Von der Biomechanik zur Bioinformatik

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Osteopathische Medizin ORIGINALIA Von der Biomechanik zur Bioinformatik Über die Evolution der Manuellen Medizin und der Osteopathie Philip Eckardt ...

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Osteopathische Medizin

ORIGINALIA

Von der Biomechanik zur Bioinformatik Über die Evolution der Manuellen Medizin und der Osteopathie Philip Eckardt

Zusammenfassung

Biomechanik ist der theoretische Kern aller manualmedizinischen Ausbildungen, auch der Osteopathie. Dabei ist die Mechanik nur das letzte Glied einer Kette, welche mit der Verarbeitung von Informationen, z.B. über den externen Raum, in dem wir uns bewegen, anfängt. Diese Informationsverarbeitung, z.B. durch das visuelle System, findet aber in kaum einem manualmedizinischen Ansatz Berücksichtigung. Dazu gehört auch die Okulomotorik, welche eine erhebliche Auswirkung auf die Bewegung des restlichen Körpers hat. Im Zeitalter der Infor­ mation und in Anbetracht ausgiebiger Kenntnisse über die Funktion unseres Informationsverarbeitungssystems, des Nervensystems, ist eine Weiterentwicklung des manualmedizinischen Denkens von der Biomechanik zur Bioinformatik möglich und zeitgemäß.

Schlüsselwörter

Biomechanik, Manualmedizin, Osteopathie, Informationsverarbeitung, Bioinformatik

Abstract

Biomechanics is at the core of all manual medicine training, including osteopathy. But mechanics is only the last link in a chain, which starts with processing information, i.e. about the space in which we move. This information processing, i.e. by the visual system, is not really considered in any manual medicine concept. This is also true for the oculomotor system, which has substantial influence on how the rest of the body moves. In the age of information and in the view of substantial knowledge about our information processing system, the nervous system, a development of manual medicine reasoning from biomechanics to bioinformatics is possible and contemporary.

Keywords

biomechanics, manual medicine, osteopathy, information processing, bioinformatics

Einleitung „It appears perfectly reasonable to any person born above the condition of an idiot, who has familiarized himself with anatomy and is working with the machinery of life, that all diseases are effects, the cause being a partial or complete failure of the nerves to properly conduct the fluids of life.“ (Dt.: Es ist absolut jedem Menschen verständlich, der über dem Zustand eines Idioten geboren wurde, sich mit der Anatomie vertraut gemacht hat und mit der ­Maschinerie des Lebens arbeitet, dass alle Krankheiten Auswirkungen sind, deren Ursache darin liegt, dass die Nerven den Fluss des Lebens nur teilweise oder gar nicht richtig leiten.) A.T. Still [1] Ein wesentliches theoretisches Fundament in den manualmedizinischen Ausbildungen, zu denen auch die Osteopathie zu zählen ist, ist die Biomechanik. Zuletzt wurde dieses Fundament um die Funktion der Faszien noch einmal erweitert und der Gedanke der Biomechanik damit auch noch mal untermauert. Die Wechselwirkung zwischen Struktur und Funktion bildet dabei einen Kern der Argumentation. Und natürlich ist diese Argumentation auch zutreffend, wie jeder manuell a­ rbeitende Therapeut in seiner täglichen Praxis erfährt. Aber jeder Therapeut macht auch die Erfahrung, dass eine mechanische Manipulation eines Gewebes nur kurzfristig von Erfolg gekrönt ist. Die diagnostizierte Fehlstellung im Becken kann zwar manuell korrigiert werden, begibt sich aber im Verlauf der Zeit wieder in die Stellung, in der sie vorher war. Diese

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Beobachtung machte ich nicht nur in eigener Praxis, sondern auch während meiner Tätigkeit als Dozent für Osteopathie bei der DAAO bei den Kursteilnehmern im Verlauf der Ausbildung. Zudem bestätigten viele Kursteilnehmer meine Beobachtung in Gesprächen. Einer meiner Lehrer, der neuseeländische Osteopath Allan Phillips D.O., machte diese Beobachtung in den 1970er Jahren auch und begab sich auf diese Suche nach weiteren Lösungen. Seine Vermutung war, dass die Ursache für wiederkehrende Dysfunktionen in einer Fehlsteuerung durch das Nervensystem liegen müsste. So kann auch das obige Zitat von Still interpretiert werden, wenn man die „fluids of life“ nicht als tatsächliche Flüssigkeit, sondern als Information interpretiert. Dr. Phillips machte sich auf die Suche nach Möglichkeiten, die Funktion des Nervensystems anstelle der Funktion des Gewebes zu manipulieren. Dies bedeutete natürlich, dass die Hirnnerven, die peripheren Nerven und die Strukturen des zentralen Nervensystems in die therapeutische Überlegung und Behandlungen mit einbezogen werden müssen. Dr. Phillips löste das Problem, indem er Repräsentationszonen oder Kontaktpunkte für die Strukturen suchte und dann ein Grundprinzip der nervalen Funktion, nämlich die Steuerung der Interaktion verschiedener ­Systeme, anwandte, um eine Aussage über die Funktion des Nervensystems zu bekommen. Für das Feedback nutzte er ein motorisches Output, also die Muskelfunktionsdiagnostik, ein gängiges ­Ins­trument aus der neurologischen Diagnostik. Fehlerhaft arbeitende ­ Schaltkreise wurden dann über einen manuellen Reiz integriert. So entstand das neurologische Integrationssystem, welches mittlerweile seit über 25 Jahren weltweit, insbesondere in Neuseeland, Australien und den USA, gelehrt wird. Ich habe mich

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ORIGINALIA 2003–2005 bei Dr. Phillips ausbilden lassen. Das Problem der Ausbildung aus meiner jetzigen Sicht – wie auch das Problem vieler manualtherapeutischer Verfahren – ist die Passivität des Patienten. Der Patient liegt die ganze Zeit auf der Liege und ist wenig aktiv beteiligt. Für die Funktion des autonomen Nervensystems ist das nicht so sehr ein Problem, für die Funktionen des Bewegungssystems inklusive der Propriozeption ist eine passive Vorgehensweise aber limitierend. Diese Passivität könnte ein Grund sein, warum die Nachhaltigkeit der Behandlung zu wünschen übriglässt. Dazu kommen noch die Unspezifität vieler Tests und die Überinterpretation der Testergebnisse. Die komplexe Funktion, z.B. eines Hirnnervs, über einen einzigen Kontaktpunkt zu erfassen, ist genauso unmöglich wie einer Kombination an Kontaktpunkten einer spezifischen und zudem nicht überprüfbaren Körperfunktion wie der Funktion der DNA oder spezifischer Neurotransmitter in bestimmten Hirnarealen zuzuordnen.

Wo Still irrte Die mechanistische Sichtweise der Osteopathie spiegelt sich auch in einer Beschreibung, in der die osteopathische Vorgehensweise mit der Instandhaltung einer Lokomotive verglichen wird [1]: Wenn alle Teile wie geschmiert funktionieren, dann läuft die Maschine. Dem Stand der damaligen Technik entspricht das vollständig, hat aber nichts mehr mit dem heutigen Verständnis zu tun. Schaut man sich heutige Technik an, braucht es nicht mehr nur Mechaniker, sondern Mechatroniker und Informatiker. Alle Autos sind heutzutage vollgestopft mit Elektronik, welche mittlerweile nicht nur die Funktion überwacht, sondern auch aktiv eingreift. Das erste, was heutzutage beim Besuch einer Autowerkstatt gemacht wird, ist, die Software auszulesen. Das Äquivalent zur Elektronik im Auto ist das Nervensystem im Menschen, nur dass letzteres eine unbeschreibliche Komplexität und bisher nicht rekonst-

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ruierbare Funktionen besitzt. Mit dem fundierten Wissen, das durch die Neurowissenschaften generiert wird, scheint es fast fahrlässig, dieses nicht mit einzubeziehen. So wie man heute nicht mehr die Funktion von Leber oder Niere aus therapeutischen Überlegungen ausklammern kann, so wird man in absehbarer Zeit nicht mehr die Funktion des Nervensystems ausklammern können. So kann die Formel der Wechselwirkung zwischen Struktur und Funktion in dem Sinne weiter präzisiert werden, dass diese Wechselwirkung die „Software“ ist, die beim biologischen Organismus vom Nervensystem vermittelt wird, um einer Struktur eine Funktion zu geben. Im Idealfall ist diese Funktion situativ angemessen und in perfekter Abstimmung zum restlichen Körper. Das kann nur das Nervensystem gewährleisten. Die aktuelle Formel müsste also lauten: Regulation/Steuerung + Struktur = Funktion.

Auf dem Weg zur neurobasierten Therapie Mit der Überzeugung, dass die Einbeziehung des Nervensystems in Zukunft unabdingbar bei jeder therapeutischen Herangehensweise sein wird und der Unzufriedenheit über bisherige Vorgehensweisen und Erklärungsmodelle habe ich in den letzten 10 Jahren nach einfacheren, aktiveren, spezifischeren und nachvollziehbareren Wegen gesucht, die Funktion des Körpers auf neurologischer Ebene zu untersuchen und zu manipulieren, oder besser gesagt zu modulieren. Die osteopathische Philosophie lebt dabei weiter, die osteopathischen Untersuchungstechniken sind sehr nützlich, um den Körper vor und nach der neurologischen Intervention zu untersuchen. Zunächst wollen wir aber ein solides theoretisches Modell aufbauen, welches die Plausibilität dieser Herangehensweise rechtfertigt. In diesem Modell finden sich eigentlich alle Aspekte der osteopathischen Philosophie wieder; es beantwortet damit auch die Frage, die ich häufig gestellt bekomme: was an dem

neurologischen Ansatz eigentlich noch osteopathisch sei. Meines Wissens hat Still selber nicht darauf bestanden, bestimmte Techniken anzuwenden, sondern die Funktion des Körpers zu verstehen und entsprechend anzuwenden.

Was haben System­ theorie und Regula­ tionstheorie mit der ­osteopathischen ­Philosophie zu tun? „All living things are composed of cells. (…) Complex organisms (i.e., animals) have many cells organized into systems that perform specialized functions, (…). For example mammals like us have digestive, respiratory, circulatory, reproductive, and musculosceletal systems, among others. (…) The nervous system, wich includes the brain and spinal cord and nerve pathways from these to various body organs, glands, and tissues coordinates all the other systems so that the body can work as an integrated unit.“ (Dt.: Alle lebenden Dinge bestehen aus Zellen. (…) Komplexe Organismen (z.B. Tiere) haben viele Zellen, welche in Systemen mit spezialisierten Funktionen organisiert sind (…). Zum Beispiel haben Säugetiere wie wir unter anderem Verdauungs-, Atmungs-, Herz-Kreislauf-, Fortpflanzungs- und muskuloskelettale Systeme. (…) Das Nervensystem, bestehend aus Gehirn und Rückenmark, sowie Nerven von diesen zu verschiedenen Organen des Körpers, koordiniert alle anderen Systeme, sodass der Körper als integrierte Einheit funktionieren kann.) Joseph LeDoux [2] Dieses Zitat eines führenden Gehirnforschers unserer Tage sagt eigentlich alles zum Verhältnis Körper und Gehirn und spiegelt Punkt 1 der osteopathischen Philosophie [3].

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Ich möchte an dieser Stelle diese Tatsache nur etwas weiter spezifizieren. Die wissenschaftlichen Modelle, auf die ich hier nur kurz verweisen möchte, sind die Systemtheorie und die Regulationstheorie. Die Systemtheorie, deren wichtigste Protagonisten Norbert Wiener, Ludwig von Bertalanffy und William Ross Ashby sind, beschreibt dabei, wie kleinere und größere nicht-biologische und biologische Systeme beschrieben werden können und wie ihre Selbstregulation funktioniert (Punkt 2 der osteopathischen Philosophie) [3], im Falle komplexer biologischer Systeme wie dem menschlichen Organismus durch das Nervensystem. Die Regulationstheorie beschreibt hingegen, wie Regulation oder Steuerung von dynamischen Systemen wie dem menschlichen Körper funktioniert. Regelkreise bestehen dabei aus einem Regler, einem Effektor und einem Sensor. Das biologische Äquivalent wäre der efferente oder motorische Teil des Nervensystems als Regler, Gewebe wie Muskeln oder Organe, welche eine Funktion ausführen, und dem afferenten Teil des Nervensystems, welcher mittels spezifischer Sensoren ein Feedback über die ausgeführte Funktion gibt. Die Sensorik bekommt dabei besonders viel Aufmerksamkeit, weil ein Feedback über den aktuellen Zustand des Gewebes nach Ausführung einer Funktion ganz erhebliche Auswirkung auf die weitere motorische Regulation hat. Zu den internen sensorischen Systemen gesellen sich zusätzliche externe sensorische Systeme, welche den Kontext, in dem der Körper sich gerade befindet, ermitteln und überhaupt erst eine wichtige Grundlage der Regulation ergeben. So erst kann eine vorhandene Struktur, ob Bewegungssystem oder Organ, eine durch das Nervensystem vermittelte, situativ angemessen Funktion ausführen (Punkt 3 der osteopathischen Philosophie) [3]. Punkt 4 der osteopathischen Philosophie [3] besagt, die Punkte 1–3 der osteopathischen Philosophie bei der Behandlung zu berücksichtigen. Übersetzt bedeutet das, eine systematische

ORIGINALIA und regulatorische Herangehensweise zu wählen. Das System im menschlichen Körper, welches diese Herangehensweise automatisch beinhaltet, ist, da sind sich Norbert Wiener, Ludwig von Bertalanffy, William Ross Ashby, Josep LeDoux und mit Sicherheit auch viele andere einig, das Nervensystem.

Das integrierte Modell der Neurofunktionellen Integration (NFI) Mit dem Wissen aus dem Medizinstudium, der Ausbildung in Manueller Medizin (Chirotherapie und Osteopathie), den Ansätzen von Dr. Phillips, einer Unmenge an Literatur über funktionelle Neuroanatomie und 15 Jahren praktischer Erfahrung in der Manipulation und Modulation der neurologischen Funktion entwickelte sich eine in weiten Strecken nachvollziehbare Systematik der neurologischen Diagnostik und Behandlung. Dieses neurobasierte Behandlungskonzept habe ich Neurofunktionelle Integration (NFI) genannt, weil es zum Ziel hat, die neurologischen Funktionen der verschiedenen Körpersysteme in ein besseres Zusammenspiel zu bringen. Dabei wird in der Regel erst die Sensorik und dann die Motorik getestet. Es ist davon auszugehen, dass die fehlerhafte Funktion durch eine fehlerhafte Aktivität im Nervensystem verursacht wird. Diese fehlerhafte Aktivität wird dann durch eine andere Körperfunktion verändert. So kann z.B. eine fehlerhafte Funktion im Bereich der Pons, welche sich in einer mangelnden Aufrichtung der Wirbelsäule äußern kann, über eine Aktivierung anderer Kerne im Bereich der Pons, wie z.B. dem Ncl. cochlearis, durch ein Geräusch verändert werden. Bei der Testung der neurologischen Funktion wird neben der subjektiven und objektiven Beurteilung insbesondere auf das Zusammenspiel verschiedener Funktionen geachtet. Findet man z.B. bei der Untersuchung eine schlechte Augenbewegung, möglicherweise bei horizontalen Folgebewegun-

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gen, wird anschließend überprüft, wie sich die Augenbewegungen auf die muskuläre Funktion der oberen oder unteren Extremität auswirkt, im Sinne der Auge-Hand-Koordination oder einer Drehbewegung beim Gehen. Dabei können zwei Phänomene auftreten: Durch die Augenbewegung kann ein normal funktionierender Muskel, z.B. im Hüftbereich, in seiner Funktion gestört werden, oder ein mangelhaft funktionierender Muskel kann in seiner Funktion verbessert werden.

Ein Beispiel der ­inte­grierten neurolo­ gischen Diagnostik und Behandlung Zunächst wollen wir ein paar neurologische Überlegungen anstellen, bevor die konkrete Untersuchung und Behandlung beschrieben werden soll. Kommt ein Patient mit Hüftbeschwerden in die Praxis, so kann das an einer „lokalen“ Störung der Sensorik und Motorik liegen. Mit Blick durch die „neurologische Brille“ bedeutet „lokal“ nicht im Bereich der Hüfte, sondern im Bereich des Nervensystems, das für die Verarbeitung sensorischer und motorischer Funktionen zuständig ist. Darüber hinaus kommen integrierte Funktionen in Betracht. Für die Steuerung der Bewegung ist das visuelle System im Sinne von Exterozeption, d.h. Verarbeitung visueller Informationen, wie auch Okulomotorik von sehr großer Bedeutung. Der visuelle Input liefert die Grundlage der Bewegungsplanung (kognitives motorisches System) [4], die Bewegungen der Augen haben über Reflexe sehr starke Auswirkungen auf die Bewegungen des restlichen Körpers [5]. Des Weiteren spielt das vestibuläre System eine herausragende Rolle bei der Steuerung der Haltung und Bewegung [6]. Diese herausragende Rolle zeigt sich auch an der Größe des Ncl. vestibularis. Zu guter Letzt kann es über die segmentale Verknüpfung der vegetativen Steuerung der Organe mit dem Bewegungssystem über die Afferenzen

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ORIGINALIA zu einer Schmerzprojektion von Organen ins Bewegungssystem oder über die Efferenzen zu einer vegetativ-reflektorischen Störung der Muskelfunktion kommen [7]. Über das emotionale motorische System [4] nehmen zudem die mentalen, also die kognitiven und emotionalen Komponenten Einfluss auf die motorische Funktion. Es gibt also viel zu berücksichtigen. Um sich eine Übersicht zu verschaffen, sind die neurologischen Funktionen anhand der funktionellen Neuroanatomie in 6 Systeme unterteilt: • Exterozeption: Sensorik der Umwelt – Sehen, Hören, Riechen • Propriozeption: Sensorik der Biomechanik • Interozeption: Sensorik der biochemischen und thermischen Physiologie • Somatomotorik: emotionale und kognitive Somatomotorik, Reflexe und Bewegungsmuster • Viszeromotorik: Motorik der biochemischen und thermischen Physiologie • Mentale Systeme: Bewusstsein, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Emotion, Kognition Berichtet der Patient z.B. über ein lokales Trauma, wird man wohl erst die „lokalen“ Funktionen testen. Berichtet der Patient über ein Schädeltrauma oder fallen bei der Untersuchung eher Störungen im Gleichgewichthalten oder in der Okulomotorik auf, so ­werden eher diese Funktionen primär getestet, klagt der Patient auch über vegetative Symptome wie Verdauungsstörungen, so wird man eher das vegetative Nervensystem genauer unter die Lupe nehmen. Angenommen, der Patient ist vor einiger Zeit gefallen (das kann auch Monate oder Jahre her sein) und hat sich dabei sowohl die rechte Hüfte geprellt als auch ein leichtes Schädeltrauma zugezogen. Die Haltung ist durch eine mangelhafte Extension der rechten Wirbelsäule im Oberkörper nach links

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rotiert, das Gangbild zeigt eine mangelnde Extension der Hüfte, der Einbeinstand rechts geht nicht sehr gut, die Muskelfunktion zeigt eine Inhibition des M. gluteus medius und maximus, die subjektive Sensorik im Hüftbereich ist unauffällig. Die fehlerhafte Extension auf der rechten Seite (Haltung und Muskelfunktion) sowie der auffällige Einbeinstand gekoppelt mit der Anamnese (leichtes Schädeltrauma) lassen vermuten, dass eine Dysfunktion im Gleichgewichtssystem besteht. Über den Tractus vestibulospinalis (Leitungsbahn vom Gleichgewichtskern zum Rückenmark) kann es zu einer mangelhaften/fehlerhaften Ansteuerung der Halte- und Bewegungsmuskulatur kommen. Man muss aber berücksichtigen, dass über den Tractus spinovestibularis (Leitungsbahn vom Rückenmark zum Gleichgewichtskern) auch eine Störung der peripheren Propriozeption, in unserem Fall im Bereich der Hüfte, zu einer Störung der Gleichgewichtsfunktion führen kann. Deshalb muss in einem solchen Fall sowohl die zentrale Propriozeption als auch die periphere Propriozeption getestet werden.

Und so funktioniert es Wenn sich aus der Testung des Gleichgewichts ein Verdacht ergeben hat,

welcher Teil des Gleichgewichtssystems genauer untersucht werden muss (Bogengänge oder Otholitenorgan), dann kann man über die Muskulatur der Beine vestibulospinale Reflexoder vestibulospinale Bewegungsmuster überprüfen. Dabei untersucht man zunächst die Inhibitionsmuster. So sollte z.B. bei einer Rotation des Kopfes nach rechts das rechte Bein in eine Extension gehen (beim Kleinkind nennt man diesen Reflex den asymmetrischen tonischen Nackenreflex). Testet man in Rückenlage den rechten M. rectus femoris, sollte dieser inhibieren (Abb. 1). Ist das nicht der Fall, liegt eine Dysfunktion vor. Die mangelhafte Inhibition des Hüftbeugers führt entsprechend zu einer schlechten Fazilitation des Extensors, in diesem Fall des rechten M. gluteus maximus, der sich in unserem Fall ja als inhibiert gezeigt hat. Somit ist die Suche nach einer Fehlfunktion erst mal abgeschlossen, und es muss eine Lösung des Problems gefunden werden. Das bedeutet in der Neurofunktionellen Integration (NFI), dass die Funktion im Nervensystem so moduliert wird, dass die getestete Fehlfunktion nicht mehr auftritt. Dafür testet man über eine Systematik, welche Körperfunktion zu einem fehlerfreien vestibulospinalen Reflex führt. Das könnte z.B. bedeuten, dass eine Aktivierung des rechten Gehörsystems, z.B. durch ein

Abb.1: Physiologische Inhibition des rechten M. rectus femoris bei Rotation des Kopfes nach rechts

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ORIGINALIA Zugriff auf alle Körpersysteme, sowohl zur Suche der Fehlfunktion als auch zur Suche eines korrigierenden Reizes. So hat man ein umfassendes Werkzeug in der Hand, die Selbstregulation des Körpers in die richtigen Bahnen zu lenken. Der Kerngedanke ist der des Zusammenspiels aller Systeme, und dieses Zusammenspiel versteht kein System besser als das Gehirn des Patienten. Wir müssen ihm manchmal nur etwas auf die Sprünge helfen.

Abb. 2: Stimulierung/Aktivierung des rechten auditiven Systems durch Fingerschnippen

Fingerschnippen (Abb. 2), zu einer Aufhebung des fehlerhaften vestibulospinalen Reflexes führt. Dann wird der Reflex über die Rotation mehrfach wiederholt, während das Gehhörsystem der rechten Seite aktiviert wird. Zeitgleich wird zur Beschleunigung der Integration eine beidseitige manuelle Stimulation der Schädelkalotte im Bereich des Os parietale durchgeführt (Abb. 3). Das ermöglicht erfahrungsgemäß eine schnellere Integration, als wenn nur die Fehlfunktion und der korrigierende Reiz appliziert werden. Zusammengefasst ergeben sich folgenden Schritte, um auf der Ebene der funktionellen Neurologie Dysfunktionen zu lokalisieren und durch eine Integration korrektiv zu regulieren: • Fehlfunktion über Anamnese sowie strukturelle und neurologische Untersuchung lokalisieren. • Fehlfunktion funktionell/sensomotorisch sichtbar machen, z.B. über eine Muskelfunktion. • Aktivierung des Nervensystems finden, die zur Aufhebung der Fehlfunktion führt. • Fehlfunktion und Aktivierung des Nervensystems gleichzeitig durchführen und über einen Integrationsreiz verknüpfen. • Fehlfunktion nachtesten.

Abb. 3: Stimulation der Schädelkalotte zur schnelleren Integration der fehlerhaften Funktion mit dem korrigierenden Reiz

Die NFI-Systematik berücksichtigt neben den oben genannten 6 neurologischen Systemen 6 weitere Subsysteme, welche in der NFI die Vitalsysteme genannt werden. Sie sind eigentlich Teil der interozeptiven und viszeromotorischen Systeme, aufgrund der sehr komplexen Steuerung und ihrer physiologischen Bedeutung müssen diese aber einzeln untersucht werden: • Kraniales System: neurokraniales System, viszerokraniales System, durales System. • Atmungssystem: Lunge und Brustkorb. • Herz-Kreislauf-System: Herz und Gefäße. • Hormonsystem: Hypophyse, Epiphyse, Schilddrüse, Gonaden, Nebennieren. • Lymphatisches System: Tonsillen, Thymus, Milz, Darm, Knochenmark, Lymphgefäße und Lymphknoten. • Biochemisches System: Darm, Niere/ Blase, Leber/Gallenblase, Pankreas. So ergeben sich mit den oben genannten 6 neurologischen Systemen 12 Systeme, welche in der NFI-Systematik untersucht werden. Diese Systematisierung mit zugeordneten Masterpunkten, die sich im Wesentlichen an der funktionelle Neuroanatomie orientieren, ermöglicht einen

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„We have something more potent than our own force working always in the patient towards the direction of the normal.“ (Dt.: Wir haben etwas Stärkeres als unsere eigene Kraft, welche immer im Patienten in Richtung des Normalen arbeitet.) W.G. Sutherland DO; Contributions of Thought [8]

Korrespondenzadresse: Dr. med. Philip Eckardt Johannisstraße 8 82418 Murnau [email protected] www.neurolog.de

Literatur [1] Mayer J. & Standen C., Textbook of Osteopathic Medicine, Elsevier 2018, 1. Auflage, S. 23 [2] LeDoux, J., Anxious - The Modern Mind in the Age of Anxiety, Oneworld 2015 S. 82 [3] https://www.westernu.edu/osteopathic/osteopathic-about/osteopathic-philosophy/ [4] Kaoru Takakusaki, Functional Neuroanatomy for Posture and Gait Control. J Mov Disord 2017; 10(1): 1–17. Published online: January 18, 2017, doi: https://doi.org/10.14802/ jmd.16062 [5] Liversedge, S.P., Gilchrist, I.D., Everling, S., The Oxford Handbook of Eye Movements, Oxford University Press 2011, S. 195–201 [6] Herdman, S.J., Clendaniel, R.A., Vestibular Rehabilitation, F. A. Davis Company 2014, S. 11–16 [7] van Cranenburgh, B., Segmentale Phänomene, Kiener 2011, S. 65–73 [8] Sutherland, W.G. Contributions of thought. http://www.dynamicpotency.com/words-andwisdom-osteopathic-quotes-2/

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