Osteopathische Medizin
L I T E R AT U R
Thema „Lieblingsbuch“ „Es gefällt mir nicht zu schreiben, ich mache es nur, wenn ich weiß, dass mein Schaffen in die Hände freundlicher Genies gerät, die nicht lesen, um ein Buch voller Zitate zu finden, sondern mit der Seele des Themas gehen, das um seines Wertes willen untersucht wurde – alle Wahrheiten abwägt und dazu beiträgt, seinen Nutzen zum Wohle des Menschen nach vorne zu bringen.“ (Aus: Hartmann C, Pöttner M: Das große Still-Kompendium) Dieses Zitat ist von Andrew Taylor Still (06.08.1828 – 12.12.1917) – der
Doktor Still: der Ursprung der Osteopathie. (Aus: Litvinov I. Osteopathische Skizzen. Jolandos, 2016)
Julia Engelmann
Eines Tages, Baby
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„Alte Doktor“ verstarb vor mittlerweile 100 Jahren. Anlass für jeden von uns, nicht nur sein Andenken zu wahren, sondern ihn einmal mehr zu reflektieren und sich zu fragen, was von ihm und seinen Lehren in unserem 21. Jahrhundert geblieben ist und was sich daraus Neues entwickeln konnte. Sprich: Wo stehen wir heute mit der Osteopathie? Was hat noch Bestand von Still als Naturmensch mit einer hervorragenden Beobachtungsund Wahrnehmungsgabe und einer unbezähmbaren Willenskraft – alles verbunden mit einem besonderen Wissen und Glauben über das Leben, den Menschen. Wer heute osteopathisch fühlt, denkt und arbeitet, der sollte ihn und seine Philosophie mehr denn je im täglichen Wirken für die Natur des Menschen verinnerlichen. Lesen auch Sie noch das „Buch der Natur“ – so wie er?! Zugegeben – Stills Schreibstil ist nicht ganz einfach, aber es lohnt sich, seine Bücher wieder einmal herzunehmen. 2016 erschien bei Jolandos „Erinnerungen an Andrew Taylor Still – Zeitzeugenberichte über den Entdecker der Osteopathie“, herausgegeben von C. Hartmann. Ein Buch, dessen Inhalt diesen erstaunlichen Menschen auf wunderbare Weise beschreibt und so
einen guten Zugang zu seinen Schriften und damit zu den Wurzeln der Osteopathie darstellt. Ein ganz anderes Thema beschert uns Priska Wikus aus unserem Herausgeberteam mit einer Rezension über ihr Lieblingsbuch „Eines Tages, Baby“. Es zeigt sehr einfühlsam, was die Menschen des 21. Jahrhunderts bewegt. Was die Osteopathie des 21. Jahrhunderts inzwischen hervorbringt, sehen Sie an den folgenden Rezensionen und an der aktuellen Liste der Neuerscheinungen und Neuauflagen. Erfüllen Sie doch Stills Vermächtnis und seien Sie die „freundlichen Genies“, die „mit der Seele des Themas“ gehen.
96 Seiten, Paperback Goldmann, 2014 ISBN: 978-3-442-48232-0, € 7,00
zu leben anstatt ihm hinterherzuhetzen. Dabei hält sie ein stetiges Plädoyer für mehr Menschlichkeit, Respekt und Liebe – der Hauptgrund, weshalb ich mich nach diesem für mich persönlich, aber auch weltweit turbulenten Jahr 2016 für meine Literaturempfehlung nicht nur für ihre erste, sondern ihre drei bisher erschienenen Textsammlungen entschieden habe. (Vor Kurzem erschien nach „Eines Tages, Baby“ und „Wir können alles sein“ mit „Jetzt, Baby“ ihr drittes Buch). Denn ich finde mich in ihren Gedanken wieder – sie gaben und geben mir Kraft und Zuversicht, wenn ich zweifle, das Vertrauen
„Es geht nicht um das, was uns trennt, sondern um das, was wir gemeinsam haben. Es geht darum, dass wir uns kennen, mehr als darum, dass wir mal einsam waren.“ Mit ihren ehrlichen Poetry-SlamTexten spricht Julia Engelmann die Sorgen, Ängste und Träume von denjenigen Menschen an, die versuchen, im Trubel unserer Zeit den Mut zu finden, vom Gaspedal zu steigen und das Leben
Viel Spaß beim Stöbern! Kerstin Schmidt, Rubrikleitung Korrespondenzadresse: Kerstin Schmidt kerstinschmidtosteopathie@ t-online.de
18. Jahrg., Heft 1/2017, S. 34–38, Elsevier GmbH, www.elsevier.com/locate/ostmed
Osteopathische Medizin
verliere oder der Weg vor mir unklar wird. Und ich denke, ihre Gedanken treffen den Nerv unserer Zeit: eine Zeit, die geprägt ist von Angst, Neid und Feindseligkeiten dem Fremden gegenüber – aber auch eine Zeit, in der der Ruf immer lauter wird, dass das Wir bedeutender ist als das Ich. Sie machen Mut – und genau das ist das Schöne an Julias Texten: Sie machen Mut – Mut, der größer ist als Angst; Mut, im eigenen Leben Regie zu führen und auch Risiken einzugehen und Mut, für unsere Werte einzustehen. „Wir entscheiden über uns und ob wir auf was verzichten, entscheiden, was uns wichtig ist und wem wir uns verpflichten.
Martin Trepel
Neuroanatomie Struktur und Funktion 422 Seiten, Paperback Urban & Fischer in Elsevier, 6. Aufl. 2015 ISBN: 978-3-437-41287-5, € 38,99 Eines vorweg – es macht Spaß, dieses Buch zu lesen und mit der Hilfe dieses Buches die Neuroanatomie in einem verständlichen, zusammenhängenden Licht zu sehen. Zum einem findet Martin Trepel die richtigen Worte für eine flüssige und leicht lesbare Satzgestaltung und zum anderen verwendet er auch immer wieder passende und lebendige Sprachbilder, um den Stoff eindrücklich zu vermitteln. So findet sich der Leser, die Leserin gemeinsam mit den
L I T E R AT U R Baby, das hier ist für uns, unsere eigene Geschichte!“ Meine Geschichte ist eine Geschichte, in der Liebe größer ist als Hass, in der wir ohne Neid und Gier auskommen und in der Werte wie Respekt, Offenheit und Toleranz nicht nur groß geschrieben, sondern auch gelebt werden. Es ist auch eine Geschichte, in der Menschen aufeinander zugehen, anstatt anderen den Rücken zuzukehren; eine Geschichte, in der Menschen einander zuhören, anstatt anderen den Mund zu verbieten; die jedem individuelle Freiheit, Freiraum und das gelebte Recht zur Selbstbestimmung gibt, anstatt andere dafür zu verurteilen, für was sie einstehen und an was sie glauben.
Das Gute fängt im Kleinen an – ein weiterer Input, den Julia Engelmann ihren Lesern mitgeben möchte. Denn wir alle können unseren Beitrag leisten, anstatt unsere Energie darauf zu ver(sch)wenden, mit dem Finger auf die zu zeigen, die für uns die Welt verändern sollen. „Ich weiß, wir haben schwere Jahre, weltweit ist so vieles tragisch. Also: Halten wir die Fallenden und helfen ihnen beim vielen Tragen.“ Und versuchen wir nicht auch genau das tagtäglich in unserer osteopathischen Praxis?
Hirnnervenkernen in einer Eisdiele wieder. Die Neuroanatomie darzulegen ist generell nicht leicht – stellt sich die Anatomie der Neurologie doch etwas karg in wenig unterscheidbaren Strukturen dar. Und so ist es sicher zielführend, die Struktur mit der Funktion und eigentlich durch die Funktion darzustellen. Auch dies gelingt Trepel recht gut. So werden Funktion und Struktur der Neuroanatomie immer in einer verständlichen Einheit präsentiert. Weiters schließt sich jedem Kapitel ein kurzer Einblick in die dazugehörigen klinischen Bilder an. Diese Ergänzungen durch klinische Aspekte helfen, zunehmend die Zusammenhänge von Funktion und Struktur zu verstehen. Der Aufbau des Buches erfolgt streng nach anatomischen Kriterien (nach einem kurzen Überblick werden die einzelnen Regionen der Neuroanatomie dargestellt), der Autor schafft es aber durch notwendige Wiederholungen, die Strukturen in Beziehung zu setzen, um die Funktionen auch im Ganzen zu verstehen. Jedes größere Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung und Wiederholungsfragen ab – beides durchaus sinnvolle Tools, um den Lernstoff durch die Wiederholung zu verstehen.
Nach so viel Lob soll aber auch etwas Kritik folgen: Die Abbildungen erscheinen doch etwas einfach und ein wenig konservativ. Die Erklärungen der Zusammenhänge werden oft zu wenig durch Diagramme unterstützt. Die Darstellung des limbischen Systems ist sehr karg abgefasst und entsprechende Funktionalitäten werden wenig dargestellt. Auch die Transmittersysteme und die Entwicklung der Neurologie finden aus meiner Sicht zu wenig Platz. Und noch ein Kritikpunkt: Das Buch ist auch mit der Möglichkeit versehen, auf ein Online-Buch zuzugreifen. Leider war ein Zugriff zunächst nicht möglich, da eine Wartefrist einzuhalten war. Später hat der Zugriff aus mir unerfindlichen Gründen nicht funktioniert. Wie hat Gaarder Jostein (ein norwegischer Schriftsteller) einmal treffend gesagt: „Wenn das Gehirn des Menschen so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so dumm, dass wir es doch nicht verstehen würden.“ Das Gehirn und die Neuroanatomie werden uns immer ein großes Rätsel bleiben, aber das Buch Neuroanatomie von Martin Trepel hilft uns, dieses Rätsel ein Stück weit besser zu verstehen.
18. Jahrg., Heft 1/2017, S. 34–38, Elsevier GmbH, www.elsevier.com/locate/ostmed
Priska Wikus, Wien
Dr. med. Erich Mayer-Fally, Wien, ärztlicher Leiter der WSO
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