BRAIN RESEARCH
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Obituary JAN F. TONNIES 1902-1970
Am 24.12.1970 verstarb unerwartet Dr.-Ing. Dr. med. h.c. Jan Friedrich T6nnies, ein begabter Ingenieur mit ungew/Shnlichem Verst~indnis ffir physiologische Probleme. Viele seiner Entwicklungen, z.B. der Differentialeingang (1936, 1938), wie er heute in jedem bioelektrischen Registrierger/it (EEG, EMG, EKG usf.) verwandt wird, oder die Kathodenfolgeschaltung (1938) sind so selbstverst~indlich geworden, dass niemand mehr sie mit seinem Namen in Verbindung bringt. Ebenso ist nur wenigen bekannt, dass er den ersten direktschreibenden EEG-Apparat gebaut hat, den 5-fachen Neurographen mit Tintenschreibung (1933). J. F. Tfnnies war unter dem Einfluss von Oskar Vogt als junger Ingenieur mit der Biologie in Berfihrung gekommen. Von 1929 bis 1935 war er Leiter der physikalisch-technischen Abteilung des Vogt'schen Kaiser Wilhelm-Institutes fiJr Hirnforschung in Berlin-Buch. In dieser Zeit arbeitete er mit Kornmfiller zusammen. Die erste Beschreibung der "evoked potentials" in spezifischen Rindenfeldern, von Kornmfiller Feldaktionsstr6me genannt, sowie der ffir verschiedene Hirnregionen charakteristischen Potentiale, die "Feldeigenstr/Sme" Kornmfillers, entstand aus dieser Zusammenarbeit. 1933 und 1934 publizierte er Arbeiten fiber die physikalischen Grundlagen der EEG-Ableitung. 1935 verliess er Deutschland aus politischen Grfinden und folgte einer Einladung des sp~iteren Nobelpreistr~igers Gasser an das Rockefeller Institute for Medical Research. Dort arbeitete er auch rein physiologisch fiber die Hinterwurzelpotentiale (1938, 1939). Nach dem Kriege machte er es sich zur Aufgabe, die messtechnischen Voraussetzungen der Elektrophysiologie laufend zu verbessern. Hierzu baute er eine eigene elektromedizinische Apparatefabrik auf. Daneben entstanden aber weiter physiologische Arbeiten mit Paul Hoffmann (1948) und R. Jung (1948) und bedeutende Konzeptionen fiber die Erregungsbegrenzung im Zentralnervensystem (1949) sowie fiber die Rfickmeldung als Funktionsprinzip im Zentralnervensystem (1949). Zuletzt arbeitete er an einer automatischen EEG-Intervallspektrumanalyse (1969). Auf Grund seiner Kenntnis der Neurophysiologie, deren Entwicklung er immer mitverfolgte, war er in der Lage, jedes experimentelle Problem auch physiologisch zu verstehen und seine Apparaturen entsprechend adaptiv zu entwickeln. Serienherstellungen gab es daher bei ihm nicht. Seine Reiz- und Registrierger/ite wurden stets den Problemstellungen angepasst. Bis zuletzt waren ihm Routineanfertigungen uninteressant. Bei Laune und zufrieden blieb er nur, wenn man von ihm Neuentwicklungen verlangte. Brain Research, 28 (1971) 361-364
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OBITUARY J. F. T/JNNIES
So wie J. F. T6nnies technisch seiner Zeit immer voraus war, so waren auch seine politischen Konzeptionen, die er auf Grund eines ausgepr/igten sozialen Verantwortungsgeffihles entwickelte, stets progressiv und selten mit dem aktuellen politischen Klima vereinbar. Sein kompromissloses Einstehen ffir das, was er ffir richtig hielt, trug ibm daher viele, mehr vom Affekt als von der Vernunft diktierte falsche Anschuldigungen ein. Gliicklicherweise nahm er diese in der Regel mehr amfisiert als betroffen zur Kenntnis. Diese wesentliche Seite seiner Pers6nlichkeit war offenbar von Jugend an vorgepr~gt. Er war der Sohn des Kieler Soziologen Ferdinand T6nnies, eines Mannes, der durch seine Haltung und sein soziales Engagement schon die Kritik der Wilhelminischen Bfirokratie auf sich zog. Mit J. F. T6nnies verlor die deutsche Elektrophysiologie einen Mann, der wesentlichen Anteil an ihrer raschen Erholung nach dem Kriege hatte und eine Pers6nlichkeit von ungew6hnlicher Ausstrahlung, Integrit/it und Hilfsbereitschaft. 15.3.71
G. BAUMGARTNER,Z/irich
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Brain Research, 28 (1971) 361-364