten beschrieben. " Schlüsselwörter Fallfuß – Tibialis posterior-Sehne – Membrana interossea
durch motorische Ersatzoperationen sowie die Korrektur von flexiblen Fußfehlstellungen. Die Hauptindikation für Sehnenverlagerungen waren historisch gesehen Lähmungsfolgen mit Fehlstellungen nach Poliomyelitis. Gegenüber ossären Korrekturen mit
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Arthrodesen haben Sehnenverlagerungen vor allem bei Kindern und Jugendlichen den Vorteil, das Skelettwachstum nicht zu beeinträchtigen. Sehnenverlagerungen sind heute viel seltener als zur Zeit der Kinderlähmung. Das Spektrum der Indikationen ist dagegen viel breiter gefächert. Das bekannteste und wohl am häufigsten geübte Beispiel ist die vollständige oder partielle Verlagerung der Tibialis anterior-Sehne nach lateral. Weit weniger bekannt sind die Verlagerungen der Tibialis posterior-Sehne. Zwei Methoden mit unterschiedlicher Zielsetzung werden hier vorgestellt. 1. Verlagerung der Tibialis posterior-Sehne durch die Membrana interossea nach ventral 2. Teilverlagerung der Tibialis posterior-Sehne nach lateral.
Verlagerung der Tibialis posterior-Sehne durch die Membrana interossea nach ventral Indikationen Fallfuß wegen Fußheberparese bei: a) Läsion des N. peronaeus b) Ausfall des M. tibialis anterior und der Mm. peronaei c) Neuromuskuläre Erkrankung mit progredientem Ausfall des N. peronaeus d) Ausfall des M. tibialis anterior und/oder der Mm. peronaei brevis und tertius bei Muskeldystrophie Typ Duchenne
a
c
b Abb. 1 a–c Verlagerung der Tibialis posterior-Sehne durch die Membrana interossea nach ventral; a mediale Hautschnitte; b Durchzug der Sehne durch die Membrana interossea. Subcutane Verlagerung auf den Fußrücken; c Interossäre Verankerung der Sehne im Bohrkanal mit Bunnell-Naht
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Abb. 2 Die Tibialis posterior-Sehne ist, zusammen mit einem Anteil des Os naviculare, desinseriert und bis zum Übergang zur Muskulatur subkutan hochgezogen worden. Sie ist nun bereit für die Verlagerung nach ventral durch die Membrana interossea
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Abb. 3 Die nun ventral liegende Sehne wird subkutan nach distal gebracht und im Knochen verankert
Verlagerungen der Tibialis posterior-Sehne
e) Verbliebene Fußheberschwäche nach operativer Korrektur eines kontrakten Spitzfußes f) Verbliebene Fußheberschwäche nach operativen Korrekturen komplexer Rückfußfehlstellungen, z. B. Klumpfuß. Die Indikation zum Tibialis posterior-Transfer ist auch abhängig von der Muskelkraft. Bei der üblichen Einteilung (Janda) in fünf Kraftgrade verringert sich nach einer Sehnenverlagerung die Kraft um ein Grad. Ein Abstieg von Funktionsgrad 5 auf 4 lässt sich funktionell meist gut verkraften. Liegt die Muskelkraft präoperativ nur zwischen 4 und 5, könnten ultraleichte Unterschenkelorthesen postoperativ indiziert sein. Liegt Muskelkraft jedoch präoperativ unter vier, ist eine Sehnenverlagerung kontraindiziert.
Operative Technik Zwei Varianten sind möglich: 1. Beim offenen Verfahren wird die Membrana interossea zwischen Tibia und Fibula von ventral her freigelegt und unter Sicht gefenstert. Watkins hat es 1954 erstmals beschrieben. 2. Beim geschlossenen Verfahren erfolgt die Perforation der Membrana interossea blind von der posterioren Seite her. Hsu und Hoffer haben 1978 diese Methode für Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen entwickelt, um die Betroffenen schneller mobilisieren zu können. Das operative Vorgehen lässt sich in vier Abschnitte unterteilen: 1. Desinsertion 2. Verlagerung 3. Vorbereiten der Reinsertion 4. Reinsertion
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6. Bis zum Übergang des distalen in das mittlere Drittel des Unterschenkels wird die Sehnenscheide subkutan gespalten. 7. Zweiter Hautschnitt auf der Medialseite des Unterschenkels. Auf dieser Höhe geht die Muskulatur in die Sehne über. 8. Das Ende der Sehne wird durch diesen Schnitt herausgezogen und auf die Verlagerung nach vorne vorbereitet.
n Verlagerung Offene Methode (Watkins) Neuer Hautschnitt auf der Ventralseite des Unterschenkels. Der Schnitt muss lang genug sein, um die Membrana interossea darzustellen. Sie wird gefenstert, um die Sehne von hinten nach vorne durchziehen zu können.
Geschlossene Methode (Hsu und Hoffer) Eine starke gebogene Klemme perforiert die Membrana interossea von hinten nach vorne. Während der ganzen Zeit muss die Klemme mit der Seitenwand der Tibia in Berührung bleiben, um Gefässoder Nervenverletzungen zu vermeiden. Die vorgeschobene Klemme setzt nun ventral die Haut von innen her unter Spannung. An dieser Stelle wird der dritte Hautschnitt gemacht. Er braucht nur groß genug zu sein, um eine zweite gebogene Klemme einführen zu können. Die erste von posterior eingebrachte Klemme packt nun die zweite von ventral eingeführte Klemme und führt sie durch den Schnitt in der Membrana interossea hindurch. Durch Spreizen der Klemme ist dieser Schnitt stumpf zu erweitern. Die von vorne eingebrachte zweite Klemme greift nun die Sehne und verlagert sie durch das Fenster nach ventral.
n Desinsertion 1. Palpation der Insertion der Tibialis posterior-Sehne am Tuberculum ossis navicularis. 2. Hautschnitt parallel zum Verlauf der Sehne. 3. Sehnenscheide eröffnen, Sehne freilegen und ggf. proximal von Muskelfasern befreien. 4. Sehne mit einem knöchernen Anteil des Os naviculare desinserieren. Dieses Knochenstück ist wichtig für den Fall, dass die Sehne allein nach der Transposition zu kurz wäre und so eine relative Verlängerung erzielt werden könnte. Zudem erweist sich der Knochenansatz nützlich zur späteren Verankerung am neuen Ort. 5. Bis zur medialen Malleolenspitze wird die Sehne offen präpariert.
n Vorbereiten der Reinsertion Hautschnitt über der Stelle der geplanten Reinsertion. Für Verlagerungen in die Mitte der Fußwurzel erfolgt die interossäre Reinsertion am Os cuneiforme mediale der intermedium. Für Verlagerungen nach lateral erfolgt die Reinsertion am Os cuneiforme laterale oder dem Os cuboideum. Nach scharfer Präparation des Knochens erfolgt das Vorbohren eines genügend großen Kanals. Dann wird die Sehne subcutan zum Fußrücken heruntergezogen. Vor der definitiven Reinsertion empfiehlt es sich, eine angelegte Blutsperre zu öffnen und zur Blutstillung überzugehen. Jetzt können die Wunden auf der
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medialen Seite des Fußes und am Unterschenkel bereits definitiv verschlossen werden.
n Reinsertion Wir legen eine Bunnell-Naht aus resorbierbarem Material Stärke 1–2 in den Sehnenstumpf und belassen Faden und Nadeln in situ. Die Sehne wird nun in den vorbereiteten Knochenkanal eingezogen, wobei die Bunnell-Naht durch die Sohle herausgeführt wird. Zum Schutz der Haut dient eine Schicht TelfaGaze, darüber ein großes Stück Schaumstoff und ein Knopf aus Metall oder Kunststoff, um die Fadenenden miteinander zu verknoten. Dank dem resorbierbaren Material löst sich der Faden bis zum Entfernen des Gipses von selbst auf. Nachdem auch die letzte Wunde vernäht ist, wird der Fuß in korrigierter Stellung mit einem kurzen Unterschenkelgips ruhiggestellt.
Teilverlagerung der Tibialis posterior-Sehne nach lateral
Abb. 4 Teilverlagerung der Tibialis posterior-Sehne nach lateral. Steigbügel aus beiden Sehnenhälften
Operative Technik Prinzip: Spalten der Tibialis-posterior-Sehne in zwei Hälften. Die mediale Hälfte bleibt in situ, die laterale wird umgeleitet auf die laterale Seite des Fußes oder mit den Peronaeus-Sehnen verbunden. Das Ziel der anteiligen Sehnenverlagerung ist ein verbessertes Muskelgleichgewicht und damit eine Korrektur der flexiblen Fehlstellung.
Indikation Bei zerebral-spastisch gelähmten Patienten zieht ein hyperaktiver M. tibialis posterior den Fuß in eine Varus-Supinationsstellung (Klumpfuß-Stellung). Die Sehnenverlagerung dient der Korrektur dieser flexiblen Fehlstellung. Der Eingriff ist nur indiziert, wenn der Muskel phasengerecht innerviert wird. Zur Abklärung gehört deshalb ein EMG im Ganglabor. Zu beachten ist auch das Verhalten und die Stärke der Aktivität des M. tibialis anterior. Oft erweist sich die Korrektur allein mit der Tibialis posterior-Sehne als ungenügend. Dann wäre die totale Verlagerung dieses Muskels zu prüfen.
Postoperative Behandlung Bestehen keine spastischen Lähmungen, darf der Patient schon am Tag der Operation seinen Fuß in Abhängigkeit von der Schmerzsituation belasten. Innerhalb von 5–6 Wochen wächst die Sehne vollständig in den Knochen ein. Bei jüngeren Kindern können 3–4 Wochen genügen. Bei komplikationslosem Verlauf wird der postoperative Gips nicht gewechselt. Ist er aber defekt geworden oder weist er in den ersten 3 Wochen keine ausreichende Passgenaugkeit mehr auf, ist er zu erneuern, was besser unter Sedierung oder Kurznarkose geschieht. Während des Gipswechsels muss der Fuß die ganze Zeit in Korrekturstellung gehalten werden. Beim Spastiker mag es notwendig sein, den Fuß anschließend mit einer Orthese zu versorgen.
Literatur Hoffer M, Reiswig J, Garrett A, Perry J (1974) Split anterior tibial tendon transfer in cerebral palsy. Orthop Clin North Am 5:31
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Hsu JD, Hoffer MM (1978) Posterior tibial tendon transfer anteriorly through the interosseous membrane. Clin Orthop 131:202
Hsu JD, Eduards P (1980) Tendon transfers. In: Myerson M (Hrsg) Current therapy in foot and ankle surgery. B.C. Decker, USA Watkins MB, Jones JB (1954) Transplantation of the posterior tibial tendon. J Bone Joint Surg 36A:1181
Kommentar
Kommentar Mit der Tenotomie der Achillessehne machte die Sehnenchirurgie den Auftakt zur operativen Orthopädie. Bald folgten Sehnenverlängerungen, -verkürzungen und -verlagerungen. Ihre Schwerpunkte waren die Behandlung des angeborenen Klumpfußes und der Kinderlähmungsfolgen. Es war Orthopädie pur: in orthopädischen Anstalten galt es, krumme Kinderfüße gerade richten und dazu das Muskelgleichgewicht so gut wie möglich wiederherzustellen. Auch in den USA entstanden solche Anstalten. Eine davon war das Rancho Los Amigos Hospital am Rande von Los Angeles in Kalifornien. Der Name verrät es: es war für die unbemittelten Einwanderer aus dem nahen Mexiko bestimmt. Daraus ist eine moderne orthopädische Klinik geworden. Ein Schwerpunkt ist die Ganganalyse unter der tüchtigen Jacqueline Perry mit ihrem eigenen Institut.
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Mit dem Verschwinden der Poliomyelitis sind Sehnenverlagerungen etwas in Vergessenheit geraten. Die Indikationen sind seltener geworden und zudem differenzierter, je nach der Grundkrankheit: Muskeldystrophie, Spinale Muskelatrophie, Morbus CharcotMarie-Tooth, angeborene Myopathien, aber auch bei Unfallfolgen. John Hsu als Professor für Kinderorthopädie ist der Spezialist für Muskelerkrankungen und Sehnenverlagerungen. International pflegt er unermüdlich die Kontakte, besonders mit der Alten Welt. Er ist ein gefragter Referent in Gesellschaften für Muskelerkrankungen einerseits und großzügiger Gastgeber an seinem Rancho Los Amigos Hospital, so auch für die Travelling Fellows der „Initiative Technische Orthopädie ’93“. Nun freuen wir uns über seine Zustimmung, für ein deutschsprachiges Fachorgan diesen Beitrag zu verfassen. R. Baumgartner
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