Osteopathische Medizin
LESERBRIEF
Leserbrief zum Artikel „Tensegrity und Mechanoregulation: Vom Skelett zum Zytoskelett“ C.S. Chen, D.E. Ingber: OM 2008;4:4–17 Da ich zurzeit eine Masterthese über das Tensegrity-Konzept in der Osteopathie schreibe, fühle ich mich durch die wachsende Präsenz von Tensegrity in osteopathischen Fachzeitschriften besonders angesprochen und möchte daher über die Bedeutung dieser Prinzipien für die Osteopathie berichten. Während die kürzlich veröffentlichte Arbeit von Claude Guimberteau (OM 1/2008) anschaulich darstellt, wie komplex die Architektur unserer Gewebe auf mikroskopischer Ebene ist, zeigte die nun in der OM veröffentlichte Arbeit von Chen und Ingber, welche theoretischen Modelle hinter den Tensegrity-Prinzipien stecken und wie sich diese auf alle Größenordnungen lebender Organismen anwenden lassen. Das Tensegrity-Modell ist deshalb so interessant, weil es deutlich veranschaulichen kann, wie lebende Organismen als komplexe hierarchische Systeme aufgebaut sind. Ingber und sein Team schreiben viel über die Selbstorganisation komplexer Organismen. Dabei spielt die Art und Weise, wie sich die Kompressions- und die Spannungselemente ausrichten, eine große Rolle für die Entwicklung und die Stabilisation dieser Organismen. Auch die Embryogenese, so wie Erich Blechschmidt sie beschreibt, demonstriert diese Prinzipien bei der Differenzierung von Gewebestrukturen. Es ist erstaunlich, wie ähnlich sich die Arbeiten von Ingber und Blechschmidt in diesem Punkt sind. Die Prinzipien von der Organisation von Spannungs- und Kompressionselementen lässt sich überall in der Natur wiederfinden. Die Anwendung dieser Prinzipien in der Osteopathie ist daher nur logisch. Tensegrity beschreibt, wie der Körper als ein dreidimensionales vorgespanntes Netzwerk funktioniert, wobei sich die geodätischen Grundformen fraktal von der mikroskopischen zur makroskopischen Ebene wiederholen, um so eine mechanische und funktionelle Einheit zu bilden. Diese Einheit
bezieht sich also auf die verschiedenen Dimensionen, angefangen von der zellulären Ebene bis hin zum Gesamtorganismus. Die meisten Autoren beschreiben mit dem Tensegrity-Modell die Organisation und die mechanischen Eigenschaften des myofaszialen Netzwerks, das für uns Osteopathen natürlich von besonderem Interesse ist. Die Vorstellung dieses Netzwerks als eine „living matrix“ und wie wir durch die Veränderung im Gleichgewicht von Spannungs- und Kompressionskräften Einfluss auf das gesamte Netzwerk in jeder Dimension haben könnten, ist ein fundamentaler Bestandteil in der osteopathischen Denkweise. So beschreiben viele Autoren, dass man durch die Berührung der Haut mit dem gesamten Netzwerk in Kontakt treten kann. Tensegrity erlaubt uns also zu realisieren, dass wir mit Veränderungen von makroanatomischen Strukturen einen Effekt auf die grundlegenden mikroanatomischen Strukturen und somit auf die Physiologie haben können. Die Vorstellung im makroanatomischen Bereich, dass Knochen die Kompressionselemente und das myo-
fasziale System das Tensionselement darstellen, kommt allerdings nach Meinung der meisten Experten nicht über die Stufe eines didaktischen Modells heraus. Es ist interessant, sich die Funktion so vorzustellen, aber reine Kompressions- oder Tensionselemente gibt es in der makroanatomischen Ebene nicht. Vielmehr sind die Strukturen durch das hierarchische Netzwerk selbst Tensegrity-Strukturen in sich. Betrachtet man Tensegrity als ein mechanisches Naturprinzip, kann man sein Verständnis für die Funktionsweisen biologischer Systeme vertiefen. Und mit diesen Systemen arbeitet die Osteopathie. Eine Anwendung dieser Prinzipien als Modell, um viele Phänomene in der Osteopathie zu beschreiben, halte ich für kritisch, da oft versucht wird, ein Modell durch ein anderes zu ersetzen. Und dann besteht eher die Gefahr, dass man der Osteopathie ein neues Dogma hinzufügt. Das Verstehen eines Naturprinzips wie Tensegrity ist für eine natürliche Medizin wie die Osteopathie ohnehin viel wichtiger. fb Carsten Pflüger, Hannover
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10. Jahrg., Heft 1/2009, S. 39, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed
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