Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2012) 106, 380—382
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EDITORIAL
Priorisierung im Gesundheitswesen 2012 — zum aktuellen Stand der Diskussion
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heiner Raspe Seniorprofessur für Bevölkerungsmedizin, Akademisches Zentrum für Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung, Universität zu Lübeck, Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck Tel.: +49 451/500-5878. E-Mail:
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Dipl.-Soz. Sabine Stumpf Wissenschaftliche Mitarbeiterin Seniorprofessur für Bevölkerungsmedizin, Universität zu Lübeck, Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck Tel.: +49 451/500-5825. E-Mail:
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2009 erschien ein erstes Schwerpunktheft der ZEFQ zum Thema ,,Priorisierung im Gesundheitswesen‘‘; der Untertitel behauptete: ,,Eine Diskussion nimmt Fahrt auf‘‘. Drei Jahre später erweist sich diese Voraussage als richtig. Seit Mai 2009 hat sich die Priorisierungsdiskussion in Deutschland erheblich intensiviert, erweitert und differenziert. Als Ausgangspunkt lassen sich ein Interview [1] und die Rede von Prof. J.-D. Hoppe, des damaligen Präsidenten der Bundesärztekammer, zur Eröffnung des 112. Deutschen Ärztetages in Mainz vom Mai 2009 ausmachen [2]. Die Rede spitzte eine Position zu, die schon in der unseres Wissens ersten deutschen Veröffentlichung zum Thema deutlich geworden war: die Verbindung des Priorisierungsdiskurses mit dem seit Jahrzehnten wiederkehrenden Diskurs über einen immer neu ,,bedrohliche(n) Anstieg der 1865-9217/$ – see front matter http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2012.06.006
Kosten des Gesundheitswesens‘‘ und eine unvermeidliche ,,Kostenbegrenzung durch Rationierung oder Prioritätensetzung‘‘ ([3], S. 1971 ). Diese Verbindung ist bei uns nahezu unauflöslich geworden. Sie geht heute so weit, dass so gut wie immer ,,Rationierung‘‘ gehört wird, wenn von ,,Priorisierung‘‘ gesprochen wurde. Nach wie vor geht es in der Diskussion meist um ihr ,,ob‘‘ und bisher nur vereinzelt um ihr ,,wie‘‘: Darf man über Priorisierung (= Rationierung) bei uns überhaupt reden? Wäre dies nicht unethisch, inhuman, grundrechtswidrig? Wäre eine Priorisierungsdiskussion überhaupt notwendig und nicht auch gefährlich? Könnte sie Rationierung, einseitig als das Vorenthalten notwendiger Leistungen verstanden, nicht geradezu herbeireden? Könnte sie andere und notwendigere Diskussionen (z.B. über Über- und Fehlversorgung, Intransparenz, Ökonomisierung der Medizin) nicht auch verdrängen und/oder unerwünschte Folgediskurse (z.B. ,,Unterfinanzierung‘‘ der GKV, ,,zweiter Gesundheitsmarkt‘‘ der individuellen Gesundheitsleistungen, Eigenbeteiligung der Patienten, Umbau der GKV in Richtung Grundsicherung) befördern? Was wären Alternativen, auch in epistemischer Hinsicht (cf. Beitrag von C. Borck in diesem Heft)? Um noch einmal die Position der Bundesärztekammer in einer zurückhaltenden Version zu verdeutlichen, drucken wir einen Beitrag von Ch. Fuchs von Juni 2011 nach. Wir sind Prof. Fuchs — er war damals noch Hauptgeschäftsführer der BÄK — und dem Deutschen Ärzteblatt für ihre Zustimmung hierzu dankbar [4]. Der Text verdeutlicht u.a., dass Priorisierung nicht ohne Rekurs auf ex ante zu klärende Werte und Kriterien gedacht werden kann. Es wäre zu prüfen, ob und ggf. wie sich die 2002 u.a. im Lancet veröffentlichte ,,Charter on Medical Professionalism‘‘ [5] für deren Formulierung eignet. Erst in einem solchen Bezugsrahmen ist die
1 In diesem Aufsatz beschrieb und analysierte Fleischhauer die damals prominenten Priorisierungsaktivitäten in Oregon/USA, Holland und Schweden — ohne dass dies von der Öffentlichkeit, der Politik oder verschiedenen Fachwelten nennenswert wahrgenommen wurde.
Priorisierung im Gesundheitswesen 2012 — zum aktuellen Stand der Diskussion im engeren Sinn technische Bewertungsmethodik zur systematischen Feststellung von Vor- und Nachrangigkeiten zu entwickeln und nutzen. Der Beitrag von F. Liesching, T. Meyer und H. Raspe unternimmt den Versuch, die sich an den Vortrag von Prof. Hoppe anschließende nationale Diskussion diskursanalytisch zu rekonstruieren. Sein hauptsächlicher Untersuchungsgegenstand sind thematisch einschlägige Veröffentlichungen in führenden deutschen Tageszeitungen zwischen Mai 2009 und Mai 2010. Die Autoren können zeigen, dass es in dieser Zeit so gut wie keinen Austausch abwägender Argumente gab, sondern eher einen Wechsel von vorgestanzten Positions-Beund -Zuschreibungen. Während sich für die Jahre davor, d.h. zwischen 1997 bis 2008 fast keine Reaktionen auf verschiedene Versuche finden lassen, eine deutsche Priorisierungsdiskussion in Gang zu setzen, dauerte es nach der Rede von Prof. Hoppe nur Tage bis zur Bildung der denkbar größten politischen Koalition gegen seinen bewussten Tabubruch: ,,Ich weiß, dass ich mit meinen Ausführungen zur Priorisierung ein Tabu gebrochen haben — und zwar das Tabu, das unbegrenzte Leistungsversprechen der Politik nicht in Frage zu stellen‘‘ [2]. Wäre es dabei geblieben, hätte sich schon früher eine differenzierende Diskussion entwickeln können. Es war aber nicht allein von ,,Mittelknappheit‘‘, ,,Mangelverwaltung‘‘ und ,,heimlicher Rationierung‘‘ die Rede, sondern früh auch von einer chronischen Unterfinanzierung der GKV und ,,vielen unterbezahlten Ärzten‘‘ [1], von Staatsmedizin, mehr Eigenbeteiligung der Patienten sowie Wahltarifen und Kostenerstattung in der GKV. Hiermit wurden ebenso früh alte Reflexe ausgelöst — auf Seiten aller im Bundestag vertretenen Parteien, auf Seiten der Kostenträger und auch auf Seiten einer kritischen Ärzteschaft. Und damit war aus einem tendenziell ,,linken‘‘ Projekt2 ein ,,rechtes‘‘ geworden — eines, das mit ausufernden finanziellen Ansprüchen eines privilegierten Berufsstandes und einem bewussten Rückbau des Sozialstaates identifiziert werden konnte. Und so fand es 2009 den entschiedenen Widerstand aller auf die damalige Bundestagswahl zusteuernden Parteien — verständlicherweise: denn ,,kein Politiker wird eine solche Debatte im Bundestagswahljahr führen wollen. Das hätte Hoppe wissen müssen‘‘ (so CDU-MdB Faust [6] und andere Politiker). Zuletzt ist die Kritik differenzierter und damit auch gewichtiger geworden; das bezeugen neben dem Beitrag von C. Borck auch die Beiträge von A. Penner und R.-U. Schlenker in diesem Heft. Der Austausch von mehr oder weniger polemischen Noten ist dem von abwägenden Argumenten gewichen. Der Frage nach der Ausgestaltung und Institutionalisierung von Priorisierungsprozessen widmet sich C. Landwehr in ihrem Beitrag. In ihrer Zusammenfassung formuliert sie: ,,Entscheidungen über die Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen haben sowohl informationelle als auch distributive Aspekte, weshalb sie einerseits Expertenwissen und spezialisierte Gremien, andererseits aber auch
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Das Thema Priorisierung war 2003 in die Arbeit der Enquetekommission des 15. Bundestages zu ,,Ethik und Recht der modernen Medizin‘‘ [8] durch die SPD eingebracht worden — gegen den verhaltenen Widerstand der FDP und CDU.
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demokratische Zustimmung erfordern.‘‘ Diesem Themenbereich von Verfahrens- und Beteiligungsfragen lassen sich auch die Beiträge von D. Friedrich, S. Stumpf und K. Alber, von S. Stumpf und H. Raspe sowie von B. Schöne-Seifert, D. Friedrich und A. Diederich zuordnen. Der Beitrag von D. Friedrich et al. befasst sich mit der Frage, wie diskursethische und demokratietheoretische Ansprüche an eine Beteiligung relevanter ,,Stakeholder‘‘ am Priorisierungsdiskurs zu erfüllen seien. S. Stumpf und H. Raspe zeigen anhand eines exemplarischen Partizipationsverfahrens die Potentiale und Grenzen von Bürgerbeteiligung für die Diskussion um das ,,wie‘‘ der Priorisierung auf; und B. Schöne-Seifert et al. beschäftigen sich mit der Sicht der Bevölkerung auf ein konkretes Priorisierungskriterium: die Anwendung von Mindestgrenzen für den Nutzen medizinischer Maßnahmen. Offen bleibt in allen Beiträgen die Frage nach einer geeigneten Diskussions- und Arbeitsplattform zur Formulierung konkreterer Priorisierungsempfehlungen [7]: soll es beim bisherigen wissenschaftlichen Austausch bleiben oder wäre der von der verfassten Ärzteschaft vorgeschlagene unabhängige Gesundheitsrat geeignet oder eher eine weitere Enquetekommission des Bundestages ([8] — unser Favorit) oder ein der gemeinsamen Selbstverwaltung zuzuordnendes neues Gremium? In jedem Fall wäre darauf zu achten, dass Leitlinien, nicht Richtlinien erarbeitet werden. Und unbedingt muss ein Spielraum zwischen Priorisierungsempfehlungen einerseits und Allokationsentscheidungen durch demokratisch legitimierte politische Gremien und Normgeber andererseits geschaffen bzw. erhalten werden. Einen Blick über den nationalen Tellerrand gestatten schließlich die Beiträge von St. Huster und A. Bohmeier und von J. Carlsson. Im ersten geht es um ein v.a. in seiner Begründung umstrittenes Urteil des schweizerischen Bundesgerichts zur Kostenerstattung eines außergewöhnlich teuren Medikaments, im zweiten um einen Fortsetzungsbericht zur Praxis der Priorisierung in Schweden. Die Herausgeber dieses Schwerpunkthefts sind allen Autoren zu großem Dank verpflichtet, auch und vor allem denen, die nicht Mitglieder der von der DFG geförderten Forschergruppe 655 ,,Priorisierung in der Medizin‘‘ sind. Wir freuen uns über die unterschiedlichen schriftstellerischen Formate, die zwischen Interview, Debattenbeitrag, Kurzessay, theoretischer Reflexion, Sachstands- und Forschungsbericht changieren und auch ,,Ichbotschaften‘‘ nicht scheuen. Zusammengenommen haben die Beiträge u.E. das Potential, die deutsche Diskussion zu bereichern, zu versachlichen und voran zu bringen. Zusammen mit weiteren in der FOR 655 erarbeiteten Forschungsergebnissen können sie auch die Organisationen und Institutionen unseres Gesundheitswesens unterstützen, die dabei sind, sich von der im ersten ZEFQ-Schwerpunktheft reflektieren Theorie hin zur Praxis von Priorisierung zu bewegen.
Literatur [1] Hoppe J-D. ,,Cholesterinsenker nur in Ausnahmen‘‘. Interview der Frankfurter Rundschau, 8.5.2009. http://www.fronline.de/home/bundesaerztekammer-praesident-hoppecholesterinsenker-nur-in-ausnahmen,1472778,3328912.html (7.3.2012).
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[2] Hoppe J-D. Verteilungsgerechtigkeit durch Priorisierung — Patientenwohl in Zeiten der Mangelverwaltung. Rede zur Eröffnung des 112. Deutschen Ärztetages. Mainz 19.5.2009. http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/112-DAETRede-Hoppe-1905091.pdf-4.2.12. [3] Fleischhauer K. Probleme der Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen durch Prioritätensetzung — ein Blick über die Grenzen. In: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 1997;2:137—56. [4] Bundesärztekammer. Resolution ärztlicher Spitzenverbände. 20. Oktober 2011. http://www.baek.de/page.asp?his=0.5.33.9870.
[5] Medical Professionalism Project. Charter on Medical Professionalism. Lancet 2002;359:520—2. [6] Faust H-G. ,,Einfach mehr Geld ins System geben, löst die Probleme nicht‘‘ Interview mit dem Deutschen Ärzteblatt. Deutsches Ärzteblatt 2009;106:A1698—700. [7] Deutscher Ethikrat. Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen — Zur normativen Funktion ihrer Bewertung. Berlin 2011. [8] Deutscher Bundestag 15. Wahlperiode. Bericht der EnqueteKommission Ethik und Recht der modernen Medizin. Über den Stand der Arbeit. Drucksache 15/5980, 2005; pp. 14 ff.
Qualitätssicherung Hüft-Endoprothesen: Abschlussbericht veröffentlicht Das AQUA-Institut entwickelte im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) ein Qualitätssicherungsverfahren zur Hüftendoprothesenversorgung. Der hierzu verfasste Abschlussbericht wurde am 19. April 2012 vom Plenum des G-BA abgenommen und auf der AQUA-Webseite unter www.sqg.de veröffentlicht. Das vom AQUA-Institut vorgelegte Verfahren geht über die bereits bestehende Qualitätssicherung zu Hüft-Endoprothesen im Krankenhausumfeld hinaus und eröffnet beispielsweise die Möglichkeit, den weiteren Behandlungsverlauf zu beobachten. Der endoprothetische Ersatz des Hüftgelenks als Erstimplantation oder Revision zählen zu
den häufigsten durchgeführten Gelenkersatzoperationen in Deutschland. Vorrangiger Grund für den erstmaligen Ersatz des Hüftgelenks ist eine fortschreitende Arthrose, damit einhergehenden Bewegungseinschränkungen und Schmerzen. Im Jahr 2010 wurden in Deutschland 157.712 Erstimplantationen (nicht frakturbedingt), 46.603 frakturbedingte Erstimplantationen und 24.948 Hüft-EndoprothesenWechsel durchgeführt. Der jetzt abgenommene Abschlussbericht stellt einen wichtigen Meilenstein dar. Bevor die Qualitätssicherung in den Regelbetrieb gehen kann, stehen als nächste Projektschritte unter anderem eine Machbarkeitsprüfung, der Beschluss einer themenspezifischen Bestim-
MAGAZIN mung seitens des G-BA und der Probebetrieb an. Weitere Informationen im Internet unter: www.aqua-institut.de www.sqg.de Korrespondenzadresse: Robert Deg Stabsstelle Kommunikation Pressesprecher AQUA - Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH Maschmühlenweg 8-10 37073 Göttingen Tel.: +49 551 / 789 52 - 0 Durchwahl: +49 551 / 789 52 - 263 Fax: +49 551 / 789 52 - 10 E-Mail:
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