Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2012) 106, 407—411
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SCHWERPUNKT
Demokratisches Institutionendesign in der Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen Democratic institutional design in health care priority setting and rationing Claudia Landwehr ∗ Institut für Politikwissenschaft, Johannes Gutenberg Universität Mainz
SCHLÜSSELWÖRTER Priorisierung; Rationierung; Entscheidungsverfahren; Verteilungsgerechtigkeit; institutionelles Design; demokratische Entscheidung
KEY WORDS Priority-setting; rationing; decision-making procedure; distributive justice; institutional design; democratic decision-making
Zusammenfassung Entscheidungen über die Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen haben sowohl informationelle als auch distributive Aspekte, weshalb sie einerseits Expertenwissen und spezialisierte Gremien, andererseits aber auch demokratische Zustimmung erfordern. Der Artikel stellt normative Kriterien zur Bewertung und empirische Kategorien zur Beschreibung und zum Vergleich entsprechender Gremien vor. Weil Verfahrensentscheidungen immer auch Implikationen für resultierende Verteilungsentscheidungen haben, müssen mit Priorisierungs- und Rationierungsentscheidungen beauftragte Gremien Gegenstand eines demokratischen Institutionendesigns sein. (Wie vom Gastherausgeber eingereicht)
Summary Decisions on priority setting and rationing in health care have both informational and distributional aspects, which is why they require expert knowledge and specialised bodies on the one hand and democratic consent on the other hand. The paper presents normative criteria for the evaluation and empirical categories for the description and comparison of respective bodies. As procedural decisions always have implications for resulting distributional decisions, the bodies charged with priority setting and rationing decisions must be subject to democratic institutional design. (As supplied by publisher)
Einleitung ∗
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Claudia Landwehr, Johannes Gutenberg Universität Mainz, Institut für Politikwissenschaft, Colonel-Kleinmann-Weg 2, 55099 Mainz E-Mail:
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1865-9217/$ – see front matter http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2012.06.004
Seit die Debatte um die Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsgütern in den 90er Jahren eine prozedurale Wende genommen hat (siehe etwa [1]) sind die Institutionen, in denen über die öffentliche Finanzierung medizinischer
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Leistungen entschieden wird, verstärkt in den Fokus geraten [2]. An die Stelle der Hoffnung, dass ein Konsens über Prinzipien gerechter Verteilung gesellschaftliche Konflikte über knappe Ressourcen befrieden könnte, ist ein kritisches Hinterfragen der Legitimation von Priorisierungs- und Rationierungsentscheidungen im demokratischen Rechtsstaat und ein Interesse an der direkten Einbindung von Bürgern in Entscheidungsprozesse getreten [3]. Ich möchte im Folgenden kurz die informationelle und die distributive Dimension von Verteilungsentscheidungen in der Gesundheitspolitik darlegen und deutlich machen, dass die Komplexität und die Vielzahl notwendiger Entscheidungen in diesem Bereich spezialisierte Gremien erfordern (1). Anschließend werde ich in Hinblick auf die Frage nach einer angemessenen institutionellen Ausgestaltung entsprechender Gremien den von Norman Daniels und James E. Sabin entwickelten Kriterienkatalog der ,,Accountability for Reasonableness‘‘ [4,5] diskutieren und darlegen, weshalb dieser zu unspezifisch ist, um konkretes institutionelles Design anzuleiten (2). In Abschnitt (3) werde ich vier Vergleichskriterien darstellen, mit Hilfe derer sich Entscheidungsverfahren zur Definition von Leistungskatalogen in der Gesundheitsversorgung beschreiben lassen. Abschließend werde ich Anforderungen eines demokratischen Institutionendesigns von Gremien zur Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen deutlich machen (4) — wenn Verfahrensentscheidungen Verteilungsimplikationen haben, dann muss eine Gesellschaft die Auswahl und Ausgestaltung von Verfahren von der angestrebten Verteilungswirkung abhängig machen.
kann aber allenfalls bei der vergleichenden Bewertung von Methoden zur Behandlung derselben Indikation vorausgesetzt werden — und wie die Diskussion um das IQWiG zeigt, unter Umständen noch nicht einmal hier. Wenn es um indikationsübergreifende Vergleiche und Bewertungen geht, beispielsweise um die relative Priorität eines Arzneimittels zur Behandlung von Osteoporose oder eines anderen zur Behandlung Multipler Sklerose, dann gewinnt die Verteilungsdimension von Entscheidungen in einer Weise an Bedeutung, die eine rein technokratische Bestimmung von Leistungskatalogen illegitim macht. Die Bewertung konkurrierender Ansprüche unterschiedlicher Patientengruppen und gesellschaftlicher Gruppen (etwa Alte vs. Junge, Kinderlose vs. Eltern, Mittellose vs. Wohlhabende) kann in einer rechtsstaatlichen Demokratie jedoch nur auf der Grundlage eines breiten gesellschaftlichen Dialogs und durch mehrheitsdemokratisch legitimierte Repräsentanten erfolgen. Philosophische Argumente von ,,Ethikexperten‘‘ können aus demokratietheoretischer Sicht nur einen Input in diskursive gesellschaftliche Entscheidungsprozesse darstellen, diese aber keinesfalls ersetzen. Wenn nun die Anzahl und Komplexität der bei der Bewertung, Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen erforderlichen Entscheidungen einerseits die Einbindung von Experten und spezialisierten Gremien erforderlich macht, andererseits aber die Verteilungswirkung solcher Entscheidungen demokratisch zu legitimieren ist, dann stellt sich die Frage nach der demokratischen Auswahl und Ausgestaltung entsprechender Gremien.
Informationelle und distributive Dimensionen von Verteilungsentscheidungen
Kritierien für die Ausgestaltung von Institutionen zur Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen
Wie fast alle politischen Entscheidungen haben Entscheidungen über die Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen sowohl eine informationelle als auch eine distributive Dimension. Bedenkt man die hohe Zahl neuer medizinischer Technologien, die jedes Jahr auf den Markt drängen und deren Finanzierung im Rahmen öffentlicher Gesundheitssysteme — in Deutschland durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) — zur Debatte steht, wird schnell deutlich, dass die gewählten Repräsentanten im Parlament allein mit der Vielzahl der erforderlichen Entscheidungen überfordert wären. Zudem setzen Entscheidungen umfassende Informationen voraus, die nur Experten beisteuern können, etwa zu Kosten und Wirkung der in Frage stehenden Leistungen, zur Schwere und Häufigkeit der mit ihnen behandelten Erkrankungen und zu verfügbaren Behandlungsalternativen. Aus der großen Bedeutung von Informationen für Entscheidungen über die öffentliche Finanzierung von Gesundheitsleistungen ließe sich schließen, dass diese letztlich technokratischer Natur sind und durch die politische Verwaltung, also etwa das Gesundheitsministerium, getroffen werden könnten. Eine solche Einschätzung unterstellt jedoch, dass über Ziele und Kriterien von Entscheidungen ein Konsens besteht und somit nur noch die Auswahl der angemessenen Strategien zur Erreichung eines bestimmten Zieles, beziehungsweise einer angestrebten Verteilung, in Frage stünde. Ein Ziel- und Kriterienkonsens
Norman Daniels und James E. Sabin haben — ausgehend von der Feststellung, dass die Konflikte zwischen unterschiedlichen und gleichermaßen bedeutsamen Prinzipien gerechter Verteilung letztlich unauflöslich sind — das Modell der ,,Accountability for Reasonableness‘‘ (AFR) als Maßstab für die Fairness von Entscheidungsverfahren zur Definition von Leistungskatalogen in der Gesundheitsversorgung entwickelt [4]. Das Modell besteht aus vier Bedingungen, die derartige Verfahren erfüllen müssen, um in den Augen von Daniels und Sabin als gerecht gelten zu können. Entscheidungen in einem gerechten Verfahren müssen demnach 1.) öffentlich und transparent sein (publicity condition), 2.) auf Gründen beruhen, die ,,fair-minded people‘‘ als relevant erachten (relevance condition), 3.) anfechtbar und prinzipiell revidierbar sein (revision and appeals condition) und 4.) so reguliert sein, dass die Erfüllung der Bedingungen 1-3 sichergestellt ist. Daniels und Sabins AFR-Modell wird nicht nur in der wissenschaftlichen Literatur zu Priorisierung und Rationierung stark rezipiert, es stellt mittlerweile auch in der Praxis einen einflussreichen Maßstab zur Beurteilung existierender Institutionen dar. Zudem haben die Autoren Regierungen in mehreren Ländern bei der Ausgestaltung entsprechender Gremien beraten. Obwohl die im AFR-Modell formulierten Kriterien mehr als nachvollziehbar sind und einen plausiblen Bewertungsmaßstab darstellen, stellt sich jedoch die
Demokratisches Institutionendesign in der Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen Frage, ob sie zur Anleitung der konkreten Ausgestaltung von Institutionen hinreichend spezifiziert sind. Letztlich ist eine Vielzahl von Gremien vorstellbar, die die Kriterien des AFR-Modells in gleichem Maße erfüllen, sich aber in Hinblick auf ihre Aufgaben und Kompetenzen, ihre Zusammensetzung oder auch Form der Entscheidungsfindung erheblich unterscheiden. Zu den zentralen Erkenntnissen der Politikwissenschaft zählt, dass derartige institutionelle Merkmale des Entscheidungsverfahrens immer auch Auswirkungen auf die resultierenden Entscheidungen und die Verteilung knapper Güter haben [6]. So wie ein Verhältniswahlrecht andere gesellschaftliche Gruppen begünstigt als ein Mehrheitswahlrecht, wird beispielsweise ein mit Stakeholdern wie Krankenkassen, Ärzten und Patienten besetztes Gremium tendenziell andere Entscheidungen treffen als ein reines Expertengremium. Wenn wir aber davon ausgehen müssen, dass institutionelle Merkmale Auswirkungen auf die Art der in Priorisierungs- und Rationierungsentscheidungen als relevant erachteten Gründe und somit auf die Verteilung knapper Gesundheitsgüter haben, dann sollten wir diese genauer untersuchen. Neben normativen Maßstäben wie den von Daniels und Sabin benannten sollten wir bei der Auswahl und Ausgestaltung entsprechender Gremien stets auch ihre praktischen Verteilungseffekte im Auge haben. Hierzu ist eine Auswahl von Vergleichskriterien erforderlich, die eine systematische Beschreibung und Gegenüberstellung entsprechender Gremien erlaubt.
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die Finanzierung einer Leistung auch den Zugang zu dieser sicherstellt. Diese Situation ist etwa in Großbritannien, wo wie in Deutschland keine Positivliste existiert, gegeben. Generell jedoch wird ein positiver Default — also eine Regulierung des Leistungskatalogs ohne Positivlisten — tendenziell zu einer umfangreicheren Liste erstattungsfähiger Leistungen führen.
Auf der Grundlage eines Vergleichs von Gremien, die in den OECD-Staaten mit der Definition von Leistungskatalogen öffentlicher Gesundheitsversorgung, und somit der Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen befasst sind, habe ich gemeinsam mit Katharina Böhm folgende Kriterien zum Vergleich dieser Institutionen vorgeschlagen (siehe [7]):
Unabhängigkeit und Delegation von Entscheidungskompetenzen Auch wenn in allen OECD-Ländern spezialisierte Gremien mit der Definition von Leistungskatalogen befasst sind, variieren Status und Kompetenzen dieser Gremien erheblich [7]. In einigen Ländern handelt es sich um direkt dem zuständigen Ministerium unterstellte Einrichtungen ohne eigene Rechtspersönlichkeit oder eigenes Budget. In anderen Ländern, wie auch in Deutschland, werden Gremien von Akteuren eines selbstverwalteten Sozialversicherungssystems getragen. Und schließlich gibt es Länder, in denen Gremien zur Definition von Leistungskatalogen über eine garantierte Unabhängigkeit sowohl von gewählten Regierungen als auch von Leistungsträgern und Leistungserbringern verfügen. Zugleich verfügen Gremien über unterschiedliche Kompetenzen. In vielen Fällen geben sie nur Empfehlungen ab, denen Ministerien zwar im Regelfall folgen, von denen sie aber gerade in kontroversen Fällen auch abweichen können. In einigen Fällen, so etwa in Deutschland, Großbritannien oder Neuseeland, treffen die für Leistungskataloge zuständigen Gremien unmittelbar verbindliche Entscheidungen. Der Umfang der Kompetenzen eines Gremiums und damit der Delegation von Entscheidungskompetenz an nicht demokratisch legitimierte Akteure ist konzeptionell vom Ausmaß der Unabhängigkeit abzugrenzen. Unabhängigkeit und Delegation scheinen jedoch in Hinblick auf die Verteilung in dieselbe Richtung zu wirken. Sowohl ein hohes Maß an Unabhängigkeit als auch umfassende Kompetenzen des entscheidenden (oder empfehlenden) Gremiums erhöhen die Wahrscheinlichkeit unpopulärer Entscheidungen zum Leistungsausschluss [9].
Positive oder negative Defaults Bei der Frage, ob die so genannten Defaults positiv oder negativ gesetzt sind, geht es darum, was passiert, wenn keine Entscheidung getroffen wird (siehe [8]): ist die betroffene Leistung in diesem Fall erstattungsfähig oder nicht? Der Default ist die Lösung, die zustande kommt, wenn keine Entscheidung getroffen wird oder getroffen werden kann. Wenn die Finanzierung medizinischer Leistungen über eine verbindliche und explizite Positivliste reguliert ist, ist der Default negativ: alle nicht auf dieser Liste geführten Leistungen sind nicht erstattungsfähig. Wenn nur der Ausschluss von Leistungen über eine Negativliste reguliert ist, wie in Deutschland im Bereich der stationären und Arzneimittelversorgung, ist der Default zunächst positiv, da alle nicht explizit ausgeschlossenen Leistungen finanzierbar sind. Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass alle nicht auf der Negativliste geführten Leistungen für Patienten im Bedarfsfall problemlos zugänglich sind. Implizite Rationierung über Budgetierungen und Pauschalisierungen kann bewirken, dass ein formell positiver Default in der Praxis negativ ausfällt und nur eine explizite und öffentliche Entscheidung für
Besetzung von Gremien und Inklusivität der Entscheidungsfindung Ein weiterer zentraler Aspekt des institutionellen Designs spezialisierter Gremien zur Definition von Leistungskatalogen ist ihre Besetzung: welche Akteure sind befähigt und legitimiert, Priorisierungs- und Rationierungsentscheidungen zu treffen? Grundsätzlich kommen hier verschiedene Gruppen in Frage, neben Experten insbesondere Bürokraten, Leistungsträger (Kassen), Leistungserbringer (Ärzte und Krankenhäuser) und Leistungsempfänger (Patienten). Dabei ist neben der Frage, ob eine Gruppe überhaupt im Gremium vertreten ist, auch von Bedeutung, ob das Gremium insgesamt homogen oder pluralistisch aufgebaut ist, wie die Mehrheitsverhältnisse gestaltet sind und welche Entscheidungsregel angewandt wird (einfache beziehungsweise qualifizierte Mehrheit oder Konsenszwang). Wenn die Inklusivität des Gremiums und der Entscheidungsfindung sehr hoch ist, also ein großes, pluralistisches Gremium nach einem Konsens sucht, dann sind auch die Entscheidungskosten erheblich höher als in einem kleineren und homogeneren Gremium, dass einfache Mehrheitsentscheidungen anwendet. Je höher
Worin unterscheiden sich Gremien zur Definition von Leistungskatalogen?
410 die Entscheidungskosten sind, desto unwahrscheinlicher werden insbesondere unpopuläre Ausschlussentscheidungen, da mit hoher Wahrscheinlichkeit eine der beteiligten und betroffenen Gruppen ein Veto einlegen wird. Transparenz und Öffentlichkeit Öffentlichkeit zählt — mit der publicity condition — auch zu den von Daniels und Sabin benannten normativen Bewertungskriterien für Entscheidungsverfahren. Daniels und Sabin geht es jedoch allein darum, dass Entscheidungen ,,publicly accessible‘‘, öffentlich zugänglich und damit explizit und verbindlich sein sollen. Öffentlichkeit und Transparenz sind jedoch auch Anforderungen, die sich an den Entscheidungsprozess richten können und die in unterschiedlicher Weise institutionell realisiert werden können. So können die Grundlagen der Entscheidung, etwa bei der Entscheidung in Betracht gezogene Studien und Berichte, vorab bestimmte Entscheidungskriterien und Schwellenwerte (z.B. ein maximaler Preis für ein durch die Behandlung gewonnenes QALY) oder auch Stellungnahmen einzelner Mitglieder veröffentlicht werden. Zusätzlich oder alternativ können Diskussionen des Gremiums im Licht der Öffentlichkeit stattfinden, indem Zuschauer zugelassen werden, Aufzeichnungen und Transkripte zugänglich gemacht werden, oder zumindest Tagesordnungen und Protokolle veröffentlicht werden. Nicht zuletzt kann auch die Art und Weise, in der Entscheidungen publik gemacht werden, variieren. So macht es einen erheblichen Unterschied, ob lediglich der Eintrag in einer Positiv- beziehungsweise Negativliste erfolgt oder ob umfassende Berichte zugänglich sind, die auch Entscheidungsgrundlagen und Begründungen enthalten. Die Auswirkungen höherer Transparenz und Öffentlichkeit auf Priorisierungs- und Rationierungsentscheidungen sind schwer vorherzusagen. Einerseits dürfte die erhöhte Aufmerksamkeit Vetospieler mobilisieren und die Durchsetzung insbesondere unpopulärer Entscheidungen gegen öffentlichen Widerstand erschweren. Andererseits könnte durch die Möglichkeit zur öffentlichen Rechtfertigung problematischer Entscheidungen auch Zustimmung für diese gewonnen werden.
Demokratisches Institutionendesign Wenn Regierungen spezialisierte Gremien mit Entscheidungen über Leistungskataloge in der Gesundheitsversorgung und damit mit Priorisierungs- und Rationierungsentscheidungen beauftragen, dann sind sie in der Auswahl und Ausgestaltung dieser Gremien nicht vollkommen frei. Der institutionelle Kontext des jeweiligen Regierungs- und Gesundheitssystems, aber auch die politische Kultur eines Landes und etablierte Vorstellungen gerechter Verteilung stellen unterschiedliche Restriktionen für das Design neuer Institutionen dar, bieten aber auch unterschiedliche Möglichkeiten. So wird es in Sozialversicherungssystemen wie dem deutschen schwierig sein, Entscheidungsverfahren einzurichten, in denen Leistungsträger (Kassen) und Leistungserbringer nicht erhebliche Mitwirkungsbefugnisse haben. Zugleich bestehen in solchen Systemen oft bereits Verfahren und Institutionen, in denen die Vergütung ärztlicher Leistungen ausgehandelt wird. Solche Institutionen, wie in Deutschland die Vorläufer des Gemeinsamen Bundesausschusses, können
C. Landwehr mit neuen Aufgaben in der Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen betraut werden, und Vergütungskataloge können in Leistungskataloge umgewandelt werden. In staatlichen Gesundheitssystemen dagegen bietet die Gesundheitsverwaltung Strukturen, auf die zurückgegriffen werden kann. Hier sind es etwa Gremien zur Arzneimittelzulassung und Preisfestsetzung, die mit neuen Aufgaben in der Definition von Leistungskatalogen betraut werden können. Auch in Anbetracht gegebener Restriktionen und Möglichkeiten bleibt Regierungen jedoch ein nicht unerheblicher Spielraum in der Ausgestaltung von Institutionen, den sie in unterschiedlichem Ausmaß zu nutzen versuchen. Während der rechtliche Status eines Gremiums und seine Besetzung häufig schwer veränderbar sind, lassen sich der genaue Zuschnitt der Kompetenzen, verwendete Entscheidungsregeln oder auch das Ausmaß von Transparenz und Öffentlichkeit leichter hierarchisch neu bestimmen. Zudem ist es einfacher, neue Akteure in Entscheidungen einzubinden und dadurch auch Mehrheitsverhältnisse zu verändern als bereits beteiligte Akteure auszuschließen. Dieser Handlungsspielraum bietet Regierungen Möglichkeiten, das institutionelle Design spezialisierter Gremien entsprechend eigener strategischer Ziele und Wertvorstellungen zu gestalten. Zugleich können auch die Mitglieder solcher Gremien selbst aktiv werden, um diese im institutionellen Gesamtkontext zu stärken und eigene Zielvorstellungen durchzusetzen oder um den Aufbau ihrer Institution an aktuelle Herausforderungen anzupassen. Dies lässt sich anhand der Entwicklung des Gemeinsamen Bundesausschusses illustrieren: bei dessen Einrichtung 2003 wurde die zentrale Rolle der Bänke der Krankenkassen auf der einen und Leistungserbringer auf der anderen Seite beibehalten, zugleich wurden mit dem Vorsitz durch drei unabhängige Sachverständige Mehrheitsentscheidungen ermöglicht und mit den (nicht stimmberechtigten) Patientenvertretern eine neue Gruppe in Beratungen mit einbezogen. Auf diese Weise wurden zentrale Voraussetzungen für die Beauftragung des GBA mit Priorisierungs- und Rationierungsentscheidungen geschaffen. Mit der Reform von 2007 wurden Sitzungen des Hauptausschusses öffentlich zugänglich gemacht und damit einer zentralen normativen Anforderung genüge getan. In diesem Fall aber schien die Initiative eher vom G-BA selbst beziehungsweise von dessen Vorsitzendem Rainer Hess auszugehen. Mit der jüngsten Reform, dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes von 2011, hat die schwarz-gelbe Regierungskoalition die erforderliche Mehrheit zum Ausschluss von Leistungen erhöht und dadurch faktisch die Kompetenzen des G-BA bei der Definition des Leistungskatalogs erheblich zurückgefahren. Wenn wir nun einerseits davon ausgehen müssen, dass Entscheidungsverfahren niemals vollständig neutral sind und die notwendige Auswahl konkreter institutioneller Parameter stets auch Implikationen für resultierende Verteilungsentscheidungen hat und Entscheidungsträger andererseits bei dieser Auswahl mit unterschiedlichen Restriktionen und Optionen konfrontiert sind, was folgt dann normativ für die Gestaltung spezialisierter Gremien in der Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen? Ich möchte an dieser Stelle für eine demokratische Delegation von Entscheidungskompetenzen und für ein demokratisches Institutionendesign plädieren. Was bedeutet das konkret?
Demokratisches Institutionendesign in der Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen Zunächst muss die — in meinen Augen unausweichliche — Delegation von Entscheidungskompetenzen an spezialisierte Gremien von einem demokratischen Mehrheitswillen getragen sein. Dies setzt voraus, dass die Existenz entsprechender Gremien öffentlich bekannt ist und dass ein Bewusstsein dafür besteht, dass diese im ,,Schatten der Hierarchie‘‘ [10] entscheiden. Letzteres bedeutet, dass Regierungen sich prinzipiell über Entscheidungen hinweg setzen können und Gremien — zumindest solange es sich um nationalstaatliche handelt — jederzeit abschaffen oder reformieren können. Darüber hinaus muss aber auch die Gestaltung beauftragter Gremien, also die Auswahl institutioneller Parameter vom rechtlichen Status über die Besetzung und Entscheidungsregeln bis hin zur Verwirklichung von Transparenz und Öffentlichkeit, demokratisch erfolgen. Hierzu reicht es nicht aus, dass Regierungen als gewählte Entscheidungsträger die Auswahl vornehmen. Vielmehr bestehen für Regierungen Anreize, durch die Delegation an spezialisierte Gremien einerseits eigene Verantwortung zu verschleiern und andererseits mit einem strategischen Design von Entscheidungsverfahren kurzfristige und partikulare Interessen ,,durch die Hintertür‘‘ zu befördern. Das Design beauftragter Gremien muss deshalb Gegenstand eines breiteren öffentlichen Diskurses sein, in dem Auswirkungen einzelner institutioneller Parameter auf Entscheidungstendenzen thematisiert und Alternativen offen gelegt werden [11], was Informationen über Auswirkungen institutionellen Designs auf Entscheidungsfindung und Verteilungsentscheidungen voraussetzt. Legitime Verfahren und Entscheidungen in der Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsgütern erfordern eben auch Kenntnisse darüber, wie welche Institutionen welche Ziele befördern. Letztlich kann und sollte ein demokratischer Diskurs bei der Verständigung über Verteilungsziele und zentrale Werte
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in der Verteilung von Gesundheitsgütern ansetzen, diesen angemessene Entscheidungsverfahren behandeln und nicht zuletzt auch konkrete Entscheidungen thematisieren.
Literatur [1] Holm S. Developments in the Nordic countries — goodbye to the simple solutions. In: Coulter A, Ham C, editors. The Global Challenge of Health Care Rationing. Buckingham. Philadelphia: Open University Press; 2000. p. 29—37. [2] Landwehr C. Deciding how to decide. The case of health care rationing. Public Administration 2009;87(3):586—603. [3] Stumpf S, Raspe H. Über Priorisierung sprechen — insbesondere mit den Betroffenen. Deutsches Ärzteblatt 2011;108(7):316—8. [4] Daniels N, Sabin JE. Limits to Health Care: Fair Procedures, Democratic Deliberation, and the Legitimacy Problem for Insures. Philosophy and Public Affairs 1997;26(4):303—50. [5] Daniels N, Sabin JE. Setting Limits Fairly. Can We Learn to Share Medical Resources? Oxford: Oxford University Press; 2000. [6] Scharpf FW. Decision Rules, Decision Styles and Policy Choices. Journal of Theoretical Politics 1989;(1/2):149—76. [7] Landwehr C, Böhm K. Delegation and Institutional Design in Health Care Rationing. Governance 2011;24(4):665—88. [8] Ostrom E. An agenda for the study of institutions. Public Choice 1986;48(1):3—25. [9] Böhm K, Landwehr C, Steiner N. What explains ‘generosity’ in the public financing of high-tech drugs? — An Empirical Investigation for 26 OECD Countries and 18 Controversial Drugs. 2012 unpublished manuscript. [10] Scharpf FW. Verhandlungssysteme, Verteilungskonflikte und Pathologien der politischen Steuerung. In: Schmidt M, editor. Staatstätigkeit. International und historisch vergleichende Analysen. Opladen: Westdeutscher Verlag; 1988. p. 61—87. [11] Landwehr C. Substantielle und prozedurale Gerechtigkeit in der Verteilung von Gesundheitsgütern. Politische Vierteljahresschrift 2000;52(1):29—50.