Rechtliche Rahmenbedingungen von Priorisierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung

Rechtliche Rahmenbedingungen von Priorisierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung

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www.elsevier.de/zefq Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) 103 (2009) 104–110

Schwerpunkt

Rechtliche Rahmenbedingungen von Priorisierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung Felix Welti Hochschule Neubrandenburg

Zusammenfassung Eine Priorisierung von Gesundheitsleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung muss den rechtlichen Rahmen beachten. Hierzu geho¨ren insbesondere die verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben. Der soziale Rechtsstaat muss das Existenzminimum der Versicherten an Gesundheitsleistungen schu¨tzen und gewa¨hrleisten. Die pflichtversicherten Personen mu¨ssen Zugang zu Leistungen haben, die ihr Leben und wesentliche Aspekte ihrer gesellschaftlichen Teilhabe schu¨tzen sollen. Dabei sind die Benachteiligungsverbote wegen des Geschlechts, der Rasse und ethnischen Herkunft, der Sprache, der Religion, der Behinderung, des Alters und der sexuellen Ausrichtung unbedingt zu beachten. Wesentliche Entscheidungen muss der Gesetzgeber selbst treffen. Das Recht auf

grenzu¨berschreitende Leistungen innerhalb der Europa¨ischen Gemeinschaft kann nationale Priorisierung, z.B. durch Wartelisten, beschra¨nken. Schlichte gesetzliche Leistungsausschlu¨sse (z.B. y 34 SGB V) ko¨nnen zu undifferenziert sein. Ermessensentscheidungen verlangen von der Verwaltung Priorisierung. Es besteht aber die Gefahr, dass diese nicht anhand von politischen Priorita¨ten und Versorgungsbedarf erfolgt. Entscheidungen des G-BA ko¨nnen hinreichend differenziert erfolgen, mu¨ssen jedoch den Vorbehalt des Gesetzes achten. U¨ber die tatsa¨chlich priorisierenden Wirkungen von Krankenversicherungs- und Infrastrukturrecht bestehen Forschungsdefizite. Sie zu verringern ist Voraussetzung dafu¨r, dass politische Priorita¨ten u¨berhaupt wirksam in Normen umgesetzt werden ko¨nnen.

Schlu¨sselwo¨rter: Priorisierung, Gemeinsamer Bundesausschuss, Krankenversicherungsrecht, Verfassungsrecht, Europarecht

General Legal Conditions for Prioritisation within the Scope of the German Statutory Health Insurance System Summary In setting health care priorities the law, and in particular the constitution, has to be obeyed. The social constitutional state must guarantee minimum access to health care. Members of the Statutory Health Insurance (SHI) shall have access to health care services protecting their life and ensuring their participation in society. They shall not be discriminated according to gender, race and ethnic origin, language, disability, age and sexual orientation. Essential decisions will have to be made by the legislator. Within the EC the right to access health care services in another EC member state may be an obstacle to prioritisation on the national level, e.g., to waiting lists.

The exclusion of health care services on the basis of the social security law may be too simplistic an approach. Administrative discretion needs priorities, but it is unclear whether these are set to meet political priorities and real needs. The decisions of the Federal Joint Committee (Gemeinsamer Bundesausschuss) are sophisticated enough but have to respect the rule of law. There are deficits in research on the prioritisation effects of health care law. Diminishing these deficits is a prerequisite for turning political priorities into effective legal provisions.

Key words: priority setting, Federal Joint Committee, health care law, constitutional law, European Community Law Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Felix Welti, Marquardplatz 3, D-23554 Lu¨beck, Germany. Tel.: 0395 5693 469.

E-Mail: [email protected].

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Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) doi:10.1016/j.zefq.2009.02.015

ARTICLE IN PRESS I. Einfu¨hrung Jede Priorisierung in der gesetzlichen Krankenversicherung muss den rechtlichen Rahmen einhalten, der im sozialen Rechtsstaat gesetzt ist. Verfassungsrechtliche Vorgaben an das o¨ffentlichrechtliche System der Gesundheitsversorgung sind zu beachten und rechtliche Formen sind zu finden, um politische und medizinische Priorita¨ten zu normieren. Das System der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland entha¨lt bereits ein differenziertes System gesetzlicher und untergesetzlicher Normen zur Steuerung der gesundheitlichen Versorgung, das zu expliziten und impliziten Priorita¨tensetzungen fu¨hrt. Die verfassungsrechtlichen Schranken, die Legitimation und Leistungsfa¨higkeit dieses Systems sind in den letzten Jahren intensiv diskutiert worden. Ein besonderer Diskussionsanlass war dabei die Entscheidung des BVerfG vom 6.12.2005 ( Nikolaus-Beschluss ) [1]. ’’ Rahmenbedingungen Die rechtlichen sind auch in dem Diskussionspapier der Zentralen Ethikkommission (ZEKO) der Bundesa¨rztekammer zur Priorisierung medizinischer Leistungen [2] ausfu¨hrlich thematisiert worden. ’’

II. Verfassungsrechtlicher Rahmen 1. Sozialstaatsgebot Die Bundesrepublik Deutschland ist – in Bund und La¨ndern, im Rahmen der europa¨ischen Integration und unaba¨nderlich (Art. 20 Abs. 1, 23, 28 Abs. 1, 79 Abs. 3 GG) – ein sozialer Staat. Diese Staatsziel- und Staatsstrukturbestimmung schreibt fest, dass die Verantwortung fu¨r soziale Bedarfslagen zu den Staatsaufgaben geho¨rt. Das BVerfG hat eine Verbindung zum Schutzauftrag des Staates fu¨r die Menschenwu¨rde (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) hergestellt. Der soziale Staat muss die Wu¨rde des Menschen als handlungsfa¨hige Perso¨nlichkeit in der Gesellschaft schu¨tzen. Hieraus ist abzuleiten, dass insbesondere die Sorge fu¨r Hilfebedu¨rftige [3] und behinderte Menschen (Art. 3 Abs.

3 Satz 2 GG) [4] und fu¨r das Existenzminimum der Menschen [5] in staatlicher Verantwortung liegen. Zum Existenzminimum geho¨rt auch die Versorgung mit notwendigen medizinischen und pflegerischen Leistungen [6]. Das Sozialstaatsgebot la¨sst offen, in welcher Form der Staat diese Verantwortung ausfu¨llt und u¨berla¨sst dies der demokratisch und rechtsstaatlich gebundenen Entscheidung insbesondere des Gesetzgebers. Aus dem Sozialstaatsgebot folgen keine unmittelbaren Anspru¨che Einzelner, sondern es steht in einem Wechselverha¨ltnis zum Versta¨ndnis des staatlichen Schutzauftrages und der Grundrechte.

2. Freiheitsrechte Das Recht auf Leben und ko¨rperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ist ein Freiheitsrecht, das als wertsetzende Grundsatznorm zugleich Hinweise auf die Schutzrichtung sozialstaatlichen Handelns gibt. Die Gesundheitsversorgung im deutschen Sozialstaat ist wesentlich im System der gesetzlichen Krankenversicherung verfasst, mit dem fu¨r den gro¨ßten Teil der Bevo¨lkerung ein Pflichtversicherungssystem statuiert wird. Mit der Pflichtversicherung erfu¨llt der Staat seinen sozialen Schutzauftrag. Zugleich ist die damit verbundene Freiheitsbeschra¨nkung jedoch nur verha¨ltnisma¨ßig, wenn ihr ein angemessenes Schutzniveau in der Gesundheitsversorgung entspricht. Dies ist eine Kernaussage der Entscheidung des BVerfG vom 6.12.2005 [7], durch die Leistungseinschra¨nkungen bei lebensbedrohlichen Krankheiten begrenzt werden. Damit wird zuna¨chst deutlich, dass der Schutz des Lebens verfassungsrechtlich hohe Priorita¨t genießt [8] und wie auch immer gesundheitso¨konomisch begru¨ndete Nutzenabwa¨gungen zwischen Individuen beim Schutz des Lebens eine Schranke finden. Dies entspricht der Kernaussage des Menschenwu¨rdesatzes, die Abwa¨gungsentscheidungen im Kernbereich gerade nicht zula¨sst. Leben soll nicht gegen Leben abgewogen werden [9]. Zu diskutieren ist nun, in welchem Umfang diese Norm vom Schutz bei le-

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bensbedrohlicher Krankheit auf andere Lebenssituationen erweitert werden kann und muss. Die ZEKO hat in ihrem Papier zur Priorisierung den Schutz vor erheblichen Schmerzen, schwerem menschlichem Leid und Erniedrigung auf die gleiche Stufe wie den Lebensschutz gestellt und als zweite Stufe den Schutz vor dem Ausfall oder schwerer Beeintra¨chtigung wesentlicher Organe, Gliedmaßen und ko¨rperlicher sowie seelischer Funktionen gestellt und deren Relevanz mit ihrer Bedeutung fu¨r den ungesto¨rten Vollzug allta¨glicher Aktivita¨ten und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben begru¨ndet. Sie fu¨hrt aus, dass auf diesen beiden Stufen eine Differenzierung des Versicherungsschutzes nach Art und Umfang der Krankenversicherung oder Zahlungsfa¨higkeit ausgeschlossen sein soll. Eine Differenzierung wa¨re erst vertretbar bei Krankheiten ohne wesentliche und dauerhafte Beeintra¨chtigung von Aktivita¨ten und Teilhabe sowie erst recht bei einer bloßen Vervollkommnung von Ko¨rperfunktionen. Damit wird eine klare verfassungsrechtlich begru¨ndete Leitlinie fu¨r die Schranken und Mo¨glichkeiten von Priorisierung vorgeschlagen. In der Rechtsprechung wird diese Diskussion bislang nicht unter dem Blickwinkel einer unmittelbaren Priorisierung gefu¨hrt, sondern allein darauf bezogen, ob bei anderen als lebensbedrohlichen Erkrankungen die Evidenzanforderungen an Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gesenkt werden ko¨nnen. Das BSG hat im Hinblick auf die Rechtsfolge eine solche Ausnahme nur dann fu¨r mo¨glich gehalten, wenn die Dringlichkeit der Behandlung derjenigen bei einer lebensbedrohlichen Krankheit vergleichbar ist [10]. Das LSG Schleswig-Holstein hatte die Evidenzanforderungen auch fu¨r eine Therapie der Multiplen Sklerose senken wollen [11] und das BVerfG hat dies fu¨r den Fall schwerer Schmerzen angedeutet [12]. Jedenfalls ist bisher noch wenig u¨ber das normative Gewicht schwerer Teilhabeeinschra¨nkungen im Ganzen gesagt, zum Beispiel im Hinblick auf die Priorita¨t, die sie bei der Vergabe von Forschungsmitteln oder Pra¨ventionsleistungen haben sollten.

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ARTICLE IN PRESS Entsprechende Wertungsentscheidungen sollte der Gesetzgeber treffen.

3. Gleichheitsrechte Priorisierung von Bedarfen bedeutet Posteriorisierung anderer Bedarfe. Rechtlich gesehen ist eine Priorisierung von Gesundheitsleistungen immer auch an Gleichheitsrechten zu messen. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verlangt fu¨r die Ungleichbehandlung gesetzlich krankenversicherter Personen vom Gesetzgeber und von den Tra¨gern der Krankenversicherung einen vernu¨nftigen Grund, dessen Gewicht im Verha¨ltnis zu den Nachteilen durch die Ungleichbehandlung stehen muss. Dabei ist ein strenger Maßstab insbesondere dann zu wa¨hlen, wenn die Ungleichbehandlung an personenbezogenen und nichtvera¨nderbaren Merkmalen ansetzt [13]. Ist der Grund der Ungleichbehandlung der effektive und effiziente Umgang mit begrenzten Ressourcen und ist sie geeignet, dieses Ziel auch zu erreichen, so kann sie bis zu den Schranken des freiheitsrechtlich Erlaubten zula¨ssig sein. Dabei sind sachlich im Regelungsbereich der Gesundheitsversorgung selbst begru¨ndete Differenzierungskriterien vorzugswu¨rdig gegenu¨ber Ungleichbehandlungen, die sich aus der wirtschaftlichen Leistungsfa¨higkeit, dem o¨rtlich oder sozial bestimmten Zugang zur Infrastruktur der Gesundheitsversorgung oder aus dem Zufall ergeben. Sachlich begru¨ndete und verfassungsrechtlich akzeptable Differenzierungen ko¨nnen sich aber aus dem sozialen Kontext von Gesundheitsleistungen ergeben. So hat das BVerfG besta¨tigt, dass die Beschra¨nkung des Kassenzuschusses fu¨r die ku¨nstliche Befruchtung (y 27a SGB V) auf miteinander verheiratete Paare und bis zu einem bestimmten Ho¨chstalter verfassungsgema¨ß ist [14]. Besonders zu beachten sind die besonderen Gleichheitssa¨tze. Sie verbieten jede Differenzierung anhand bestimmter Kriterien, um die Benachteiligung verwundbarer Gruppen und von Minderheiten zu verhindern und den sozialen Rechtsstaat integrativ auszugestalten. Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darf niemand wegen seines Ge-

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schlechts, seiner Rasse, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Religion, seiner Heimat und Herkunft bevorzugt oder benachteiligt werden. Die europa¨ischen Gleichbehandlungsrichtlinien auf der Grundlage von Art. 13 EGV schu¨tzen auch im Bereich des sozialen Schutzes und des Zugangs zu Dienstleistungen vor Benachteiligungen wegen dieser Kriterien sowie wegen der sexuellen Ausrichtung. Dies hat der deutsche Gesetzgeber zumindest teilweise im allgemeinen Sozialrecht nachvollzogen (y 33c SGB I). Die Reichweite des europarechtlichen Benachteiligungsschutzes fu¨r die gesetzliche Krankenversicherung ist nicht im Einzelnen gekla¨rt, doch kann davon ausgegangen werden, dass fu¨r die Merkmale Alter und sexuelle Ausrichtung auch durch deutsches Verfassungsrecht ein vergleichbares Schutzniveau vermittelt wird [15]. Fu¨r die Gleichbehandlung der Geschlechter ist wichtig, dass der soziale Staat auch die Beseitigung bestehender sozial bedingter Ungleichheiten zur Aufgabe hat (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG) [16]. Entsprechend sind Differenzierungen und Priorisierungen zula¨ssig, die etwa den Abbau einer sozial oder versorgungsstrukturell bedingt unterschiedlichen Mortalita¨t oder Morbidita¨t der Geschlechter zum Ziel haben. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG). Behinderung ist zugleich eine Eigenschaft oder soziale Situation, die auslo¨send fu¨r den Anspruch auf Gesundheitsleistungen ist (y 10 SGB I). Der soziale Staat schu¨tzt und fo¨rdert behinderte Menschen [17], sie du¨rfen insofern bei Gesundheitsleistungen mit Priorita¨t behandelt werden. Benachteiligungen beim Zugang zu Gesundheitsleistungen sind durch Barrierefreiheit abzubauen (y 17 Abs. 1 SGB I), die besonderen Bedu¨rfnisse behinderter und chronisch kranker Menschen sind bei der Gesundheitsversorgung zu beru¨cksichtigen (y 2a SGB V). Besonders zu beachten ist bei allen Benachteiligungsverboten, dass sie auch vor einer mittelbaren Diskriminierung schu¨tzen. Darunter ist zu verstehen, dass eine an anderen Merkmalen anknu¨pfende Ungleichbehandlung in signifikanter und sozial bedingter

Weise zur Benachteiligung einer geschu¨tzten Personengruppe fu¨hrt. Dies ist etwa zu beachten, wenn an der Sprachkompetenz, am Berufs- oder am Familienstatus angeknu¨pft wird. Das gilt auch fu¨r Instrumente, die in der Gesundheitsversorgung selbst eingesetzt werden, etwa Tests und Screening-Verfahren, bei denen die Gefahr besteht, benachteiligungsgefa¨hrdete Bevo¨lkerungsgruppen wie geistig oder seelisch behinderte Menschen oder Personen mit schwachen deutschen Sprachkenntnissen auszugrenzen [18]. Hier wird die Forschung ihre Methoden a¨ndern mu¨ssen, die bislang oft nicht auf die U¨berwindung von Sprachbarrieren ausgerichtet sind. Eine Priorisierung zugunsten von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) sowie Mutterschaft (Art. 6 Abs. 4 GG) ist jedoch verfassungsrechtlich ausdru¨cklich legitimiert. In welchem Verha¨ltnis diese Regelung zum europarechtlichen Benachteiligungsverbot wegen der sexuellen Ausrichtung steht, ist im Einzelnen noch ungekla¨rt [19].

4. Rechtsstaatsgebot, Gesetzesvorbehalt Priorisierungen in der Gesundheitsversorgung sind als mo¨gliche Eingriffe in Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte wesentliche Entscheidungen, die der Gesetzgeber selbst treffen muss (Gesetzesvorbehalt) [20]. Dies gilt jedenfalls fu¨r Ziele, Kriterien und Verfahren. Regelt der Gesetzgeber diese selbst, kann er fu¨r die Konkretisierung Gremien der funktionalen Selbstverwaltung erma¨chtigen, die durch Sachkunde und Partizipation der an der Gesundheitsversorgung beteiligten Interessen legitimiert sind [21]. Der Gesetzgeber kann fu¨r Entscheidungen, die komplex sind und erhebliche Sachkunde verlangen, solchen Institutionen fachliche Beurteilungsspielra¨ume geben [22]. Auch Spielra¨ume zur Bewertung sind mo¨glich, etwa wenn verschiedene Ziele in der Gesundheitsversorgung zum Ausgleich zu bringen sind. Je sta¨rker jedoch Fragen der gesundheitspolitischen Bewertung und nicht der fachlichen Beurteilung zuzuordnen sind, desto mehr ist der

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ARTICLE IN PRESS Gesetzgeber in der Pflicht, die wesentlichen Wertungen selbst vorzunehmen.

folgt ist. Ist die Wartezeit danach nicht vertretbar, darf sich der Mitgliedstaat nicht auf eine angebliche Beein’’ ¨ tenfolge berutra¨chtigung der Priorita fen [26]. Diese Entscheidung wurde in der Literatur kritisch als kompetenzwidriger U¨bergriff in die nationale Gesundheitspolitik bewertet [27]. Im Vorschlag der Kommission fu¨r eine Richtlinie u¨ber Gesundheitsdienstleistungen im Binnenmarkt vom Juli 2008 [28] wird jedoch die bisherige Linie der Rechtsprechung besta¨tigt.

Sinne teils als Rationierung, teils als Posteriorisierung darstellen.

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Das Recht der Europa¨ischen Gemeinschaft bela¨sst die Verantwortung fu¨r die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung der Bevo¨lkerung bei den Mitgliedstaaten (Art. 152 Abs. 5 EGV). In der Charta der Grundrechte bekennt sich die Europa¨ische Union zum Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf a¨rztliche Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten bei hohem Gesundheitsschutzniveau (Art. 35 Charta der Grundrechte). Gesundheitsdienstleistungen sind aber Teil des Binnenmarkts (Art. 14, 49 EGV) und insofern auch von seinen Regeln betroffen [23]. Bu¨rgerinnen und Bu¨rger der EU ko¨nnen Gesundheitsdienstleistungen auch in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Wohnsitzstaat in Anspruch nehmen. Dabei ist ein Genehmigungserfordernis nur fu¨r die stationa¨re Versorgung zula¨ssig, wenn deren Planbarkeit und Wirtschaftlichkeit das erfordert (y 13 Abs. 4 und 5 SGB V) [24]. Es gilt das je nationale Leistungsrecht. Dabei ko¨nnen wissenschaftliche Standards zu Grunde gelegt werden, die aber nicht national, sondern international sein mu¨ssen [25]. Die Praxis der Priorisierung im britischen Gesundheitssystem wurde erschwert durch die Entscheidung Watts des EuGH. In ihr wurde einer britischen Bu¨rgerin Recht gegeben, die vom National Health Service Kostenerstattung fu¨r eine Operation in Frankreich verlangte, die sie an der britischen Warteliste vorbei in Anspruch genommen hatte. Der EuGH stellte fest, dass die Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat nicht bloß deshalb versagt werden darf, weil es Wartelisten gibt, die dazu dienen, das Krankenhausangebot nach Maßgabe von vorab festgelegten Priorita¨ten zu planen und zu verwalten, ohne dass im Einzelfall eine objektive medizinische Beurteilung des Gesundheitszustands des Patienten er-

IV. Priorisierung und Leistungsausschlu¨sse in der Gesundheitsversorgung nach geltendem Recht 1. Begriffsversta¨ndnis Priorisierung ist kein definierter Rechtsbegriff des Sozialrechts, weil der Begriff bislang nicht in Rechtsnormen verwendet wird und auch in der Rechtswissenschaft nur in Reaktion auf Diskussionen im gesundheitspolitischen und gesundheitswissenschaftlichen Diskurs verwendet wird [2]. Die Zentrale Ethikkommission der Bundesa¨rztekammer versteht unter Priorisierung die ausdru¨ckliche Feststellung der Vorrangigkeit bestimmter Untersuchungs- und Behandlungsmethoden vor anderen. In einem weiteren Sinne kann auch angefu¨hrt werden, dass jede Entscheidung u¨ber Mittelverwendungen, Leistungsanspru¨che oder Leistungsausschlu¨sse zu einer Priorisierung bestimmter Bedarfe und Posteriorisierung anderer Bedarfe fu¨hrt. Insofern haben Priorisierung und Rationierung einen U¨berschneidungsbereich, doch decken sie sich nicht. Von der Rationierung ko¨nnte die Priorisierung insoweit unterschieden werden, dass ihr Ausgangspunkt nicht die Knappheit der Mittel ist, sondern die Definition vorrangiger Ziele und Leistungen. Fu¨r den medizinischen Diskurs mag es angehen, Rationierung begrifflich auf das Vorenthalten medizinisch notwendiger oder nu¨tzlicher Leistungen zu beschra¨nken. Ein gesetzlicher Leistungsausschluss kann sich aber in diesem

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2. Gesetzliche Leistungsausschlu¨sse in der Krankenbehandlung Die einfachste und eindeutigste Form der Priorisierung sind gesetzliche Leistungsausschlu¨sse als klare Posteriorisierungen. Sie bieten den Vorteil der Normklarheit, ko¨nnen aber zugleich als U¨berfrachtung des Gesetzes und fachliche U¨berforderung des Gesetzgebers wahrgenommen werden. Sie ermo¨glichen in ihrer Grundform nur dichotome Ja-/Nein-Entscheidungen und ko¨nnen so abgestufte Differenzierungen nach Bedarf und Dringlichkeit nur schwer aufnehmen. In der Krankenbehandlung der gesetzlichen Krankenversicherung sind insbesondere Leistungsausschlu¨sse fu¨r Arzneimittel, Heilmittel und Hilfsmittel zu nennen. In y 34 Abs. 1 SGB V sind fu¨r vollja¨hrige Versicherte ausgeschlossen Arzneimittel zur Anwendung bei Erka¨ltungskrankheiten und grippalen Infekten einschließlich der bei diesen Krankheiten anzuwendenden Schnupfenmittel, Schmerzmittel, hustenda¨mpfenden und hustenlo¨senden Mittel, Mund- und Rachentherapeutika, ausgenommen bei Pilzinfektionen, Abfu¨hrmittel, Arzneimittel gegen Reisekrankheit sowie Arzneimittel bei deren Anwendung eine Erho¨’’ der Lebensqualita¨t im Vorderhung grund steht , hierfu¨r werden insbesondere Arzneimittel genannt, die u¨berwiegend zur Behandlung der erektilen Dysfunktion, der Anreizung sowie Steigerung der sexuellen Potenz, zur Raucherentwo¨hnung, zur Abmagerung oder zur Zu¨gelung des Appetits, zur Regulierung des Ko¨rpergewichts oder zur Verbesserung des Haarwuchses dienen. Diese Aufza¨hlung kann beispielhaft fu¨r Sta¨rken und Schwa¨chen von unmittelbar gesetzlichen Leistungsausschlu¨ssen stehen. Wa¨hrend sie den einen als gelungenes Beispiel gilt [29], ko¨nnte kritisch angemerkt werden, dass Gesichtspunkte unterschiedlicher Indikation und Dringlichkeit im Bedarf bei einer solchen Liste nicht beru¨cksichtigt werden ko¨nnen. So soll der Ausschluss von Arzneimitteln zur Behandlung der erektilen Dysfunktion ’’

III. Europarechtlicher Rahmen

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ARTICLE IN PRESS [30] deren Gebrauch als Life-Style-Me’’ Krankenkasdikament auf Kosten der sen unterbinden, trifft aber auch Personen, die durch Krankheit und Behinderung tatsa¨chlich essentiell im Bereich von Ehe und Familie in Aktivita¨t und Teilhabe eingeschra¨nkt sind [31]. Auch der Gebrauch der Lebensqualita¨t als Ausschlusskriterium ist kaum gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnissen geschuldet und nach seiner Aufnahme in y 35b Abs. 1 Satz 4 SGB V widerspru¨chlich. Gesetzliche Leistungsausschlu¨sse mu¨ssen sich verfassungsgerichtlicher U¨berpru¨fung stellen, wie im Falle der eingeschra¨nkten Unterstu¨tzung der ku¨nstlichen Befruchtung [14], so dass die Betroffenen erreichen ko¨nnen, dass der rechtliche Rahmen eingehalten wird. Diese Kontrolle wird zugunsten der Betroffenen ausfallen, wenn die freiheits- oder gleichheitsrechtliche Relevanz der ausgeschlossenen Leistung verkannt worden ist. Gerade generalisierte Ausschlu¨sse ohne Wertung des individuellen Nutzens einer Leistung wie in y 34 Abs. 1 SGB V ko¨nnen in Konflikt mit dem Verfassungsrecht kommen. ’’

3. Ermessensentscheidungen Wa¨hrend auf die meisten Leistungen der Krankenbehandlung und mittlerweile auch der medizinischen Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Rechtsanspruch besteht, der grundsa¨tzlich keine Priorisierung zwischen Anspruchsinhabern zula¨sst, sind andere Leistungen der gesundheitlichen Versorgung Ermessensleistungen der Krankenkassen. Dies gilt etwa fu¨r Leistungen der prima¨ren Pra¨vention (yy 20–20b SGB V) und Vorsorgeleistungen in Kurorten und Einrichtungen (y 23 Abs. 2 und 3 SGB V). Bei Leistungsentscheidungen, die im Ermessen stehen, ist die Krankenkasse verpflichtet, ihr Ermessen nach dem Zweck der Erma¨chtigung auszuu¨ben (y 39 SGB I). Bei Ermessensleistungen ist also jedenfalls dann eine kriteriengestu¨tzte Priorisierung durch die Verwaltung erforderlich, wenn die Zahl der Antra¨ge das zur Verfu¨gung stehende Budget u¨berschreitet. In der Praxis findet bei Ermessensleistungen eine schwer nach-

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vollziehbare sozialrechtliche und sozialmedizinische Feinsteuerung statt. In mehreren Bereichen hat sich der Gesetzgeber veranlasst gesehen, bisherige Ermessensleistungen zu Pflichtleistungen zu machen, weil die Praxis der Krankenkassen als problematisch angesehen wurde. Dies betrifft die medizinische Rehabilitation (yy 11 Abs. 2, 40 SGB V) [32] und die Vorsorge- sowie Rehabilitationsleistungen fu¨r Mu¨tter und Va¨ter (yy 24, 41 SGB V) [33]. Bei den Leistungen der prima¨ren Pra¨vention durch die Krankenkassen wird ha¨ufig kritisiert, dass diese nicht nach epidemiologischen oder sozialen Kriterien, sondern vor allem als Faktor im Kassenwettbewerb ausgestaltet werden [34]. Daher priorisieren die Krankenkassen oft Leistungen an junge gesunde Versicherte. Der Gesetzgeber hat versucht, dem entgegenzuwirken, indem die Verminderung sozial bedingter Ungleichheit der Gesundheitschancen als gesetzliches Ziel der prima¨ren Pra¨vention festgeschrieben wurde (y 20 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Grundsa¨tzlich ermo¨glichen Ermessensnormen eine feinere Steuerung und Priorisierung als gebundene Anspru¨che. Problematisch ist jedoch – wie in den Beispielen der Rehabilitation und Pra¨vention-, dass faktisch schwer zu kontrollieren ist, ob ihre Handhabung den Priorita¨ten entspricht, die sich aus dem Verfassungsrecht und den gesundheitspolitischen Zielen des Gesetzgebers ableiten lassen.

4. Leistungsausschlu¨sse durch den G-BA Der Gemeinsame Bundesausschuss (y 91 SGB V) hat insbesondere die Aufgabe, in Richtlinien auf Antrag u¨ber neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu entscheiden. Er kann ihre Erbringung und Verordnung einschra¨nken, wenn ihr diagnostischer oder therapeutischer Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind. Die Entscheidung ist dabei auf die beste verfu¨gbare Evidenz zu stu¨tzen [35]. Eine wertende Priorisierung von Methoden und Bedarfen findet dabei im Verfahren statt, wenn der G-BA ent-

scheidet, welche vorliegenden Antra¨ge mit Priorita¨t behandelt werden (y 12 VerfO G-BA). Im U¨brigen ist das Verfahren beim G-BA nicht dazu vorgesehen, gesundheitspolitisch priorisierende Entscheidungen zu treffen, sondern es soll konkretisiert werden, wie die gesetzlichen Leistungsanspru¨che erfu¨llt werden ko¨nnen. Ein sta¨rker wertendes Element ist in der Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln enthalten, u¨ber die der G-BA beschließt (y 35b Abs. 2 SGB V). Hier ist eine Bewertung des Patienten-Nutzens im Vergleich mit anderen Arzneimitteln und Behandlungsformen vorzunehmen, die insbesondere Gesundheitszustand, Krankheitsdauer, Lebensdauer, Nebenwirkungen und Lebensqualita¨t einbezieht und dieser ist mit den Kosten in Relation zu setzen (y 35b Abs. 1 Satz 3–4 SGB V). Methoden und Kriterien der Bewertung sind vom IQWIG auf der Grundlage der anerkannten internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin und der Gesundheitso¨konomie zu entwickeln. Diese Bewertungsaufgabe ist so komplex, dass sie eine Priorisierung gesundheitlicher Bedarfe beinhalten kann. Dies wird jedoch begrenzt, solange sich Vergleiche nur auf Arzneimittel beschra¨nken, die bei der gleichen Indikation genutzt werden ko¨nnen. Erst ein indikationsu¨bergreifender Kosten-Nutzen-Vergleich ha¨tte sta¨rker gesundheitspolitisch priorisierende Effekte. Dieser mu¨sste jedoch mindestens an allgemeine Vorgaben des Gesetzgebers ru¨ckgebunden werden und u¨berpru¨fbar bleiben.

5. Leistungssteuerung durch Vergu¨tungsrecht Eine jedenfalls mittelbar priorisierende Wirkung in der Versorgungswirklichkeit haben Vergu¨tungsregelungen. Wenn die Behandlung von privatversicherten Patienten durch Vertragsa¨rzte priorita¨r vorgenommen wird, ist dies eine Folge unterschiedlicher Vergu¨tungsordnungen. Innerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung bestimmt der einheitliche Bewertungsmaßstab den Inhalt der abrechnungsfa¨higen Leistungen und ihr wertma¨ßiges Verha¨ltnis zueinander (y 87 Abs. 2 SGB V).

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ARTICLE IN PRESS Fu¨r die Krankenha¨user werden entsprechende Relationen durch die Fallpauschalen (y 17b KHG) bestimmt. Diese Relationen sind jeweils von den Vertragsparteien, also den Krankenkassenverba¨nden und den Leistungserbringern, festzulegen. Sie unterliegen dabei gesetzlichen Bindungen. Grundsa¨tzlich sind Orientierungspunkte der Vergu¨tungsvereinbarungen nicht gesundheitspolitische Priorita¨ten, sondern der Arbeits- und Ressourcenaufwand, doch ko¨nnen z.B. die Partner der vertragsa¨rztlichen Versorgung fu¨r Leistungen, die besonders gefo¨rdert’’werden sollen , eine Einzelleistungsvergu¨tung vorsehen (y 87Abs. 2b Satz 1 SGB V). Bei gleich bleibender Gesamtvergu¨tung wirkt dies priorisierend. Eine solche Wirkung ist auch von der Aufgabe gedeckt, die der Gesetzgeber den Vertragsparteien zugedacht hat. Sie sollte jedoch nicht den allgemeinen und besonderen Zielen der gesetzlichen Krankenversicherung entgegenwirken. Um dies sicherzustellen, mu¨ssen die tatsa¨chlichen Wirkungen des Leistungserbringungsrechts sta¨rker als bisher evaluiert werden. ’’

6. Leistungssteuerung durch Infrastrukturrecht Dem System der gesetzlichen Krankenversicherung liegt eine Infrastruktur zu Grunde, die vor allem aus den Angeho¨rigen der Gesundheitsberufe, aus den Diensten und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung und aus Forschung und Lehre der Medizin und anderer Wissenschaften besteht. Entscheidungen des Gesetzgebers, der Verwaltung und einzelner Akteure in diesen Bereichen bestimmen die Leistungsfa¨higkeit der gesetzlichen Krankenversicherung und die Priorita¨ten, die darin gesetzt werden. So vergeben Gesetzgeber und Exekutive der La¨nder sowie zum Teil Gemeinden und Gemeindeverba¨nde Investitionsmittel fu¨r Universita¨tskliniken, Krankenha¨user, Pflegeeinrichtungen oder Rettungsdienste und regulieren deren Ta¨tigkeit. Dabei setzen sie gesundheitspolitische Priorita¨ten. Sie sind dafu¨r auch verantwortlich und rechtlich legitimiert. Dies sollte bewusst und transparent im Rah-

men der demokratischen Willensbildung und der kommunalen Selbstverwaltung erfolgen. Wer Priorisierung in der Demokratie will, wird gerade auf dieser Ebene akzeptieren mu¨ssen, dass sie politisch und damit auch kontrovers ist und dem Normgeber damit Spielra¨ume zukommen. Die Wissenschaft muss aber in die Lage versetzt sein, dem demokratischen Prozess Entscheidungsgrundlagen unabha¨ngig zur Verfu¨gung zu stellen.

IV. Schluss Verfassungsrechtliche und ethische Kriterien einer Priorisierung von Gesundheitsleistungen sind mit einem Vorrang von Lebensschutz und Teilhabe sowie unter Beachtung von Benachteiligungsverboten zu finden. Auch in der Bevo¨lkerung genießt eine solidarische Sicherung von Gesundheitsleistungen hohe Priorita¨t vor einer Differenzierung nach Status und Kaufkraft [36]. Es besteht noch erheblicher Forschungsbedarf daru¨ber, welche priorisierenden Effekte die reale Verfassung unseres Gesundheitswesens hat und ob und wie rechtliche Regelungen die ihnen zugedachten Wirkungen u¨berhaupt erreichen. Insofern bedarf es auch fu¨r den rechtlichen Rahmen gesundheitspolitischer Steuerung einer sta¨rkeren Evidenz der Wirkungen und einer damit verknu¨pften Qualita¨tssicherung normativer Systeme.

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Literatur [1] BVerfG vom 6.12.2005, Az. 1 BvR 347/98, Neue Juristische Wochenschrift 2006, 891. Zur Diskussion: Kingreen, T. Verfassungsrechtliche Grenzen der Rechtsetzungsbefugnis des Gemeinsamen Bundesausschusses im Gesundheitsrecht, Neue Juristische Wochenschrift 2006, 877–80, BVerfGE 115, 25–51; Francke, R, Hart D. Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung fu¨r Heilversuche, Medizinrecht 2006, 131–8; Welti, F. Sozialrecht und evidenzbasierte Gesundheitsversorgung in Deutschland, ZaeFQ 2007, 447–54; auch: Huster, S. Gesundheitsgerechtigkeit: Public Health im Sozialstaat, Juristenzeitung 2008, 859–67. [2] Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsa¨tze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale

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Ethikkommission) bei der Bundesa¨rztekammer zur Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), im Internet unter www.zentrale-ethikkomission.de; Kurzfassung in Deutsches A¨rzteblatt, Heft 40 vom 5.10.2007. Vgl. bereits Neumann, V. Priorita¨tensetzung und Rationierung in der gesetzlichen Krankenversicherung, Neue Zeitschrift fu¨r Sozialrecht 2005, 617–23; Isensee, J. Verfassungsrechtliche Maßsta¨be der Kontingentierung im Gesundheitswesen, Geda¨chtnisschrift fu¨r Meinhard Heinze 2005, 417–35; Francke, R. Begrenzung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung – Grund- und Wahlleistungen, Rationierung, Priorisierung, Gesundheitsrecht 2003, 97–101. BVerfG vom 18.6.1975, Az. 1 BvL 4/74, Neue Juristische Wochenschrift 1975, 1691; BVerfGE 40, 121–40. Vgl. Zacher, H.F. Das soziale Staatsziel, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Bd. II y 28, 3. Aufl., Tu¨bingen, C.F. Mu¨ller, 2004. BVerfG vom 8.10.1997, Az. 1 BvR 9/97, Neue Juristische Wochenschrift 1998, 131–5; BVerfGE 96, 288–315 (Sonderschule). Vgl. Welti, F. Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, Tu¨bingen, Mohr Siebeck, 2005. BVerfG vom 29.5.1990, Az. 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, Neue Juristische Wochenschrift 1990, 2869–76; BVerfGE 82 60–105. Vgl. Bieritz-Harder, R. Menschenwu¨rdig Leben, Berlin Verlag, Berlin, 2001; Martinez Soria, J. Das Recht auf Sicherung des Existenzminimums, Juristenzeitung 2005, 644–52; Wallerath, M. Zur Dogmatik eines Rechts auf Sicherung des Existenzminimums, Juristenzeitung 2008, 157–68. BVerfG vom 13.2.2008, Az. 2 BvR 1220/ 04, Der Betrieb 2008, 789–95; vgl. Wenner, U. Beitra¨ge zur Kranken- und Pflegeversicherung mu¨ssen besser von der Steuer abziehbar sein, Soziale Sicherheit 2008, 149–54; Ebsen, I. Armut und Gesundheit, Schriftenreihe des Sozialrechtsverbands 56 (2007), 133–49; Neumann, V. Das medizinische Existenzminimum, Neue Zeitschrift fu¨r Sozialrecht 2006, 393–97. Vgl. [1]. BVerfG vom 25.2.1975, Az. 1 BvF 1/74 u.a., BVerfGE39, 1–95 (Abtreibung); BVerfG vom 16.10.1977, Az. 1 BvQ 5/77, BverfGE 46, 160–5 (Schleyer). BVerfG vom 15.2.2006, Az. 1 BvR 357/05, BverfGE 115, 118–66 (Luftsicherheitsgesetz); vgl. Ho¨mig, D. Die Menschenwu¨rdegarantie des Grundgesetzes in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland, Europa¨ische Grundrechte-Zeitschrift 2007, 633–41. BSG vom 14.2.2006, Az. B 1 KR 12/06 R, SozR 4–2500 y 31 Nr 8; BSG vom 27.3.2007, Az. B 1 KR 17/06 R, USK 2007, 25 (MS-Polyglobin); BSG vom

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ARTICLE IN PRESS

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28.2.2008, Az. B 1 KR 15/07 R (MS-Venimmun); ebenso LSG Nordrhein-Westfalen vom 16.10.2007, Az. L 5 (2) KR 120/05 (Clear-Lens-Extraktion); LSG Berlin-Brandenburg vom 30.1.2008, Az. L 9 B 639/ 07 KR ER (Systemtherapie der Maculadegeneration). LSG Schleswig-Holstein vom 31.1.2007, Az. L 5 KR 28/06, Breithaupt 2007, 721–25 (MS). BVerfG-Kammerentscheidung vom 29.11. 2007, Az. 1 BvR 2496/07 (Hyperthermie). BVerfG vom 26.1.1993, Az. 1 BvL 38/92 u.a., BVerfGE 88, 87–103 (Transsexuelle). BVerfG vom 28.2.2007, Az. 1 BvL 5/03, Neue Juristische Wochenschrift 2007, 1343; BVerfGE 117, 316–30. Welti F, Schutz vor Benachteiligungen im deutschen Sozialrecht nach den europa¨ischen Gleichbehandlungsrichtlinien und ihrer Umsetzung, Vierteljahresschrift fu¨r Sozialrecht 2008, 55–81. BVerfG vom 18.11.2003, Az. 1 BvR 302/ 96, BverfGE 109, 64–96 (Mutterschaftsgeld); BVerfG vom 28.1.1992, Az. 1 BvR 1025/82 u.a., BverfGE 85, 191–214 (Nachtarbeitsverbot); Welti, F. Rechtsgleichheit und Gleichstellung von Frauen und Ma¨nnern, Juristische Arbeitsbla¨tter (JA) 2004, 310–12. vgl. [4]. vgl. [15]; High Court of Justice, Queen’s Bench Division, Administrative Court, Case No CO/87/2007 vom 10.8.2007 (Eisai vs. NICE).

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[19] vgl. [15]; EuGH vom 1.4.2008, Rs C-267/ 06 (Maruko). [20] Francke, R. 2003 [2], 100; Isensee, J. 2005 [2], 427. [21] Vgl. BVerfG vom 5.12.2002 Az. 2 BvL 5/ 98, BverfGE 107, 59–103 (Lippeverband); Welti, F. Gibt es noch eine Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung?, Vierteljahresschrift fu¨r Sozialrecht 2006, 133–56. [22] Kingreen, T. Gerichtliche Kontrolle von Kriterien und Verfahren im Gesundheitsrecht, Medizinrecht 2007, 457–64. [23] EuGH vom 28.4.1998, Rs C-158/96 (Kohll); vgl. zuletzt Schlegel, R., Gesetzliche Krankenversicherung im Europa¨ischen Kontext – ein U¨berblick-, Die Sozialgerichtsbarkeit 2007, 700–12; Sander, G., Europa¨ische Gesundheitspolitik und nationale Gesundheitswesen, Vierteljahresschrift fu¨r Sozialrecht 2005, 447–68; Kingreen, T., Ein neuer rechtlicher Rahmen fu¨r einen Binnenmarkt fu¨r Gesundheitsdienstleistungen, Neue Zeitschrift fu¨r Sozialrecht 2005, 505–12. [24] EuGH vom 13.5.2003, Rs C-385/99 (Mu¨lan Riet); vgl. Becker, U./Walser, C., Stationa¨re und ambulante Krankenhausleistungen im grenzu¨berschreitenden Dienstleistungsverkehr, Neue Zeitschrift fu¨r Sozialrecht 2005, 449–56; Wenner, U., Zur Kostenerstattung fu¨r Krankenbehandlungen in der Europa¨ischen Union, Soziale Sicherheit 2005, 33–6.

[25] EuGH vom 12.7.2001, Rs C-157/99 (Smits und Peerbooms). [26] EuGH vom 16.5.2006, Rs 372-04 (Watts). [27] Wunder, A. Zur Vereinbarkeit von Wartelisten mit den Grundfreiheiten, Medizinrecht 2007, 21–8; Dettling, H.-U. Ethisches Leitbild und EuGH-Kompetenz fu¨r die Gesundheitssysteme?, Europa¨ische Zeitschrift fu¨r Wirtschaftsrecht 2006, 519–24. [28] KOM(2008) 414 vom 2.7.2008. [29] Neumann, V. 2006 [6], 395. [30] Zum Krankheitswert BSG vom 30.9.1999, Az. B 8 KN 9/98 KR R, BSGE85, 36–56 (SKAT). [31] Ein entsprechender Fall wurde wegen unzuzureichender Begru¨ndung vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG-Kammerentscheidung vom 28.2. 2008, Az. 1 BvR 1778/05. [32] Vgl. Fuchs, H. Rechtliche Rahmenbedingungen der geriatrischen Rehabilitation, Soziale Sicherheit 2007, 169–75. [33] Vgl. BT-Drs. 16/1150. [34] Vgl. Bieback, K.-J. Pra¨vention als Prinzip und Anspruch im Sozialrecht, insbesondere in der GKV, Zeitschrift fu¨r Sozialreform 2003, 403–42. [35] yy 18, 20 VerfO GBA; Welti, F. 2007 [1]. [36] Christoph B, Ullrich C. Die GKV in den Augen der Bu¨rger: Wahrnehmung des Lastenausgleichs und Bewertungen von Reformoptionen, Sozialer Fortschritt 2006, 75–83.

Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen 103 (2009) 104–110 www.elsevier.de/zefq