Public Health Forum 21 Heft 81 (2013) http://journals.elsevier.de/pubhef
€ Okonomisierung oder Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung Franz Porzsolt Die seit den 70er Jahren zunehmende Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung la¨sst sich zwar nicht umkehren, sollte aber gesteuert werden, um drei Herausforderungen zu meistern: Der Leistungserbringer haftet fu¨r gesundheitliche Risiken und Scha¨den, die als Folge medizinisch unbegru¨ndeter Leistungen entstehen. Diese Leistungen lassen sich daran erkennen, dass der durchschnittliche Nutzen irgendeines Akteurs gro¨ßer ist als der durchschnittliche Nutzen des Patienten. Wirtschaftliche Belastungen, die durch unbegru¨ndete Gesundheitsleistungen entstehen, ko¨nnen nicht den Versicherten angelastet werden. Deshalb beno¨tigen wir Daten, welche den erzielten Nutzen aus der Sicht verschiedener Akteure unter Alltagbedingungen dokumentieren. Die Leistungserbringer sollten selbst auf die Angemessenheit ihrer Leistungen achten, um das eigene Berufsbild nicht zu zersto¨ren. Mit der Umsetzung dieser Forderung kann sofort begonnen werden, weil die Leistungserbringer die zweifellos nu¨tzlichen Leistungen kennen. Diese Ziele ko¨nnen erreicht werden, wenn wir eine gemeinsame Sprache sprechen, gemeinsame Ziele anstreben und gemeinsame Regeln akzeptieren. Beispiele aus drei La¨ndern zeigen, dass der Unterschied zwischen € Okonomisierung und Kommerzialisierung zu beachten ist, um ethische Wertvorstellungen zu schu¨tzen und zu verhindern, dass Versorgungsrisiken
kranker Mitbu¨rger aus kommerziellen Gru¨nden billigend in Kauf genommen werden. Diese Behauptungen lassen sich an Beispielen aus drei La¨ndern belegen. In den USA hat Atul Gawande 2009 im ,,New Yorker‘‘ eine lesenswerte Geschichte u¨ber die Kostenexplosion im amerikanischen Gesundheitssystem vero¨ffentlicht (Gawande, 2009). Als Ursachen werden ein besserer Service, Malpractice, ,,die legale Ho¨lle‘‘, Overutilization und junge, nicht mehr ¨ rzte diskutiert. Bei einer denkende A ,,unkomplizierten Galle‘‘ habe man fru¨her konservative Maßnahmen diskutiert, heute wird die Operation angeraten. Vor 15 Jahren habe man bei der 40-ja¨hrigen Patientin mit ,,Herzschmerzen‘‘ nach einem ha¨uslichen Disput ein EKG angefertigt, die Familienanamnese nach kardialen Risiken und Erkrankungen gepru¨ft und sie bei Schmerzfreiheit und unauffa¨lligen Befunden nach Hause geschickt. Heute werden ein Belastungs-EKG, eine ¨ berwachung und ein HerzMonitor-U katheter anberaumt. Kritische Experten sind sich einig, dass 30% der Gesundheitsleistungen durch einfachere und bessere (z.B. Kommunikation) ersetzt werden ko¨nnen. In Deutschland wurde am 22. Januar 2013 die PREFERE-Studie mit einem Fo¨rdervolumen von 23 Mio. s gestartet (Ludwig, 2013). Diese Studie pru¨ft mit einem Nicht-Unterlegenheits-Design, ob bei Patienten mit Prostatakarzinom in nicht behandlungsbedu¨rftigen Stadien die Operation oder eine Bestrahlung einer therapiefreien Beobachtung nicht unterlegen ist (Sto¨ckle et al., 2011). Die
Berechnung, dass dazu 7.600 Patienten ausreichen, wurde bezweifelt (Grohmann und Lux, 2013; Ulm, 2013). Weitere Ma¨ngel sind das nicht frei zuga¨ngliche Studienprotokoll bei Finanzierung aus Spenden an die Deutsche Krebshilfe und Beitra¨gen an die Krankenkassen (NN, 2013; Wiegel et al., 2013), die Annahme, dass eine 1,54-fache Steigerung der unerwu¨nschten Outcomes (d.h. 1.540 anstatt 1.000 Todesfa¨lle) noch als nicht unterlegen anerkannt wird (Porzsolt, 2013) und der Start der Studie ohne Genehmigung durch die Ethikkommissionen an den jeweiligen Universita¨ten. In Brasilien wurde ein Kommentar als Editorial angenommen, der beschreibt, weshalb bisher weder das Mammographie-, noch das Darmkrebs- noch das PSA-Screening ihr Versprechen einlo¨sen konnten, die Spa¨tfolgen dieser drei Krebserkrankungen zu reduzieren (Porzsolt et al., 2013a). Mit dieser Entscheidung dokumentieren die Kollegen in Brasilien, dass sie sich der notwendigen Diskussion u¨ber die Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung stellen. Mo¨gliche Lo¨sungswege ko¨nnten in allgemeingu¨ltigen Regeln bestehen. Die erste Regel besagt, dass eine kommerzialisierte Gesundheitsleistung vorliegt, wenn deren Nutzen fu¨r irgendeinen Akteur des Systems gro¨ßer ist, als fu¨r den Patienten. Da Nutzen immer auf individuellen Wertvorstellungen beruht, la¨sst sich der Vergleich rechnerisch nur mit vielen Annahmen darstellen. Diese Annahmen sind bei einer semiquantitativen Entscheidung entbehrlich.
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Die zweite Regel sagt Konflikte voraus, wenn die prima¨ren und sekunda¨ren Ziele einer Profession vertauscht werden: Das prima¨re Ziel des Arztes ist es, die Gesundheit seiner Patienten zu erhalten oder wieder herzustellen. Sein sekunda¨res Ziel ist, fu¨r seine Leistung ein angemessenes Honorar zu bekommen. Die Hersteller von Arzneimitteln oder Medizinprodukten haben als prima¨res Ziel, neue Produkte zu entwickeln und diese gewinnbringend in den Markt zu bringen. Als sekunda¨res Ziel unterstu¨tzen sie die Bemu¨hungen anderer Akteure des Gesundheitssystems. Die Krankenkassen sind Versicherungsunternehmen, deren prima¨res Ziel alleine wegen der geforderten Qualifikationsmerkmale nicht mit dem prima¨ren ¨ rzten identisch sein kann. Ziel von A Die in § 1 und § 27 des SGB V beschriebenen Ziele der gesetzlichen Krankenversicherung (,,Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern. . .‘‘) ko¨nnten zu unerwu¨nschten Konflikten fu¨hren, wenn sie als Mitgestaltung a¨rztlicher Aufgaben verstanden werden. Beide Professionen, die Medizin und die Wirtschaftswissenschaft sollten sich von der Vorstellung lo¨sen, die Herausforderungen des Gesundheitssystems ohne Kooperation mit anderen meistern zu ko¨nnen. Dazu ist eine doppelte o¨konomische Analyse zu er¨ rzten wa¨gen. Die erste wird von A mit dem Fokus ,,Wert‘‘ durchgefu¨hrt,
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indem nicht-moneta¨re Kosten und Konsequenzen alternativer Handlungsmo¨glichkeiten gegeneinander abgewogen werden. Die zweite wird von Wirtschaftswissenschaftlern mit dem Fokus ,,Budget‘‘ durchgefu¨hrt, indem sie moneta¨re Kosten und Konsequenzen alternativer Handlungsmo¨glichkeiten nach Abstimmung mit den medizinischen Kollegen gegeneinander abwa¨gen und ,,budget-related decisions‘‘ abgeben (Porzsolt, 2010; Porzsolt, 2011). In aufwa¨ndigen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass selbst die qualitativ besten Studien z.T. erhebliche systematische Fehler enthalten (Porzsolt et al., 2012). Deshalb ist zu u¨berlegen, ob diese unter idealtypischen, aber artifiziellen Bedingungen durchgefu¨hrten Studien zwar exemplarisch als erster Nachweis der Wirkung (efficacy) gefordert werden sollten, danach aber mit Erteilung einer zeitlich begrenzten Kostenerstattung der Weg zur obligaten Durchfu¨hrung indikationsspezifischer Studien unter Alltagsbedingungen geo¨ffnet werden sollte. Die Konzepte zur Durchfu¨hrung von belastbaren Studien unter Alltagsbedingungen wurden ku¨rzlich diskutiert (Porzsolt et al., 2013b). Die seit etwa 40 Jahren international wahrnehmbare Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung setzt deutliche Signale. Das Beispiel aus den USA deutet die Entwicklung an und die deutsche PREFERE-Studie zeigt, was politisch entschieden werden kann. Da sechs Monate nach dem Start dieser Studie kaum Patienten
eingeschlossen wurden, scheint sich zu besta¨tigen, dass die versorgenden ¨ rzte und ihre Patienten sehr wohl A erkennen, wenn ethische Forderungen dem Druck der Kommerzialisierung € weichen. Die Okonomisierung, d.h. das sorgfa¨ltige Abwa¨gen von Aufwand und Ertrag – gerade aus Sicht des Patienten – ist notwendig und aufwa¨ndig, aber zielfu¨hrend. Deshalb sollte als zentrale Hypothese des Autors die Annahme verstanden werden, dass jeder Akteur im Gesundheitssystem prima¨re und sekunda¨re Ziele verfolgt. Fo¨rderungswu¨rdige Projekte lassen sich an der prospektiven und ausgewogenen Abstimmung der Ziele aller Akteure erkennen. Anmerkung: Herrn Dr. Rajan R. Malaviya, IWP Institut fu¨r Wirtschafts- und Politikberatung, 60433 Frankfurt, bin ich fu¨r die unterstu¨tzende Diskussion bei der Konzeption des Beitrags zu Dank verpflichtet. Der korrespondierende Autor erkla¨rt, dass kein Interessenkonflikt vorliegt. Literatur siehe Literatur zum Schwerpunktthema. http://journals.elsevier.de/pubhef/literatur http://dx.doi.org/10.1016/j.phf.2013.09.018
Prof. Dr. Franz Porzsolt Versorgungsforschung und Klinische € Okonomik Klinik fu¨r Allgemein- und Viszeralchirurgie Universita¨tsklinikum Ulm Albert-Einstein-Allee 23 89081 Ulm
[email protected]
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Einleitung € Im Gesundheitssystem ist zwischen Okonomisierung, d.h. dem Abwa¨gen zwischen Aufwand und Ertrag, und der € Kommerzialisierung, d.h. dem Streben nach Gewinn zu unterscheiden. Die Okonomisierung dient der Optimierung der Ergebnisse fu¨r die Patienten, die Kommerzialisierung der Optimierung der Ergebnisse fu¨r alle anderen Akteure des Systems oder deren Unternehmen. Jeder Akteur im Gesundheitssystem verfolgt prima¨re und sekunda¨re Ziele. Interessenskonflikte entstehen, wenn prima¨re und sekunda¨re Ziele vertauscht werden. Deshalb sind die von den Akteuren genannten und die von den Patienten empfundenen Ziele gegeneinander abzuwa¨gen. Summary In health care systems it is necessary to differentiate between econimization (E), i.e. weighing up costs and consequences and commercialization (C), i.e. making profit. E is used to optimize the patients’ results, C to optimize the results for any other players of the system or their organizations. Any player of the health care system is pursuing primary and secondary goals. Conflicts of interest will emerge when primary and secondary goals are exchanged. Therefore, it is necessary to balance the goals which are named by players and those which are perceived by patients. Schlu¨sselwo¨rter: € Okonomisierung = Economization, Kommerzialisierung = Commercialization, Gesundheitsversorgung = Health care
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