Beitr. Path. Bd. 154,88-91 (1975)
Pathology today
Abteilung fiir klinische Pathologie, Chirurgische Univ.ersitatsklinik Erlangen (Leiter: Prof. Dr. P. Hermanek)
Die Situation der Pathologie in Deutschland Stellenwert der klinischen Pathologie P.HERMANEK Eingegangen am 29. Juli 1974 . Angenommen am 15· August 1974
Voraussetzung einer Standortbestimmung der Pathologie und des Pathologen - dies stellt die Aufgabe dieser Diskussionsreihe dar - ist die Situationskritik. Sie kann zunachst pragmatisch verstanden werden, also als Beantwortung der Frage, was leistet die Pathologie heute und hierzulande? Derartige Probleme sind in unseren Tagen durch zwei Extreme gekennzeichnet: hier der Hang zur ubertriebenen, destruktiven Kritik (und Selbstkritik), dort die Tendenz zur Schilderung einer schon en heilen Welt. Gema6 den Ausfuhrungen von Mohr (1974) im ersten Beitrag dieser Diskussionsreihe haben die Wand lung und der Anpassungsproze6 des letzten Vierteljahrhunderts "die Verwirklichung der funktionelIen, kliniknahen, uberwiegend auf den lebenden Menschen bezogenen pathologischen Anatomie gebracht", "Histochemie, ... Serienschnittechnik, ... und auch die Elektronenmikroskopie sind zur taglichen Routine zum Wohl des lebenden Menschen im Rahmen der praventiven und kurativen Medizin geworden. Sie sind in die alltagliche Arbeit zur Krankenbetreuung durch bioptisch-diagnostische Begutachtungen eingegangen". Mir scheint, da6 gerade wir Pathologen den Boden der Realitaten nicht verlassen solI ten. Vier Punkte, von Klinikem in Deutschland, aber auch in vielen anderen Landem, immer wieder betont (vergleichez.B. dasRundtischgesprach "Pathology today and its teaching" auf dem 4. KongreE der Europaischen Gesellschaft fur Pathologie in Budapest 1973), sollen schlagwortartig die Situation in ein etwas anderes Licht rucken.
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1. Histochemie in der Routine? Die fUr Padiatrie und Kinderchirurgie so wichtige Fruhdiagnose der Innervationsstorungen des Dickdarms (Aganglionose) kann durch die enzymhistochemische Darstellung der Acetylcholinesterase entscheidend bereichert werden. Tatsachlich sind solche Untersuchungen in Mitteleuropa lediglich an zwei Institutionen moglich!
2. Serienschnitte und Routine? Die Entscheidung, ob nach retroperitonealer Lymphonodulektomie wegen nicht-seminomatoser Hodentumoren nachbestrahlt werden solI oder nicht, wird an den meisten Zentren heute yom histologischen Befund an den Dissektionspraparaten abhangig gemacht. Nur in wenigen pathologischen Instituten werden prinzipiell alle aufgefundenen Lymphknoten eingebettet und in nur wenigen Laboratorien werden diese Lymphknoten in Stufenschnitten grundlich aufgearbeitet, obgleich nur hierdurch eine zuverlassige Grundlage fur die Entscheidung uber das weitere therapeutische Vorgehen geschaffen werden kann.
3. Verwirklichung der auf den Lebenden bezogenen pathologischen Anatomie? Die wohl direkteste Entscheidung des Pathologen fur den lebenden Patienten ist die histologische Schnelluntersuchung wahrend der Operation, die uber die Indikation und das AusmaB des operativen Vorgehens bestimmt. Es ist fUr die diesbezugliche Situation in Mitteleuropa charakteristisch, daB diese Untersuchungsmethode im 13 Seiten langen Beitrag von Mohr (1974) uberhaupt nicht erwahnt wird. Viele Chirurgen klagen seit Jahren, daB eine zeitlich zumutbare (5 Minuten!) und effektive Schnellschnittdiagnostik nicht realisiert wird. Viele Chirurgen (auch an Universitatskliniken!) mussen deshalb auf diese morphologische Steuerung ihres operativen Handelns verzichten, weil die fur sie zustandigen pathologischen Institute zu einer effizienten Schnellschnittdiagnostik entweder nicht in der Lage oder hierzu organisatorische Formen ZU schaffen nicht willens sind.
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4. Befundung von Operationspdiparaten als Voraussetzung der Beurteilung der Heilerfolge bei Malignomen Mohr (1974) erwahnt die Befundung von Operationspraparaten lediglich als "mikroskopische Begutachtung ... operativ entfernter kranker Organteile aus diagnostischen Griinden". Zumindest bei Krebsoperationen wird die Diagnose heute ganz iiberwiegend bereits praoperativ histologisch gesichert. Der Chirurg erwartet yom Pathologen daher bei der Beurteilung der Operationspraparate in erster Linie eine differenzierte Aussage iiber die Tumorbeschaffenheit (Klassifikation, Malignitatsgrad) und das AusmaB der kontinuierlichen und lymphogenen Ausbreitung (Hermanek, 1973). Wer regelmaBig an chirurgischen Kongressen teilnimm t, weiB, daB auf diesem Gebiet auch heute noch eine Fiille offener Wiinsche seitens der Chirurgen besteht. Viele Chirurgen konnen die Rektumkarzinome nicht in die detaillierte Dukes'sche Klassifikation einordnen, weil in den pathohistologischen Befunden eine Angabe iiber die Lokalisation der Lymphknotenmetastasen fehlt und damit eine Unterscheidung zwischen den prognostisch so verschiedenen C1- und C2-Fallen nicht moglich ist. Viele Pathologen halten sich in ihrer histologischen Klassifikation nicht an die Vorschlage der WHO (International Histological Classification of Tumours) und verhindern so eine Vergleichbarkeit der chirurgischen Resultate und damit eine Verbesserung der chirurgischen Behandlung.
Diese wenigen Beispiele zeigen, daB in der Pathologie von heute noch manches in der diagnostisch-histologischen Begutachtung den Anforderungen der Kliniker angepaBt werden muK Histochemie, moderne Schnellschnittverfahren und andere neue Methoden sind verstarkt in die Routine einzubauen; die fUr die Klinik relevanten histologischen Fragestellungen sind mit groBer Subtilitat zu bearbeiten. Dies zu realisieren, erfordert mehr technisches Personal, vor allem aber mehr arztliche Mitarbeiter, die sich speziell mit der Untersuchung von Biopsien und Operationspraparaten beschaftigen und hierin eine groBere Erfahrung besitzen. Das Entscheidende aber diirfte in der inneren Einstellung des Pathologen liegen. Unter vielen Pathologen hierzulande gilt die Begutachtung von Biopsien und Operationspraparaten als "Routine", in der kaum wissenschaftliche Leistungen zu erhoffen sind. Dementsprechend steht in Deutschland die direkt klinikbezogene Forschung in der Pathologie gegeniiber der Grundlagenforschung zuriick. Ein zweites Problem ist die Standortbestimmung der Pathologie innerhalb der verschiedenen Disziplinen der Medizin. Wie viele andere Patho-
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logen spricht Mohr (1974) von der dem Pathologen (jetzt noch) gegebenen "zentraien Stellung zwischen Wissenschaft und Praxis". Mit einer solchen Formulierung schaffen wir beim Kliniker Krger. Der Dualismus Wissenschaft / Praxis ist kein Berufskennzeichen des Pathologen. Er gilt auch fur jeden klinisch tatigen Arzt. Der Pathologe steht der Wissenschaft nicht naher als der Chirurg, der Internist oder der Urologe. Medizin ist die theoretisch oder praktisch ausgeubte Beschaftigung mit dem kranken Menschen. Sowohl die theoretisch als auch die praktisch betriebene Medizin arbeitet mit wissenschaftlichen Methoden. Wenn uberhaupt von einer zentralen Stellung in der Medizin gesprochen wird, kann dies nur fur den Kliniker, den Arzt, der den Kranken behandelt, zutreffen. Auch wenn gegen die Pathologie als Hilfseinrichtung der Klinik (Giese, 1968) oder den Pathologen als "histo- und zytodiagnostischen ErfUllungsgehilfen" (Doerr, 1973) immer wieder zu Felde gezogen wird: Letztlich wird die (theoretische wie praktische) Pathologie an der Bedeutung fUr die Klinik, an den klinischen Auswirkungen fUr den Kranken gemessen werden mussen. Insofern sollte der Pathologe nicht von seiner zentralen Stellung sprechen, sondern sich als - freilich sehr bedeutungsvollen - mithelfenden Spezialarzt betrachten. Ich bekenne mich zu einer Auffassung der Pathologie, wie sie A. P. Stout (1972), Professor der Chirurgie und Pathologie an der Columbia University in New York, formulierte: "All my long life of over eighty years, I have had the ideal of service. I have therefore devoted much of my time in trying to be of service to those who must recognize and treat tumors and tumorlike lesions."
Literatur Doerr, W.: Dber die Bedeutung der pathologischen Anatomie fUr die Gastroenterologie. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse, 4. Abhandlung, p. 149. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York (1973) Giese, W.: Eroffnungsrede des Vorsitzenden. Verh. dtsch. Ges. Path. 52, XXXII (1968) Hermanek, P.: Chirurgische klinische Pathologie. In: Zenker, R., Deucher, F., Schink, W. (Hrsg.): Chirurgie der Gegenwart. Band 1: Allgemeine Chirurgie. Lieferung 5, p. 1-36. Urban & Schwarzenberg, Munchen-Berlin-Wien (1973) Mohr, H.- J.: Status und Stellung des Pathologen in der Medizin heute. Beitr. Path. IF, 4 13-4 26 (1974) Stout, A. P.: Vorwort. In: Haagensen, C. D., Feind, C. R., Herter, F. P., Slanetz, Ch. A. jr., Weinberg, J. A.: The lymphatics in cancer. p. VII. W. B. Saunders, Philadelphia-London-Toronto (1972) Prof. Dr. med. Paul Hermanek, Abteilung fur klinische Pathologie, Chirurgische Universitatsklinik, D-8 52 Erlangen, Maximiliansplatz