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Fortsetzungsreihe
Elektronische Vernetzung und zentrale praxisübergreifende Patientenakte als strukturelle Gestaltungsmittel der regionalen interdisziplinären Gesundheitsversorgung im Gesunden Kinzigtal Helmut Hildebrandt1,4,∗ , Udo Kardel1 , Martin Wetzel2 , Kornelia Buntru3 , Bärbel Bächlein4 1 Gesundes
Kinzigtal GmbH, Haslach am Bärenplatz, Hornberg 3 Ortenau Klinikum Wolfach, Wolfach 4 OptiMedis AG, Hamburg 2 Ärzte
Zusammenfassung Das integrierte regionale Versorgungsunternehmen ,,Gesundes Kinzigtal‘‘ vernetzt Ärzte und Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Krankenhäuser, Pflegedienste sowie Vereine und Fitnessstudios und hat Integrierte Vollversorgungsverträge mit Krankenkassen. Zur Umsetzung ihres Ziels der Optimierung von Prävention und medizinischer Versorgung bei gleichzeitiger Senkung von Gesundheitskosten hat die Managementgesellschaft Gesundes Kinzigtal GmbH bei aktuell 38 Ärzte sowie einem Krankenhaus die elektronische Vernetzung zur gesicherten internen Befundübermittlung der von den Patienten freigegebenen Behandlungsdaten umgesetzt. Eine
Schlüsselkarte, genannt Gesundheitspass, bildet patientenseitig die physische Komponente, mit der Patienten ihren Ärzten erlauben, ihre Befunde, Medikationen und Indikationen allen anderen partizipierenden Praxen sowie einer Klinik in Echtzeit automatisiert zu übermitteln. Technologisch wird die zentrale Patientenakte (zPA) mittels lokaler Serverlösung in den Praxen realisiert. Der Artikel beschreibt die Umsetzung dieser Lösung und geht auf die Beweggründe der partizipierenden Ärzte sowie der Klinik und die Herausforderungen der Umsetzung ein.
∗ Korrespondenzadresse.
Helmut Hildebrandt, Gesundes Kinzigtal GmbH, Strickerweg 3d, 77716 Haslach. Tel.: +07832-974 89-0 oder 0172 - 4215165. E-Mail:
[email protected] (H. Hildebrandt). Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) doi:10.1016/j.zefq.2011.10.008
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Die Akteure und Partner Die Gesundes Kinzigtal GmbH ist eine Gemeinschaftsgründung des Medizinischen Qualitätsnetzes – Ärzteinitiative Kinzigtal e.V. (MQNK) und der auf Integrierte Versorgung spezialisierten OptiMedis AG. Mit verschiedenen Partnern aus dem Gesundheitswesen und in enger Zusammenarbeit mit den uns vertraglich verbundenen Krankenkassen AOK Baden-Württemberg und LKK Baden-Württemberg soll der Gesundheitsstatus der Versicherten und insgesamt die Gesundheitsversorgung im Kinzigtal optimiert und damit bei höherer Qualität relativ zur allgemeinen Kostenentwicklung Versorgungskosten eingespart werden. Das geschieht durch gezielte Prävention, eine allgemeine Gesundheitsförderung sowie die Optimierung der interdisziplinären Zusammenarbeit und dem Management chronischer Krankheiten. Die Gesundes Kinzigtal GmbH investiert dazu heute in die Organisation der Versorgung, um aus der Beteiligung an der gesteigerten Gesundheitseffizienz und damit dem erhöhten Deckungsbeitrag der Krankenkasse wiederum einen Ertrag zu erzielen, der das Investment refinanziert (vgl. dazu auch Hildebrandt, Roth, Stunder, Schmitt: Integrierte regionale Versorgung in der Praxis: Ein Werkstattbericht aus dem ,,Gesunden Kinzigtal‘‘ (ZEFQ 8/2011). In einem integrierten Versorgungsnetzwerk arbeitet die Gesundes Kinzigtal GmbH aktuell mit 31 Praxen, d.h. 49 niedergelassenen Ärzten (darunter 22 Allgemein-, 5 Kinder- und 22 Fachärzte), 3 psychologischen Psychotherapeuten, 5 Physiotherapeuten, 11 Pflegeheimen, 4 ambulanten Pflegediensten, einem Sozialpsychiatrischen Beratungsdienst und 6 Kliniken in Form von konkreten Qualitäts- und Kooperationsvereinbarungen etwa zu gegenseitigen Informationsverpflichtungen, zur Zusammenarbeit bei integrierten Behandlungsplänen, zur Kooperation bei präventiven Aktivitäten und in der gemeinsamen Abstimmung der Medikation zusammen. Mit Unterstützung der Managementgesellschaft Gesundes Kinzigtal GmbH setzen heute 38 Ärzte in 27 Praxen sowie ein Krankenhaus die elektronische
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Vernetzung zur gesicherten internen Befundübermittlung der von den Patienten freigegebenen Behandlungsdaten um. Die Ärzte im Kinzigtal haben im Vorgriff auf eine flächendeckende Einführung der elektronischen Gesundheitskarte die Infrastruktur und organisatorischen Voraussetzungen geschaffen, um mit Hilfe des sog. Gesundheitspasses (einer Schlüsselkarte) dem Patienten die Möglichkeit zu geben, ihren Ärzten eine schnellere und umfassende gegenseitige Information der ärztlichen Behandler zu ermöglichen und damit besser, sicherer und qualifizierter behandelt werden zu können. Der Pass enthält selber keine Gesundheitsdaten, sondern nur einen elektronischen Schlüssel, der die Daten für den Arzt entschlüsselt, die mittels lokaler Serverlösung bereits über eine zentrale Patientenakte (zPA) bereits zu ihm von den anderen Ärzten übermittelt wurden.
Fragestellung und Motivation Die hitzige Diskussion um die Einführung einer sog. elektronischen Gesundheitskarte (eGK) ist etwas verstummt, seit mit dem Regierungs- und damit auch Ministerwechsel eine Rückzugsdebatte begonnen hat. In der Koalitionsvereinbarung zwischen Union und FDP wurde festgeschrieben, dass zunächst eine Bestandsaufnahme des Geschäftsmodells und der allgemeinen Organisationsstrukturen durchgeführt werden soll, um danach zu entscheiden, ob eine ,,Weiterarbeit auf Grundlage der Strukturen möglich und sinnvoll ist‘‘ (Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 17. Legislaturperiode, S. 91). Der Hinweis hat genügt, um die Weiterentwicklung und patientenorientierte Nutzung einer eGK nachhaltig zu behindern und zu verzögern. Gesundes Kinzigtal hat sich von diesen Diskussionen frei gemacht. Die Argumentation pro oder contra einer Gesundheitskarte bzw. Gesundheitspasses darf nicht auf die mögliche Überwachung der ärztlichen Leistungen reduziert werden. Zentrale Aufgabe – so die übereinstimmende Meinung der
Leistungserbringer im Kinzigtal – ist es, nach Lösungen und Tools zu suchen, die die Versorgung der Patienten verbessern und dabei für die beteiligten Ärzte wie auch die Patienten selbst die durchgeführte Behandlung und dabei gewonnene Parameter und Medikationen transparent zu halten. Nur so lassen sich in einem ersten Schritt z.B. Behandlungsfehler oder eine Fehlmedikation vermeiden. Dazu sind die Managementgesellschaft und die an ihr beteiligten Ärzte darauf angewiesen, zeitnah medizinische Veränderungen in der eingeschriebenen Versichertenpopulation wahrzunehmen und darauf reagieren zu können. Bisher ist es nur mit einem größeren Zeitverzug möglich, Behandlungsdaten der betreuten Versicherten zu Steuerungszwecken zu erhalten. Die Managementgesellschaft Gesundes Kinzigtal GmbH hat aus den oben aufgeführten Diskussionen und Verzögerungen bereits 2007 ein eigenes Fachkonzept über die Einführung einer ,,Zentralen Patientenakte‘‘ und ,,Gesundes Kinzigtal-Karte‘‘ erstellt und im Jahr 2008 dann auch die Unterstützung der AOK und LKK Baden-Württemberg für die Einführung eines Pilots für die ersten 2.000 Versicherten erhalten. Für die Beteiligten steht die Erhöhung des Gesundheitsnutzens der Versicherten an erster Stelle. Dieser ist allerdings nur realisierbar, wenn sowohl Leistungserbringer wie Versicherte erfolgreich die neuen Möglichkeiten einer elektronischen Vernetzung und der Zusammenführung der patientenindividuellen Daten mit einem elektronischen Gesundheitspass nutzen. Eine entscheidende Voraussetzung ist dabei, den Akteuren vor Ort die Sinnhaftigkeit zu vermitteln und das nötige Vertrauen aufzubauen. Nur wenn der konkrete Nutzen für Arzt und Versicherten verstehbar ist, kann auf regionaler Ebene das Instrument der elektronischen Vernetzung auch zur Steuerung erfolgreich eingesetzt werden.
Ziele des Projektes/Aktivität Der elektronische Gesundheitspass im Gesunden Kinzigtal verfolgt
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verschiedene Ziele. Nutzbringend ist er zunächst vor allem für Patientengruppen, die aufgrund ihrer Multimorbidität regelmäßig unterschiedliche (Fach-)Ärzte aufsuchen und im günstigsten Falle von ihrem Hausarzt in ihren medizinischen Behandlungsabläufen koordiniert werden. Mit Hilfe einer elektronischen Dokumentation kann jetzt zeitnah über alle behandelnden Ärzte hinweg Folgendes erreicht werden:
Daneben bestehen andere begleitende Ziele
• Die
•
• die
Erhöhung der Effektivität/Schnelligkeit der richtigen Behandlung (indem der in der Behandlungskette nachfolgende Arzt wichtige Anamnese- und Notfalldaten sowie Diagnosen, Medikationen und Behandlungsziele sieht), • die Optimierung der Zielgerichtetheit und der gemeinsamen Organisation der Versorgung (u.a. durch Sicht auf die mit dem Arzt des Vertrauens entwickelte Zielvereinbarung des Patienten), • das optimierte Medikamentenmanagement und Vermeidung von Medikamenteninteraktionen (durch Sicht der in der Behandlungskette nachfolgenden Ärzte auf die Medikationen der Ärzte davor) und • die Vermeidung überflüssiger Doppeldiagnostik (durch Sicht auf die eingeholte Diagnostik der Ärzte davor). Der Pilot im Gesunden Kinzigtal unterscheidet sich unseres Erachtens deutlich von der Einführung der bundesweiten eGK insofern, als er
• von den Ärzten selber entwickelt worden ist,
• eine interne Kürzelliste und deren Umwandlung für alle Benutzer hinterlegt ist (z.B. DD = Dauerdiagnose) • im Rahmen eines sehr speziellen Einsparcontracting-Vertrags aus eigenen Mitteln der Managementgesellschaft (in der Erwartung auf Einsparungen durch Verschlanken der Praxisabläufe, verminderte Arzneimittelinteraktionen und verbesserte Versorgung der Patienten) finanziert wird, • kurzfristig realisiert werden kann und • zum Teil schon Mehrwertdienste enthält, die bei der eGK erst sehr viel später eingeführt werden sollen.
•
• •
•
Erhöhung der Effektivität/Sicherheit der Behandlung (durch sicherere und besser organisierte Information der Ärzte über Vorerkrankungen und Befunde). Die sicherere Datenkommunikation und der Befundaustausch zwischen den Ärzten und dem Krankenhaus (gegenüber der bisherigen Situation mit ungesichertem Faxverkehr und de facto ja auch ungesichertem Briefaustausch) durch secure mail-Verbindungen in Kombination mit der zentralen Patientenakte (zPA). Die Erhöhung des Anteils der Patienten, die sich innerhalb des Netzes der Leistungspartner bewegen (da ,,Arzthopping‘‘ außerhalb der Leistungspartner jetzt mit dem Nachteil behaftet ist, dass evtl. vorher schon durchgeführte Untersuchungen von diesem noch einmal gemacht werden müssten), führt zu einer Konzentration auf die mit uns zusammen arbeitenden Praxen und damit durch die abgestimmten Leitlinien auch zu einer Qualitätssteigerung der angewandten Medizin. Die Kostenreduzierung durch Vermeidung von doppelten Untersuchungsund Laboranforderungen. Tests haben bereits ergeben, dass das verwendete Modell auch anschlussfähig ist für die Verknüpfung mit ambulanten und stationären Einrichtungen der Altenhilfe/Pflege. Die Vorbereitung auf die Zeit mit der eGK und den Zusatzanwendungen, die damit möglich sind.
Zusätzlich soll an folgenden mit der zPA verbundenen weiteren Themen gearbeitet und diese Zug um Zug weiterentwickelt werden: Präzisierung der Diagnosesicherheit und -einheitlichkeit (notwendig für die Qualitätssicherung der zPA) und Überlegung der Erweiterung auf eine standardisierte Chronic Care-Dokumentation sowie die modulare Möglichkeit des Ausbaus – zunächst ist die zPA in der Grundstufe nur für die Kette Hausarzt-Facharzt-KH-Ambulanz ausgebaut. Weiterhin können und sollen
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hinzukommen:
• Erhöhung der Sicherheit der Patienten, die das Angebot auch für sich nutzen wollen (durch Zugänglichkeit der zPA für den Notdienst sowie die Notärzte/Rettungsdienste). • Einbeziehung von Pflegeeinrichtungen und später dann auch Apotheken und anderen Leistungspartnern im Gesundheitswesen (jeweils mit spezifischen Teilsichten). • Andockung einer elektronischen Gesundheitsakte für die Patienten mit sicherer Internetzugangsmöglichkeit für die Patienten (die von uns zurzeit noch als nachrangig angesehen wird, da zunächst die Grundlage dafür – die sichere Datenextraktion aus den Praxis-EDV-Systemen – dafür generiert werden muss).
Zentrale elektronische Patientenakte Herzstück der elektronischen Vernetzung ist das Führen einer zPA. Hierbei werden Informationen und Befunde zu einem Patienten in einer zentralen Informationsstruktur verwaltet. Diese umfassen
• Informationen zur Krankheitsgeschichte,
• Informationen zu Medikation, Labor, Befunden und
• Informationen, die in Notfällen benötigt werden. Der Patient behält jederzeit, auch nach Einwilligung zum Anlegen seiner zPA, sein aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Grundgesetzes resultierendes, und vom Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigtes Recht auf Informationelle Selbstbestimmung. Der Austausch der Informationen erfolgt denkbar einfach, da hier auf eine spezielle Kommunikationsstruktur zurückgegriffen werden kann, die den hohen gesetzlichen Bestimmungen gerecht wird. Synergien werden vor allem bei chronisch Kranken schnell deutlich: Ein Diabetespatient, der mit akuten Problemen in die Klinik eingeliefert wird, kann schneller, besser und auch noch kostengünstiger versorgt werden, wenn der Arzt im
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Klinikum die relevanten Daten aus der zPA in Sekundenschnelle zur Verfügung hat.
Umsetzung Eingeschriebene Versicherte, die im Kinzigtal das Angebot des aktuell kostenlosen Gesundheitspasses nutzen möchten, erhalten neben der regulären Krankenversichertenkarte ihrer Kasse eine weitere mit einem Mikrochip ausgestattete Karte von Gesundes Kinzigtal. Mit diesem ,,elektronischen Schlüssel‘‘ kann der Versicherte in der Arztpraxis seine für ihn bereits auf dem Server hinterlegten medizinischen Daten dem jeweilig behandelnden Arzt freischalten. Der Gesundheitspass im Scheckkartenformat kann in allen beteiligten Arztpraxen ausgegeben und erstmalig initialisiert werden. Im Hintergrund des Gesundheitspasses wird über die beteiligten Praxen die zentrale Patientenakte aufgebaut. Bei jedem Arztbesuch kann/sollte der Versicherte seine erhobenen/festgestellten Befunde / Verordnungen/Überweisungen für die zPA freigeben, damit die weiter behandelnden Ärzte oder Krankenhäuser auf dem aktuellen Stand der medizinischen Betreuung sind. Strategische Faktoren für Erfolg (= Erhöhung des Gesundheitsnutzens für den Versicherten) der zPA sind
Der Gesundheitspass
dabei die Standardisierung der Semantik der Ärzte und die Präzisierung der Diagnosesicherheit und -einheitlichkeit (notwendig für die Qualitätssicherung der zPA) sowie die Erweiterung auf eine standardisierte Chronic Care-Dokumentation. Die ersten Erfahrungen haben gezeigt, dass durch eine von den Ärzten individuell verwendete ,,Dokumentationssprache‘‘ die Eindeutigkeit der Aussagen abnimmt und dadurch der Nutzen eingeschränkt werden kann. Die Vorstellung des Gesundheitspasses auf den Mitgliederversammlungen im Sommer 2009 stieß auf intensives Interesse bei den Mitgliedern von Gesundes Kinzigtal (die eingeschriebenen Patienten sind ,,Mitglieder‘‘ von Gesundes Kinzigtal). Zurzeit sind über 1.000 Gesundheitspässe ausgegeben worden. Bereits jetzt geben von den 31 Arztpraxen, die sich als Leistungspartner an das Gesunde Kinzigtal vertraglich
gebunden haben, 27 Praxen mit 38 Ärzten den Gesundheitspass aus. In der praktischen Konsequenz können also nahezu alle Arztpraxen des Gesunden Kinzigtals die in der jeweiligen Praxis für den Patienten hinterlegten Daten nach Freigabe des Patienten lesen und neue Daten des Patienten hinterlegen. Für den täglichen Umgang und Arbeitspraxis sind für die Ärzte die einzelnen Arbeitsschritte übersichtlich zusammengestellt worden. Ein Mitarbeiter der Gesundes Kinzigtal GmbH ist zentraler Ansprechpartner und koordiniert auch die Rückfragen und Verbesserungsvorschläge. Die Nachhaltigkeit des Projektes ist somit gesichert. Die Einbeziehung der Kliniken erforderte einen nicht unerheblichen Zeitaufwand. Die technische Lösung war vergleichsweise kurzfristig möglich, gewichtiger waren die organisatorischen Herausforderungen. Die erste angebundene Klinik, ein konfessioneller Träger,
Ablaufprozess digitale Patientenakte © Gesundes Kinzigtal GmbH
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war zwar recht schnell einverstanden, sich anzubinden und die Verknüpfung mit dem dortigen KIS war auch in kurzer Zeit erfolgreich durchgeführt, allerdings konnte keine Routine in der Anwendung entwickelt werden, da diese Klinik nur recht selten Patienten der beteiligten Ärzte zur Aufnahme überwiesen bekam. Das viel bedeutsamere, in öffentlicher Trägerschaft befindliche Klinikum hatte mit EDV-Umstellungen so viel parallele Projektarbeit zu leisten, dass der Anbindung der Kinzigtal-zPA nicht die erste Priorität zugewiesen werden konnte und bisher für die meisten Standorte und die Zentrale noch nicht realisiert wurde. Einer der Standorte des Klinikums wiederum, dazu mitten im Kinzigtal gelegen, wird allerdings durch einen externen EDV-Service betreut. Dies ermöglichte eine höhere Priorisierung der Anbindung, die auch inzwischen erfolgreich umgesetzt wurde. In weiteren Ausbaustufen sollen auch die anderen Leistungspartner des Versorgungsnetzwerks, als erstes die Pflegeheime (eine Pilotanwendung wurde bereits technisch realisiert), dann der Notdienst, die Physiotherapeuten, die Apotheken und die anderen Partner angebunden werden. Gemäß den Vorgaben von § 140b SGB V wurde für dieses Projekt eine gemeinsame Dokumentation eingeführt, die über den Lauf der Zeit verfolgbar alle Leistungs-, Codierungsund Abrechnungsdaten der Versicherten enthält. Dazu liefern die beteiligten Krankenkassen der Managementgesellschaft alle notwendigen Daten. Diese kann nun evaluieren, inwiefern sich der Krankheitszustand und die Inanspruchnahme von Behandlungsleistungen verändert. Die Nachkontrolle und das daraus mögliche ständige Lernen im Sinne von kontinuierlicher Qualitätsverbesserung erfolgt bereits für alle Präventions- und Gesundheitsmanagement-Programme. Eine analoge Anwendung auf die Einschreibung in das Projekt Gesundheitspass ist ebenfalls vorgesehen, sobald hinreichende Anwendungszahlen vorliegen. In diesem Zusammenhang können (und sollen auch) Ambulante Qualitätsindikatoren und Kennzahlen
(z.B. AQUIK, QISA) erfasst und ausgewertet werden. Mit der Messung von Versorgungs-Outcomes (Ergebnisqualität) sollen Einsatzmöglichkeiten von Qualitätsindikatoren zur Qualitätsförderung, -darstellung und Vergütungskopplung geprüft werden. Hieraus werden Antworten erwartet, wie Ärzte in der Einzelpraxis, auf der Ebene eines Arztnetzes oder in anderen Versorgungsmodellen die Qualität ihrer medizinischen Arbeit messen, bewerten und verbessern können. Unabhängig von der eigenen Auswertung wird die gesamte Arbeit im Rahmen von Gesundes Kinzigtal auch wissenschaftlich durch unabhängige Institute evaluiert. Die Universität Freiburg hat dafür eine ,,Evaluations-Koordinationsstelle Integrierte Versorgung – EKIV‘‘ eingerichtet und insgesamt sieben Universitätslehrstühle sind zurzeit mit den einzelnen Modulen in der Auswertung. Regelmäßige Zwischenberichte werden über einen Newsletter auf der Website www.ekiv.org veröffentlicht.
Datenschutz Die Einführung des elektronischen Gesundheitspasses wurde von Anfang an von der Datenschutzbeauftragten des Gesunden Kinzigtals begleitet, ebenso wie das Projekt der Integrierten Versorgung Gesundes Kinzigtal insgesamt. Da es sich um ein Pilotprojekt einer Integrierten Versorgung mit bevölkerungsbezogener Flächendeckung handelt, stellte und stellt die datenschutzkonforme Gestaltung dieser Integrierte Versorgung eine besondere Herausforderung dar. Die Verantwortlichen des Gesunden Kinzigtals und die Datenschutzbeauftragte stehen in einem kontinuierlichen Dialog mit den Datenschutz-Aufsichtsbehörden und dem Sozialministerium (als Rechtsaufsicht über die Krankenkassen) in Baden-Württemberg über alle Datenschutzfragen, die die Integrierte Versorgung Gesundes Kinzigtal betreffen. Für den elektronischen Gesundheitspass wurde in Abstimmung mit dem
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technischen Dienstleister ein eigenes Datenschutzkonzept entwickelt und umgesetzt. Der Einsatz des elektronischen Gesundheitspasses erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Grundlage und auf Basis einer schriftlichen und, widerrufbaren, Einwilligung des teilnehmenden Patienten. Dabei wurde besonders darauf geachtet, dass der Patient die Hoheit über die Freigabe seiner Daten behält. Nur wenn sich der Patient zur Freigabe der Einsicht in die Informationen gegenüber einem Arzt entscheidet, wird diese auch freigegeben. Dieses Recht ist in dem beschriebenen System technisch abgebildet und umsetzbar. Auch dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz und einzelnen weiteren Landesdatenschutzbeauftragten wurde das Konzept schon vorgestellt, da der Einsatz des Modells auch in anderen Regionen vorgesehen ist.
Umsetzungserfahrungen, Empfehlungen und Anschlussarbeiten Der erfolgreiche Einsatz der elektronischen Vernetzung als Steuerungs- und Gestaltungsmittel der regionalen Gesundheitsversorgung setzt die Akzeptanz auf beiden Seiten voraus: sowohl die Leistungserbringer (hier: zunächst niedergelassene Ärzte) wie auch die Patienten müssen davon überzeugt sein, dass das Instrument des Gesundheitspasses bzw. der zentralen Patientenakte kein Akt der restriktiven Überwachung ist, sondern ein geeignetes technisches Hilfsmittel im Case-Management einer komplexen Erkrankung. Hier musste (und muss weiterhin) viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, denn es bestehen einerseits zum Teil Bedenken gegen den elektronischen Datenaustausch, zum anderen sind die Nutzungsmöglichkeiten der elektronischen Dokumentation und Kommunikation bei vielen Beteiligten nur rudimentär bekannt. Der für das Gesunde Kinzigtal gangbare Weg bestand darin, dass gemeinsam mit den Leistungserbringern nach einer technischen Lösung gesucht worden ist, die von Anfang an auf recht hohe Akzeptanz stößt. Gemeinsam wurde
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das Fachkonzept erarbeitet, das in einem vertrauensvollen Prozess und unter Einschluss von technischen Lösungen einer in der Nähe des Kinzigtals beheimateten Softwarefirma mit spezifischem Gesundheits-Know-hows gestaltet wurde. Es ist mittlerweile auch gelungen, eine gemeinsame elektronische Kommunikationsbasis zu schaffen, die die erforderlichen Behandlungsund Leistungsdaten aus allen von den Leistungspartnern genutzten elektronischen Verwaltungssystemen aufzubereiten und über die zPA zu kommunizieren. Im Mittelpunkt stand und steht die Sinnhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit einer sicheren elektronischen Dokumentation und schnellen Datenkommunikation zwischen den beteiligten Behandlern: der Gesundheitsnutzen des Versicherten muss verbessert werden können, die technische Lösung muss für alle nachvollziehbar und einfach und vor allem ohne zusätzlichen Aufwand anwendbar sein und den hohen Anforderungen des Datenschutzes genügen. Eine besondere Herausforderung besteht in der Schwierigkeit, dass der Nutzen für die Versicherten wie für die Ärzte eigentlich erst dann optimal ist, wenn der Gesundheitspass durch den Patienten bei jedem Arztbesuch eingesetzt wird und möglichst alle Ärzte diese Informationsquelle auch einsetzen und nutzen. Wenn die Patienten den Gesundheitspass bei ihrem Praxisbesuch nicht dabei haben, dann werden die Informationen dieser Behandlung nicht in die zPA gespeichert und sind damit dem nächsten behandelnden Arzt nicht sichtbar. Wenn einer der behandelnden Ärzte wiederum an diesem Verfahren nicht teilnimmt, dann bleibt die zPA unvollständig und der nächste behandelnde Arzt muss weiterhin die Sorge haben, dass seine Behandlung auf einer unvollständigen Informationsbasis aufbaut. Diese Situation steht der im Kinzigtal gewählten und eigentlich naheliegenden schrittweisen Einführung des Verfahrens ein Stück weit entgegen. Drei Lösungswege für eine zügigere Verbreitung und Anwendung des Gesundheitspasses waren im Kinzigtal zunächst überlegt und erprobt worden: Die Mini-Netz-Lösung: Konzentration der Ausgabe und Einführung des
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Gesundheitspasses/zPA zunächst bei ohnehin räumlich und bzgl. einzelner Indikationen enger miteinander kooperierenden Praxen Die Zielgruppen-Lösung: Ausgabe des Passes an vorwiegend chronisch erkrankte Versicherte, die als ,,Heavy-User‘‘ verschiedener Praxen auch den größten Vorteil aus dem Pass bzw. der zPA haben. Die grundsätzliche Lösung: Ausgabe des Passes an jeden Patienten, der daran Interesse bezeugt, verbunden mit der Einschreibung in das IV-Projekt. Die Erprobung der ersten beiden Lösungen hatte im Kinzigtal zu dem bisherigen, gegenüber anderen Netzen in Deutschland zwar sehr weit entwickelten, für die Nutzer im Kinzigtal aber dennoch noch etwas unbefriedigenden Ergebnis geführt. Gemeinsam wurde Ende 2010 auf einer Klausur der ärztlichen Leistungspartner Ende 2010 die Entscheidung getroffen, den neu hinzukommenden Mitgliedern grundsätzlich mit der Einschreibung auch den Gesundheitspass anzubieten, um damit eine zügigere Durchdringung zu erreichen. Andere Gründe trugen aber mit dazu bei, dass die Einführung der Karte sich langsamer vollzog, als gemeinsam erwartet wurde. Auf der bereits erwähnten Klausur wurden so etwa folgende Punkte angesprochen: Die datenschutzkonforme erforderliche Einwilligung und Unterschrift des Patienten macht die Ausgabe der Gesundheitspässe komplexer und erhöht den Erläuterungsbedarf. Mit der Einlesung des Gesundheitspasses und der damit erfolgenden Extraktion der Daten des Praxisverwaltungssystems in die zPA machen die Ärzte ihre Medikation und ihre Befunde allen anderen Leistungspartnern sichtbar. Für einzelne Ärzte könnte dies auch ein inneres Hindernis darstellen, insbesondere wenn sie sich nicht so gern evtl. Fragen anderer Kollegen bzgl. der Adäquanz und Leitlinienübereinstimmung ihrer Therapie stellen wollen. Bisher hatte Gesundes Kinzigtal in Übereinstimmung mit den beiden Krankenkassen nur den ersten 2.000 ihrer Versicherten die kostenlose Ausgabe des Passes bis zum Ende 2011 garantiert
und gleichzeitig zugesichert, dass im Falle einer späteren Entscheidung zu einer Kostenpflichtigkeit die Patienten gefragt würden und den Pass zurückgeben könnten. Einige Patienten hatten deshalb die Annahme des Passes abgelehnt. Um die Durchdringung des Passes bzw. der zPA bei den eingeschriebenen Mitgliedern zu forcieren und dadurch bessere Ergebnisse durch eine abgestimmte Behandlung zu erzielen, wird derzeit geprüft, allen eingeschriebenen Mitgliedern den Pass als Mitgliedsausweis auszuhändigen. Die wichtigste Funktion bliebe die Ver- und Entschlüsselung der Daten in der zPA. Die Datenhoheit läge auch weiterhin beim Patienten: Er entscheidet freiwillig über den Einsatz des Mitgliedsausweises in seiner Funktion als Gesundheitspass. Die Ausgabe des Passes erfordert nicht nur einen Flyer und eine Erläuterung, sondern auch ein dezidiertes Kommunikationskonzept und –training für die Praxismitarbeiterinnen. Hier ist noch weiterer Bedarf gesehen worden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Einführung einer elektronischen Patientenakte durchaus umfangreiche Anforderungen an das Management dieses Prozesses stellt und jenseits der technischen und datenschutzrechtlichen insbesondere auch kulturelle Fragestellungen Beachtung finden müssen. Bei Addition der Aufwände für das Projekt kommen wir auf eine sechsstellige Summe, die seitens der Gesundes Kinzigtal GmbH und den daran beteiligten Firmen und in Teilen auch den Krankenkassen investiert worden ist. Schwieriger ist die Nutzenevaluation, da sich der Nutzen, etwa die vermiedene Medikationsinteraktion oder die zügigere und zielgerichtetere Behandlung, kaum von der allgemeinen Optimierung der Versorgung im Kinzigtal unterscheiden lässt. Dass ein solcher entstanden ist, belegen auf der anderen Seite die laufenden und stetig positiver werdenden Jahresergebnisse im Kinzigtal. Für das Jahr 2008 als dem neuesten Jahr, für das die Ergebnisse gerechnet werden können, belaufen sich diese immerhin auf eine Verbesserung des Deckungsbeitrags für die ca. 30.000 Versicherten der beiden Krankenkassen
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im siebenstelligen Bereich, konkret für die AOK um 4,82 Prozentpunkte gegenüber dem Deckungsbeitrag vor dem Projektstart. Gemeinsam sind wir deshalb überzeugt, den richtigen Weg beschritten und auch technisch probate Möglichkeiten zur Verfügung zu haben, die wir – ,,learning by doing‘‘ – entsprechend der Anforderungen praxistauglich optimieren und für die Übertragung auf andere regionale Versorgungsnetzwerke im Kontext der OptiMedis AG vorbereiten können.
Weiterführende Literatur Gesundes Kinzigtal (2007): Fachkonzept für die im Rahmen der Integrierten Versorgung ,,Gesundes Kinzigtal‘‘
geplante Zentrale Patientenakte und ,,GK-Karte‘‘. Hermann, Christopher/Hildebrandt, Helmut/Richter-Reichhelm, Manfred/ Schwartz, Friedrich Wilhelm/ Witzenrath, Werner (2006): Das Modell ,,Gesundes Kinzigtal‘‘: Managementgesellschaft organisiert Integrierte Versorgung einer definierten Population auf Basis eines Einsparcontractings; in: Gesundheits- und Sozialpolitik, 60. Jg., Mai/Juni 2006, S. 11-29. Hildebrandt, Helmut/Witzenrath, Werner (2009): Ein Werkstattbericht aus dem Projekt ,,Gesundes Kinzigtal‘‘, in: Dr. med. Mabuse 177, Januar/Februar 2009, S. 39-42. Hildebrandt, Helmut/Hermann, Christopher/Knittel, Reinhold/Richter-
Neue Kurzinformation zur ,,Krebserkrankung der Bauchspeicheldrüse‘‘ erschienen
Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) hat eine neue Kurzinformation veröffentlicht, die sich an Menschen mit Bauchspeicheldrüsenkrebs und an ihre Angehörigen richtet. Sie will Betroffene darin unterstützen, die Erkrankung zu verstehen und Hinweise und Hilfen zum Umgang mit ihr geben. Grundlage für die Information bildet die evidenzbasierte Patientenleitlinie ,,Krebserkrankung der Bauchspeicheldrüse‘‘. Die Reihe ,,Kurzinformationen für Patienten‘‘ (KiP) entwickelt das ÄZQ im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Die Informationsblätter stehen allen niedergelassenen Ärzten zum Ausdrucken zur Verfügung, damit sie bei Bedarf den Betroffenen
persönlich ausgehändigt werden können. Das ÄZQ erstellt dafür doppelseitige Dokumente im DIN-A4-Format, die nun als pdf-Download bereit stehen. Das Dokument zur ,,Krebserkrankung der Bauchspeicheldrüse‘‘ sowie Kurzinformationen zu 16 weiteren Themen können abgerufen werden in der Arztbibliothek unter: http://www.arztbibliothek.de/ kurzinformation-patienten und unter: http://www.patienten-information.de/ kurzinformation-fuer-patienten Die KBV bietet die Informationen unter der Adresse http://www.kbv.de/wartezimmerinfo. html an.
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Reichhelm, Manfred/Witzenrath, Werner (2010): Improving population health by a shared health gain approach and a shared savings contract, in: International Journal of Integrated Care, Volume 10, 23 June 2010, S. 11-26. Kassenärztliche Vereinigung BadenWürttemberg (2010): Das Tal der optimierten Versorgung, in: Versorgungsbericht 2009 der KVBW, S. 80-81. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 17. Legislaturperiode (2009): Wachstum.Bildung.Zusammenhalt. Schnabel, Sebastian (2010): Praxisnetze: Professionalisierung kann sich lohnen, in: Die GesundheitsWirtschaft, 4. Jahrgang, Heft 2/10, S. 49-51.
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Korrespondenzadresse: Silja Schwencke Wissenschaftliche Mitarbeiterin Bereich Patienteninformation Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) Gemeinsames Institut von BÄK und KBV TiergartenTower, Straße des 17. Juni 106-108, 10623 Berlin Tel: 030-4005-2552, Fax: 030-4005-2555 Email:
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