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HOLTHUSEN
Jede Analyse stilistischer Eigentiimlichkeiten eines Schriftstellers, der mit seinem Werk selbst neue MaBstabe set& fiihrt sehr bald zu der Frage weiter, welchen Platz die stilistischen Elemente im Sisthetischen BewuBtsein der Zeit einnehmen, welche Funktionen sie gegentiber dem Leser erfiillen und endlich, wie sie sich in der wechselseitigen Verflechtung kultureller und gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen deuten lassen. Die Ergiebigkeit dieser Fragestellung hangt dabei sowohl von der kiinstlerischen Potenz und von der historischen Konstellation im weitesten Sinne ab, als such von der Bereitwilligkeit, mit dem eine Kulturgemeinschaft Stilisierungstendenzen akzeptiert und verarbeitet. Es gehort heute zu den allgemein akzeptierten Erkenntnissen, da13 ein Wendepunkt im gesamten Kunstverstandnis der Neuzeit in die Jahre 1907-1917 fallt, in eine Periode, die daher a priori sehr genaue Aufmerksamkeit verdient.l Andrej Belyj, einer der grol3en Prosadichter dieser Zeit in Europa, hat auf diese allgemeine Entwicklung sehr prompt und sehr schijpferisch reagiert, und das 18l3t sich such an der Bedeutung ablesen, die fur ihn Fragen des Stils in diesen Jahren gewinnen. Da es nicht darauf ankommt, in pedantischer Weise zeitliche Grenzen zu ziehen, sol1 in unserer Betrachtung der Zeitraum zwischen dem in der Zeitschrift Very 1905 veroffentlichten visionaren Text “Chimery”2 und den im Jahr 1918 entstandenen Zapiski &daka3 einer kritischen Uberpriifung unterzogen werden. Es geht dabei darum zu zeigen, wie die von Anfang an vorhandene destruktive Seite der Bilderwelt des ‘Jugendstils’ (Art nouveau) und des Symbolismus aus der unverbindlichen Kostbarkeit Genul3 und Grauen erregender Dekorationen und Kulissen heraus1 Mit reichem Material ist diese Zeit illustriert bei Werner Hofmann: Turning Points in Twentieth Century Art: 1890-1917 (New York, 1969). Deutsche Ausgabe: Van der Nachahmung zur Wirklichkeit: Die schiipferische Befreiung der Kunst 1890-1917 (KBln, 1970). * Vesy 1905, 6. S. 1-18. s Zapiski ficdaka, T. I (Moskva-Berlin, Gelikon, 1922).
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gehoben wird und im BewuDtsein des Kiinstlers eine mehr oder weniger radikale Transformation erlebt. Der Zerfall der Sprache, die ‘EntBsthetisierung’ des kiinstlerischen Materials, die im zweiten Jahrzehnt des 20. Jhs allenthalben zu beobachten ist, sind die Erfahrungen, unter denen Belyj seine Zapiski hdaka schreibt und aus denen heraus er im Namen der “Wahrheit” und der “Wirklichkeit” den “Verfeinerungen von Kontrapunkten aus Bildern und schiin bearbeiteten Phrasen” entsagt. Belyj gibt dazu die folgende Erlguterung : Ich will nicht verbergen: vielleicht werde ich mich morgen schon wieder an die althergebrachte Verschleierung der Wirklichkeit machen, mit der von jeher die verfeinertsten Stilisten Europas beschgftigt gewesen sind. Aber wenigstens ein einziges Ma1 miichte ich den Leser anschreien: das Werkzeug unserer Arbeit - unsere S&rift - ist Liige und Verf%lschung: fiir mich ist es zerschlagen.* Andrej Belyj, der sich in den Zapiski nachriihmt, er, der ‘pisatel’-stilist’, der den Historikern des literarischen Stils so reiches Material an die Hand gegeben habe, schreibe nun als ein “Schuster des Stils” (sapoinik stilja, S. 68), erkllrt die bisherige Sprache seiner kiinstlerischen Werke (in seiner Terminologie: die “S&rift”) fiir “verstreut”: Die S&rift, mit deren Hilfe ich das Buch des Lebens gelesen habe, ist vertreut. Ihre zusammenhanglosen Buchstaben schliel3en sich jetzt fiir mich als Unsinn zusammen. Die neue S&rift eines neuen Alphabets ist gegossen, und ihre einzelnen Buchstaben sind pliitzlich in den Wirrwarr der alten gefallen und haben beim Lesen der Schriften griibste Druckfehler ergeben.S Bei der Erklgrung des Vorgangs, der zur Zertriimmerung der bisherigen Formeinheit gefiihrt hat, bedient sich Belyj einer Metapher, die schon die Rolle eines zentralen Sujets in dem Roman Peterburg (191 l-191 3) spielt, der Metapher der “Bombe”. Der Sprengkarper, den im Roman eine Terroristengruppe Nikolaj Ableuchov iibergibt, damit er mit ihm seinen Vater, den Senator Apollon ApollonoviE Ableuchov beseitige, wird fiir Belyj zum Symbol einer groDen Lebensabrechnung, mit der nicht nur 4
s
Op. cit., Op. cit.,
S. 61. S. 65, S. 68.
fiber die kiinstlerischeBedeutung herausgeliister Buchstaben fi.ir Malerei und Collagetechnik, iiber absichtliche Druckfehler und vergleichbare Verfremdungseffekte siehe besonders den Aufsatz von Werner Hofmann : “Palimpseste: Zum Problem von Antikunst und Antiliteratur in Wien urn 1910”, in: Marginalien zur poet&hen Welt. Festschrift fir Robert MChlher rum 60. Geburtstag (Berlin, 1971), S. 399-426. Hofmanns Gedanken fiber die Mischung verschiedener Realit&sstrukturen, fiber “multivalente Wirklichkeitserfahrg” und doppelsinnigen Sprachgebrauch in Literatur und Kunst urn 1910 kijrmen gerade fti die Bedeutung von Belyjs Stil fruchtbar gemacht werden.
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das “apollinische Prinzip” in der Kunste auBer Geltung gesetzt werden SOB,sondern mit der such das Ereignis des Weltkrieges prophetisch und dann spiiter deutend zum Faktor der Kunstgeschichte erhoben wird. In dem Kapitel “Ustoi” des ersten Teils der Zapiski Eudaka schreibt Belyj 1918: In meine Hande sind die Ziigel der Pferde gelegt, die die Staatskarosse der Wirklichkeit davontragen; in ihr fehlt der Wagenlenker: ich forme die Wirklichkeit an der Stelle, die von Explosionen zerstiirt ist.’
Aus seiner anthroposophischen Sicht gibt Belyj nur wenige Absatze vorher folgende Beschreibung der Explosion : Ich schreibe von dem heiligen Augenblick, der fur immer meine frtiheren Vorstellungen vom Leben umgesttilpt hat, so als wenn eine Bombe mich getroffen hatte. Meine frtihere Personlichkeit ist zerrissen; ihre Splitter haben das Terrain der Beziehungen zu den Menschen aufgewiihlt; das Wesen (“byt”) des ganzen Lebens ist nun ein anderes. Die hieraus erwachsenden Folgen (in ihnen lebe ich jetzt) sind mir noch nicht verstandlich. Die Zusammenhanglosigkeit des Lebensflusses, irgendein Abrakadabra - das ‘Baugeriist’ fiir einen Bau ohne den Bau selbst - verfolgt seit jener Zeit meine Tage.s
Belyj betont hier die ‘Sujetlosigkeit’ seines neuen Buches, ein Begriff, den russische Formalisten wie Viktor Sklovskij weiter entwickelt haben, und nennt seinen frtiheren Stil ein “Hausmuseum (kustarnyj muzej) aus geordneten und in Rhythmen brillierenden Phrasen”. Die “ftirchterliche vulkanische Explosion”, die Belyj als den Mittelpunkt seiner neuen Zisthetischen Erfahrung ansieht, verlegt er in dieser Abrechnung in das Jahr des Ausbruchs des ersten Weltkrieges, und er versichert, er habe die vorbereitenden StiiBe nicht vernommen oder nur “halb vernommen”, ohne ihre Bedeutung ganz zu verstehen. Belyj gibt aber selbst an, er habe diese Zeichen als “Sujet” fur seine “phantastischen Romane” benutzt, unter entsprechender “Aufpressung von Bild- und Stilmustern” (gofriruja obrazom, stilem) und unter Hinzudichtung fiktiver Ereignisse.s Dieses Bekenntnis scheint mir mit fur die Tatsache zu sprechen, da0 bestimmte Formelemente der Kunst des Futurismus, des Expressionismus und des Surrealismus bereits im ‘System’ der Literatur des Symbolismus und des Jugendstils angelegt sind, wenn such vorwiegend mit anderen Stellenwerten und in anderen Funktionen. Zu Hhnlichen Aussagen kommt in 8 Vgl. dazu Johannes Holthusen: “Antiapolinski Knjifevna smotra 4, 1970, S. 73-79 (Zagreb). ’ Op. cit., S. 66. * Op. cit., S. 65. g Op. cit., S. 64-67.
tip ruskog
simbolizma”,
in:
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einer Untersuchung iiber den Futurismus bei Majakovskij tibrigens such Z. Mathauser, der die Deformation und die Transformation der neuromantischen Bilder in der Poesie des jungen Majakovskij verfolgt,lO und zwar im Sinne der sozialen Aufwiegelung. Die “Explosion” als zentrale Metapher des Romans Peterburg kann hier ein gutes Beispiel abgeben, und die “alldynamische Beziehung”, die sich aus ihr im Roman ergibt, hat den deutschen Germanisten Volker Klotz in seinem 1969 erschienenen Buch Die erziihlte Stadt,ll konsequent dazu angeregt, Belyjs Roman fiber Petersburg im Kontext des europlischen Futurismus zu betrachten. Die Beobachtung, da13die Aktivitat im Roman “auf Seiten der Gegenstande” ist, scheint mir genauso richtig zu sein wie die Betonung der “unwissenden Nahsicht” in der hauptslchlichen Erzlihlperspektive und der Hinweis auf den “nahezu konjunktionslosen Stil im weitesten Sinn”. Es trifft zu, da13 Belyj “sowohl im Satzbau wie im Bau des Romans und der einzelnen Kapitel” die “rationalen Bindeglieder” ausspart, da13die Satzfolge und die Sltze selbst “parataktisch und oft nur lose gereiht” sind. l2 Allerdings wird dieser Eindruck erst in der revidierten Fassung des Romans (erschienen in Berlin 1922) unabweisbar, in der Fassung, auf die sich Klotz sttitzt, ohne die vorhergehende Fassung (Almanach Sirin, 1913/14; unveranderte separate Ausgabe 1916) mit heranzuziehen. Die stark zusammengestrichene zweite Fassung des Romans, die andererseits nur ganz unwesentliche Zustitze und lexikalische Korrekturen enthalt, ist stark in Richtung auf eine weitere Steigerung der ‘Zusammenhanglosigkeit’ stilisiert, was tatsachlich den Text in Richtung auf Expressivitat und Emphase der Vision verschiebt. Zuniichst ist jedoch Belyjs Verhiiltnis zur Realitat der Welt weiter zu verdeutlichen. AufschluDreich ist dabei die kleine philosophisch-Iyrische Abhandlung “Chimery”,ls in der sich Belyj auf den antiken Mythos von lo Zdengk Mathauser: Um8nipoezie. Vladimir Majakovsku a jeho doba (Praha, 1964), S. 46iT. (passim). Vgl. such Zdenek Mathauser: Die Kunst der Poesie. Stufen, die zur Oktober-Dichtung fiihrten (Praha, 1967), S. 30. I1 Kapitel: “Explosive Stadt. Belyjs Petersburg”, in: Volker Klotz: Die erziihlte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Diiblin (Miinchen, 1969), S. 254-316. Vgl. dazu die Exkurse im gleichen Buch: “Symbolismus oder Futurismus bei Belyj”, S. 462-464 und “Petersburg und die futuristische Malerei”, S. 465-469. la V. Klotz kann sich dabei in einer Anmerkung such auf Anton H&rigs Untersuchungen be&en: (Anton Hiinig), Andrej Belyjs Romane. Stil und Gestalt (= Forum Slavicum, 8) (Miinchen, 1965). I3 Dieser Essay ist thematisch eng verbunden mit Belyjs beriihmter Abhandlung: “Apokalipsis v russkoj poezii” (Vesy 1905, 4) und mit Belyjs Kommentar zu den Unruhen von 1905 unter dem Titel “Sfinks” (Vesy 1905, 9-10).
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Bellerophon sttitzt, der mit seinem FltigelroB Pegasus fiber das Ungettim der Chimaira gesiegt hat. Gleichzeitig gehiirt die Chimare aber such zum System des europaischen Symbolismus, wie z.B. Jeannine LuczakWild in ihrer Untersuchung tiber die polnische Zeitschrift Chimera, die von 1901-1907 erschien, sehr schon dargelegt hat.14 In “Chime@ beschwort Belyj erstmalig den “Brunnen der Finsternis und der Leere” (kolodez’ mraka ipustoty), der hinter der “Maske” der Welt zu gahnen scheint, den Brunnen, in den man leicht sttirzen kann, urn dann ohne Ende durch den “schwarzen DurchriB” zu fliegen. Die &fnung in das endlose Nichts bezeichnet Belyj als das Haupt der Gorgo Medusa, deren Schlangenhaar (ein typisches Jugenstilelement und -ornament!) den ganzen Horizont mit Schlangengewimmel (zmeinye roi) bedeckt. Diese “Schrecken der Medusa”, diese “Hydra der Unwissenheit” und die Chimaren sind aber, wie Belyj versichert, lediglich eingebildet, sie sind die “Maske der KausalitHt” (maska priEinnosti), und man mu13 nur den schwarzen Schacht als den “Korridor des Geistes” bzw. als das “Labyrinth des Geistes” ansehen, urn des “Lichtstrahls von der anderen Seite” ansichtig zu werden. So radikal diese Absage an die Kausalitat zunachst anmutet, so heil bleibt dennoch die Welt in Belyjs mystisch-philosophischer Gesamtschau. Der Ausgang zum “ewigen Himmel der Freiheit” ist noch mitgedacht, und das Schaudern vor dem Blick der Medusa wird zwar in Anlehnung an die Kunstphilosophie VjaEeslav Ivanov’s15 als “Anfang unserer Tragiidie” gedeutet, aber der Durchgang durch die Tragiidie verheil3t such den “schwingenden Wirbel der Befreiung” (vej&ij vichr osvoboidenija). Das DurcheinanderRieBen der Sphtiren (Diesseits und Jenseits, Oben und Unten), das fiir den Symbolismus und such ftir den Jugendstil so typisch ist,ls bleibt hier noch mit dem Anspruch sakraler Wi.irde ausgestattet. Erst der konsequente Weg der Profanierung, den Belyj unter dem Eindruck der literarischen Entwicklung, so wie sie sich z.B. such in der Poesie A. Bloks abzeichnet, einschlagt, erschtittert endgtiltig die feierliche Gebardensprache des symbolistischen Stils. Der Roman Peterburg treibt insgesamt die Profanierung, such auf dem Gebiet des Mythos, sehr weit, und man sollte in diesem Zusammenhang Belyjs eigene Definition seiner Romane als Parallele der “Geschichte I4 Jeannine Euczak-Wild: Die Zeitschrift “Chimera” und die Literatur des polnischen Modernismus (= Slavica Helvetica, 1) (Luzern-Frankfurt (M), 1969). I6 Vgl. Vjaiieslav Ivanov: “0 nischoidenii”, in: Vesy 1905, 5, S. 28. I8 W. Hofmann spricht in seinem Aufsatz “Palimpseste: Zum Problem von Antikunst und Antiliteratur in Wien urn 1910” (vgl. Anm. 5) in diesem Sinne vom “Transitionismus des Jugendstils” (op. cit., S. 405).
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der Ausbildung des Theaters vom Drama zur Farce” (Zapiski Eudaka, I, S. 63) ruhig ganz wiirtlich nehmen. Belyjs ktinstlerische Entwicklung, die such seinen Stil ganz bestimmt, stellt sich in diesem Licht als ein ProzeB der Entlarvungen und Demaskierungen der Wirklichkeit dar. Als erste fgllt die “Maske” der Kausalitiit, und als letzte fallt die Stilmaske des Schriftstellers. In Zapiski Eudaka sagt Belyj wiirtlich: “Die Bestimmung dieses Tagebuches ist es, mir als einem Schriftsteller die Maske abzureiljen” (S. 63). Auch der Stil selbst wird jetzt unter die “untauglichen Mittel” bei der Darstellung von Wirklichkeit gerechnet. Zu berticksichtigen bleibt bei der ganzen Stilfrage aber such, welche Bedeutung und welchen Sinn Belyj dem sprachlichen Material selbst, d.h. in erster Linie der lautlich-rhythmischen Struktur gibt. Die Bildung von Lauten oder rhythmischen Figuren erfolgt nach Belyjs uberzeugung (teilweise unter dem EinfluD der “Eurhythmie” Rudolf Steiners) aus “Gesten”, die das Leben selbst erzeugt (iest iizni), und die sich ebenso gut als Farben, Tanzfiguren, pantomimische Gesten usw. materialisieren 1assen.l’ Den Begriff des “Zeichens” (znak) behielt Belyj ausdrticklich der okkulten Sphiire vor, fiir die er, wie bekannt ist, einen erstaunlichen Sinn besaD. Sein “Zeichen” ist zwar such aus dem “Rhythmus der Ereignisse” gewoben, aber das Zeichen verpflichtet den Schiiler der Geheimlehre zum Schweigen. Das, was in Belyjs Terminologie als von aul3en kommendes “Zeichen” erscheint, wird also vom Ki.instler lediglich “gelesen” bzw. rezipiert (Zapiski hdaka, S. 155). In den filr Belyjs reife Kunsttheorie wichtigen Reisenotizen (Putevye zametki) aus Sizilien und Tunis, die zwischen 1910 und 1919 datiert sind,l* ist von den “neuen Formen der Ktinste” die Rede, die von der “Synthese der Ktinste” oder (anthroposophisch ausgedrtickt!) dem “Tempel” erzeugt werden mtissen, insofern als dieser symbolische “Tempel” (Chram) die Vereinigung von Musik, Malerei, Architektur, Skulptur und Rede darstellt (Putevye zametki, S. 24ff.). Aus dem “dynaI7 Der Ausdruck “zest iizni” (Farbe der Blume = Geste des Lebens) findet sich bei Belyj in den Reisenotizen aus Sizilien und Tunis : Putevye zametki, T. I : Sicilga i Tunis (Moskva-Berlin, Gelikon, 1922), S. 148. Die Vorstellung “pantomimische Geste der Sprache /Zunge/, die im Mund wirbelnd tanzt” im Sinne des “Bodens der Poesie” wird von Belyj im gleichen Buch (S. 133: “pantomimi&sskij iest jazyka, zaletavlego pljaskoj vo rtu”) beschworen. I8 Ptevye zametki, T. I: Sicilqa i Tunis (Moskva-Berlin, Gelikon, 1922), S. 24K Der vorbereitete zweite Band dieses Reiseberichtes ist nicht mehr erschienen (siehe die Angaben in “Literatumoe nasledstvo Andreja Belogo”, LN, 27-28 [Moskva 19371, S. 611).
DIE
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mischen Zentrum” des Geistes kamen nun nach Belyjs uberzeugung die “Rhythmen” empor, die in kiinstlerische (menschliche) GESTEN verwandelt werden und die erst dann in ihrer letzten endgiiltigen Gestalt nach verschiedenen Kunstarten differenziert sind. In einer etwas ironischen Selbstauslegung in den Zapiski Eudaka spricht Belyj davon, da13 seine “Profession” als Schriftsteller sich eigentlich ziemlich zuf5llig ergeben habe und da13 der Stil der Sonaten, die in seinem inneren Ohr erklungen seien, wahrscheinlich noch origineller gewirkt hgtte als der Stil der von ihm verfal3ten Romane. Belyj weist hier darauf hin, da13 er ein Jahr lang (in Dornach) in amerikanischem Holz
geschnitzt habe und da13 er sogar unter die Musikanten geraten sei: Ich habe zweite Trommel gespielt (iiberhaupt beschgftigt mich die Rolle der tiirkischen Trommel im Orchester: hier kann man sich aussprechen und man kann seine Seele nicht schlechter ausdriicken als in einer Erz%hlung).lg Die entscheidende neue Erfahrung, die in den Zapiski Eitdaka thematisiert wird, ist aber gerade der Verlust des Rhythmus, und Belyj kann nun sagen : Ich, der Stil-Schriftsteller (pisatel’-stilist), erscheine vor euch als Schuster des Stils und ich, der so gekonnt die Erfahrungen der Seele in den Rhythmus der Worte fiigte, erscheine vor euch in der RHYTHMUSLOSIGKE~ dieser Fetzen (v bezri tmice Btich klorTkov): das sind die Fetzen meines eigenen Lebens, das in die Luft gesprengt isCzO
Nachdem wir in dieser Weise vorlaufig die Dimensionen des Stils in Belyjs eigener Erlebnisweise bestimmt haben, mi.issen wir weiter fragen, welche kiinstlerischen Traditionen Belyj ergriffen hat und welche fiir seinen Stil charakteristischen Elemente in die Richtung einer Sprach- oder Stilkrise weisen. Schon die Kunsttheorie
des Jugendstils, wie sie z.B. in dem Essay
Die Belebung des Stofis als Prinzip der Schiinheit (1903-1909) von Henry van de Velde dargestellt ist, trZigt der verfinderten Wirklichkeit des urbanen Lebens Rechnung : Niemals vorher hat eine gleiche zitternde Bewegung das Bild der Stgdte erregt. Die Beleuchtung hat weder eine so grol3e Rolle gespielt, noch iiber so vie1 Leuchtkraft verfiigt. Niemals hat sie so zahllose Funken in Schaufenster und Schilder geworfen, niemals vervielf2ltigte sie sich zu solch endlosen Girlanden, wenn Regengiisse den Asphalt iiberschwemmen. ijber die PlSitzeund entlang der Boulevards zirkulierten nie zuvor so vie1 bunte Fahrzeuge, nie so vie1 verschiedenartige Uniformen. I9 Zapiski Eudaka (vgl. Anm. 2o Op. cit., S. 68.
3), S. 70.
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Niemals stieg aus den Hafen so vie1 Rauch empor, und nachts spiegelten die Fhisse nie so vie1 gllnzende Edelsteine wider.e1 Als neues kiinstlerisches Problem wird hier das “Tempo” und der “Rhythmus” des modernen Lebens aufgedeckt, jene Bewegung, die van de Velde als “Pulsschlag unserer Zeit” (S. 35) definiert. In dem Essay Die Linie vergleicht van de Velde die Kiinste als “erhiihte Zustgnde physiologischer FHhigkeiten” mit den “Gebgrden und Tiinzen der Urviilker” und entwickelt seine Definition der Linie als “iibertragene Gebgrde” (op. cit., S. 49). Der Ktinstler ist fur van de Velde der “Aufkliirende, der Sehende”, dem es aufgegeben ist, “der Welt eine VerZinderung zu verktinden” (S. 66). Der neue “Rhythmus” des Lebens in den urbanen Zentren und die optischen Erlebnisse Belyjs auf der Reise nach Sizilien und Nordafrika, wo der Dichter die Geometrie der arabischen Architektur kennenlernte,2z prggen in besonderer Weise den Stil des Romans Peterburg. Auch wenn man einmal ganz von der stgndigen Thematisierung des GroBstadtl%rms und des GroBstadtverkehrs, von der Thematisierung der Geometrie und der Planimetrie absieht, so zeigt sich schon graphisch im Satzspiegel in der Absetzung und Abgrenzung stilistischer “Blocke” ein konstruktivistisches Element, das sich bis in die Architektonik der Sgtze zuri.ickverfolgen la&. Obwohl Belyj die interne Rhythmisierung der Sprache hier gegentiber den vier “Symphonien” noch steigert, was sich besonders aus der weiteren stilistischen Arbeit Belyjs am Roman ergibt, wird in dieser Phase das Prinzip der “musikalischen” Syntax und der musikalischen Leitmotive, die Belyj aus den Opern Richard Wagners bekannt waren nicht mehr als Selbstzweck im Sinne bloI3er Ornamentik benutzt, sondern zur Steigerung bestimmter ErzZihlphasen, die in der Gesamtstruktur des Werkes Trgger eigener Funktionen sind. Im ganzen dominiert jetzt im stilistischen Autbau nicht mehr das Ornament, sondern die Architektonik der Erzlhlperspektive und der herausgehobenen stilistischen Segmente. Belyj selbst gibt in seinen bekenntnishaften Zupiski i;udaka den Hinweis auf einen Stilwandel, wenn er schreibt, daf3 die Yliegenden Arabesken” der Symphonien durch die “Satzarchitektonik” der “schweren ‘Taube”’ *I Henry van de Velde: Essays (Leipzig, Insel, 1910), S. 37. aa uber die Beziehungen der Erlebnisse in Nordafrika zum Roman Peterburg siehe Johannes Holthusen, Studien zur Asthetik und Poetik des russischen Symbolismus (Wttingen, 1957), S. 111 (Kapitel: “Andrej Belyj und sein Roman Peterburg”). *8 Siehe dazu Dmitrij &evskijs Einleitung zu Andrej Belyj: cetyre simfonij (Reprint) (= Slavische Propyliien, 39) (Mtichen, 1971), S. XIV.
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ersetzt worden sei (op. cit., S. 51). Auch mit Bezug auf Kotik Letaev spricht Belyj von einer Satzarchitektonik, die sich der “Gradation einer Kreisbewegung” unter einer “unsichtbaren Kuppel” gefiigt habe (op. cit., S. 17). In Belyjs spaterer Sicht geht es hier also urn die Abliisung der “Arabeske” durch “Wort-Eurythmie” (op. cit., S. 17). Das heil3t beileibe nicht, da8 Belyj auf die Arabeske spater verzichtet hatte; damit ist nur gesagt, daB Belyj der Arabeske und den “Schniirkeln” (zavitki, zavituiki) eine neue Funktion in seinem Bsthetischen System zuweist, eine vor allem verfremdende Funktion. Die Ornamentik an den Fassaden der GroBstadtpalHste, besonders als Nachahmung des Renaissance-Stils und des Rokoko, erhalt sowohl in Peterburg als such in dem spateren Kotik Letaev, dessen Schauplatz Moskau ist, den Rang von beharrlichen Leitmotiven zugewiesen. Geflochtene Schniirkel, Karyatiden, mythologische Fabelwesen, “Arabesken, Girlanden und Vasen”24 sind fiir Belyj jetzt Ausdruck eines satirischen Stils und werden von ihm als Verirrung betrachtet. Das zeigt z.B. in Peterburg der ironische Diminutiv bei den “Greifen” im gleichnamigen “GrifonEiki” betitelten Abschnitt des 5. Kapitels (Aus. 1916, S. 241-245). In mehreren Abschnitten seines Reisebuches iiber Sizilien und Afrika, die das Datum “Monreale 1910” tragen, entwirft Belyj eine ganze Kunstgeschichte, die als eine dialektische Aufeinanderfolge von Entstellungen der reinen Kunst erscheint. Zwischen den zwei Polen “Klagelied” (plug und “Gelachter” (chochot) irrt die Kunst an ihrer ruhigen Mitte, dem “lichthaften Lacheln” (svetovaja zdybka)25 vorbei, das Belyj in den pdchtigen Mosaiken des Doms von Monreale verkiirpert sah (Putevye zametki, S. 95).
Gogol’s Versuch, Gelachter und Klagen zu versohnen und als “smech skvoz’ slezy” den beiden Extremen entgegenzusetzen, sieht Belyj als im Endeffekt gescheitert an, da Gogol’s “Lacheln” ohne Dauerhaftigkeit bleibe. Gogol’s Werk verzerre sich immer wieder zum “schrecklichen Grinsen einer Hexe”, breche “in Gelachter und Schrecken” (v chochotach, r uiasach) entzwei (op. cit., S. 99). Die beiden Pole der Kunst, die sich fur Belyj in den zwei Typen des “Gorjun” und des “Chochotun” verkbrpern, fiihren - wie er sagt - auf 1922), S. 194. S. 95. Im gleichen Werk (S. 99) schreibt Belyj: “Das Geheimnis des Llchehrs kennt unsere Zeit nicht, aber im Llcheln ist der Anfang der Liebe”. Diese ijberzeugung berfihrt sich sehr eng mit der Kunstauffassung, die Vjaceslav Ivanov vertrat. Das Lacheln der Gioconda (Mona Lisa) war ftir V. Ivanov eine Erscheinungsform der “gottlichen Maske” (vgl. sein Gedicht “Prozracnost’” 1904). a4 25
Kotik Letuev (Petersburg, Bpocha, Putevye zumetki (vgl. Anm. 18),
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der einen Seite zu den “Abstraktionen der toten Scholastik” des Mittelalters (op. cit., S. loo), auf der anderen Seite zu den Schndrkeln und der “Rundlichkeit (okruglost ‘) des Zynismus der franziisischen Salons” im 18. Jahrhundert (op. cit., S. 101). Zu den “zavitus’ki” des Rokoko tritt aber noch das “Gelachter der Calembours” (chochot kalamburov) aus der Aufkhlrungszeit, und aus dieser Nebeneinanderstellung wird deutlich, daB Belyj das Wortspiel (Calembour) such als feststehendes Element eines Stils betrachtete. Belyj, der nach eigenem Bekenntnis Gogol’ auf seinem Weg folgte,26 benutzte nach 1910 die Stilmittel der Profanation, ja der Groteske, also das Element des “chochot”, urn die Kunst auf neue Wege zu ftihren. Ein Vergleich mit Aleksandr Blok drBngt sich dabei sofort auf. Man denkt an die Profanation der “Prekrasnaja Dama” im Bild der “Neznakomka” (1906), an Bloks “Balagan~ik” (1906) und vor allem an seine geschichtlithe Betrachtung des russischen Symbolismus, die 1910 unter dem Titel “0 sovremennom sostojanii russkogo simvolizma” in der Zeitschrift Apollon (Nr. 8) herauskam. Was Blok hier als “Antithese” des Symbolismus und als “schwarze Luft der Holle” bezeichnet, in der sich der Kiinstler der Zeit bewege, gipfelt bekanntlich in dem Bild des “riesigen weiDen Katafalks”, auf dem eine “tote Puppe” aufgebahrt ist, deren Ztige nur noch entfernt an die einstige mystische Himmelsschdnheit, d.h. an die “These” des Symbolismus erinnern. Dieser Augenblick, den Blok als den nicht vorhergesehenen “toten Punkt des Festes” (mertvaja tocka toriestva) bezeichnet,27 ist der Gegenstand von Belyjs nachdenklichen Betrachtungen in Monreale Ende 1910, als er schreibt, gerade Gogol’s Muse sei die “Mertvaja PannoEka” aus der Schauererzahlung “Vij” (Putevye zametki, S. 99), gewesen. Belyjs Ansichten iiber das Groteske in der Kunst finden ihre prtiiseste Formulierung in der Schilderung des Stiidtchens Bagheria nahe Palermo. An Goethes Italienreise ankntipfend beschreibt Belyj den Ort als Ausgeburt des Wahnsinns, als Vermischung aller Sphgren im “GelHchter”, als “SchnBrkel des Calembours” (zavitok kalamburu), als Fest der Faune und “Ziegen-Menschen” (kozo-ljudi, op. cit., S. 108). Den “Zusammenstog von Harlekinen und Gott” entdeckt Belyj hier als eigenttimliches Stilprinzip, und die “Arabesken” und “Satanesken” beschiiftigen ihn in ihrer blasphemischen Vermischung weit tiber den Anlal3 hinaus. es Siehe das Kapitel “Gogol’ i Belyj” in Belyjs Monographie fiber Gogol’ : Masterstvo Gogolja. Issledovanie (Moskva, 1934), S. 297ff. *’ A. Blok: Sobranie so&nenij v vos’mi tomach, 5 (1962), S. 428f.
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Anton Hiinig, der in seiner Untersuchung iiber Belyjs Romanstil einige Calembours gesammelt hat,2* fiihrt an, da0 diese Wortspiele in den friihen Romanen noch selten seien und erst mit der Zeit zunehmen. In Peterburg ist das Wortspiel als Vermischung der SphBren oder such als Element des “profanierenden Transitionismus”2g bereits ein wichtiges Stilelement, das mit den zahlreichen lexikalischen Neologismen, die als Mischwortbildungen anzusprechen sind, korrespondiert. In diesem Fall verschwinden die Abgrenzungen zwischen den verschiedenen semantischen Bezirken, und es kommt zu neuen “Bedeutungstransitorien” und witzigen Gegeniiberstellungen.30
Man kann beweisen, daI3 Belyj noch wghrend der Arbeit an Peterburg bei der Vorbereitung der endgiiltigen Version fiir die Ausgabe 1922 weitere Mischwortbildungen eingefiihrt hat. So wird aus dem Satz: “0, russkie ljudi, russkie Ijudi! . . . vy stanovites’ tenjami kluboobrazno 1etjaSCich tumanov . . .” spHter : “0 russkie ljudi! Stanovites’ vy tenjami klubole tjas’c’ich tumanov . ..“.31
Typische Bedeutungstransitorien sind such die auf unvollst%ndigem H&en beruhenden Wortspiele. Eine Reihe solcher Wortspiele begegnet schon im ersten Kapitel des Romans, wo sich Gesprlchsfetzen auf der StraBe voriibergehender Passanten zu neuen Bedeutungen zusammenzuschliefien scheinen. Durch Kiirzungen des verbindenden ErzBhlertextes sind diese Fetzen in der letzten Version noch nlher aneinandergeriickt :
- Znaete? - proneslos’ gde-to sprava; pogaslo. I - vynyrnulo: - Sobirajutsja . . . - Brosit’ . . . Su8ukalo szadi: - V kogo? I vot temnaja para skazala. - Abl . . . ProSla: - V Ableuchova?! Para dokonEila gde-to vdali . . . - Abl . . . ejka menja kk . . . isla .. . toju . . . propobuj . . . I para ikala.32
Das Bombenattentat auf den Senator Ableuchov wird hier vorausdeutend profaniert und auf eine andere Bedeutungsebene gezogen : “UbergieB . . . mich . . . mit Sgure, versuch’s ma1 . ...” Aber noch ein neues, vom Erzghler kommentiertes Beispiel folgt auf dem Ful3: a8 Anton HGnig: Andrej BeZyjs Romane. Stil und Gestalt (Miinchen, 1965), S. 26f. 29 Den Ausdruckiibernehme ich von W. Hofmann: Palimpseste (vgl. Anm. 5), S. 414. s0 Auf die in jener Zeit aktuellen Untersuchungen Sigmund Freuds iiber den Witz (“Der Witz und seine Beziehungzum UnbewuBten”) macht W. Hofmann in seinem Aufsatz (vgl. Anm. 29) an der gleichen Stelleaufmerksam. 31 Zitiert nach den Ausgaben: (1.) Andrej Belyj, Peterburg (Letchworth, Herfordshire 1967), S. 22-23. Reprint (Bradda Books) der Ausgabe 1916. (2.) Andrej Belyj, Peterburg, I-II) (Berlin, epocha, 1922), I, S. 39 sa Peterburg, Ausgabe 1922, I, S. 38.
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Krugom zaSeptalos’: - Pora .. . pravo . . . Neznakomec uslySa1ne “pravo”, a “provo”, dokonCil5.e sam : - Provo-kacija?! Provokacija zaguljala po Nevskomu. Provokacija izmenila smysl slySannych slov. 33
Im AnschluB an diesen Kommentar wird das Bedeutungstransitorium noch einmal von hinten erhellt, und zwar durch folgenden Erzilhlerkommentar zur Fehldeutung des Horenden : V [x] Abl . . . I neznakomec podumal: - V Ableuchova. Prosto on ot sebja prisoedinil predlog ve, er: prisoedineniem bukvy ve i tverdogo naka izmenilsja nevinnyj slovesnyj obryvok v obryvok uiasnogo soderianija; i Eto glavnoe:
prisoedinil predlog neznakomecs4 Eindeutig profanierenden Charakter hat aber such die Pose des “Unbekannten”, der in Wirklichkeit Aleksandr IvanoviE Dudkin hei&, am SchluB des 7. und vorletzten Kapitels. Als Morder an dem Agenten Lippaniienko wird Dudkin auf der Leiche rittlings gefunden, mit grinsendem Gesicht, gestraubtem Schnurrbart und vorgestrecktem Arm, wobei ihm tiber Nase und Mund eine Ktichenschabe kriecht (Ausgabe 1922, II, 32). Die Parodie auf den “Mednyj vsadnik”35 und damit auf das petrinische R&land, ist unverkennbar: such der Mythos ist in die Profanation einbezogen. Volker Klotz sieht in der Figur Dudkins “den krachzenden Abgesang auf die grol3e Geschichtsbewegung, die verdiinnend in seine Adern eingestriimt” ist.3s Nachdem Belyj 1905 die ChimPren, Fabelwesen und Masken noch als Inventar des neuromantischen Mythos zur Verftigung standen, kann man in Peterburg verfolgen, wie nun die Romanhelden selbst sich in parodierte Doppelwesen, in entstellte MiBgeburten (~crody) und in Harlekine verwandeln. Die “Maske”, die fiir den Symbolismus zu einem Schltisselbegriff geworden ist, spielt im Roman die Rolle eines Leitmotivs - ebenfalls auf der Ebene der Harlekinade, als “roter Domino”. In den Erinnerungen an Aleksandr Blok erdhlt Belyj, wie dieses Motiv zu erklliren ist. In einem Zustand nerv&er Uberreizung und Erschlipfung habe as Peterburg, Ausgabe 1922, I, S. 39. 84 Peterburg, Ausgabe 1967 (1916), S. 22. Die Urfassung bietet hier den interessan-
teren - ungektirzten - Text. 86 Roman Jakobson hat in seiner Abhandlung The Kernel of Comparative Slavic Literature (= Harvard Slavic Studies, I) (1953, S. 16) auf die entsprechendenVerse in Pu&ins “Mednyj vsadnik” verwiesen,die beschreiben,wie Evgenijfurchtsam auf dem marmornen Liiwen sitzt, seinerseitsdie Haltung Petersdes GroDenauf FalconetsPferd parodierend. Dudkin ist in diesemSinn eine Kontrafaktur zu PuJkinsEvgenij. 36 Die erziihlte Stadt (vgl. h. ll), S. 294.
DIE
BEDEUTUNG
DES
STILS
BE1 ANDREJ
BELYJ
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er, Belyj, 1906 unter alten Sachen eine schwarze Maske gefunden und eine Woche lang nicht wieder abgelegt: Mne chotelos’ odet’sja v krovavoe Btich dnej otrazilis’ vposledstvii moich.37
domino; temoju
i - tak begat’ po ulicam; pereiivanija MASKI I DOMINO v proizvedenijach
Wichtig ist fiir alle Bedeutungsverschiebungen, daB der Durchgang von der phantastischen auf die reale Ebene sichtbar bleibt und such umgekehrt. Die von Belyj gewHhlte Form der “Farce” oder Komijdie hatte Viktor Sklovskij zufolge den damaligen grol3en Vorzug, da13diese Formen am wenigsten “kanonisiert” waren und da13in ihnen die “Ungleichheiten des Sinns” (smyslovye neravenstva) am klarsten fiihlbar sein mul3ten.3* Fiir die doppelsinnige Funktion bestimmter Bilder bei Andrej Belyj gibt es unendlich vie1 Beispiele. Es geni,igt, auf die schon Sfters festgestellten Beziehungen zwischen der Bombenexplosion in Peterburg, dem Gummiball Nikolaj AppollonoviC Ableuchovs und der Herzerweiterung des Senators Apollon ApollonoviE Ableuchov hinzuweisen.3g Die Metaphern des “Zerspringens” (razryv, vzryv) sind aber, wie wir gesehen haben, Leitmotiv such noch in den spgteren Zapiski hdaka. Volker Klotz hat also im Grunde recht, wenn er sagt, die ganze Romanhandlung bestehe “aus lauter explosiven Einzelteilchen”, die “mitsamt ihrer reichen Metaphorik der zerplatzenden Kugeln und Bglle” in die Explosion der Bombe einmiinden (op. cit., S. 298). In Kotik Letaev40 hat Belyj das auf der gleichen Ebene liegende Bild der platzenden Seifenblase als Metapher fiir das erste Erwachen des BewuBtseins beim Kind benutzt. Der Eintritt in das bewul3te Leben wird mit dem Eintritt durch eine dunkle t)ffnung oder mit dem Durchtritt der Seifenblase durch den Strohhalm verglichen : - razorvetsja - vse: steny, komnaty, poly, potolki; ili: vgonitsja v temnoe otverstie bezobraznobezvremennogo, kak vgonjaetsja myl’nyj puzyr’ v otverstie uzkoj solominki;
lopnet
vse: lopnu ja . ..ll
“Vospominanija o A. A. Bloke”. Reprint nach der Ausgabe in kpopeja 1-4, 192213 ;1Sl avische Propyliien 47) (Miinchen, 1969), S. 417 (3, 187). 38 V. Sklovskij: “Andrej Belyj”, in: Russkg sovremennik, 1924, 2, S. 243. 39 Vgl. Johannes Holthusen: Studien zur Asthetik und Poetik des rassischen Syncbolismus (vgl. Anm. 22), S. 136f. Ebenso Volker Klotz: Die erziihlte Stadt (vgl. Anm. 1 l), S. 298-99. *O In Kotik Letaev (vgl. Anm. 24) schildert Belyj bekanntlich die Vorglnge im BewuBtsein eines ganz kleinen, nur alhn%hlich heranwachsenden Kindes aus der Doppelperspektive des erlebenden und des beschreibenden “I&‘. Dieses friihkindliche BewuI3tsein wird als ausgesprochenes “Transitorium” im Sinne der bei Werner Hofmann gegebenen Bestimmungen (vgl. Anm. 5) behandelt. 4* Kotik Letaev (vgl. Anm. 24), S. 51.
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Nach der Profanation des Mythos in Peterburg werden die alten Mythen der Menschheit in Kotik Letaev scheinbar wieder in ihre Rechte eingesetzt, aber in einer neuen, gleichsam spielerischen Funktion, als geistiger Besitz und Spielzeug des KINDES: Mify - drevnee bytie: materikami, morjami vstavali kogda to mne mify; v nich rebenok brodil; v nich i bredil, kak vse: vse sperva v nich brodili; i kogda provalilis’ oni, to zabredili imi . . . vpervye; snacala - v nich Zili.4a Bestimmte Mythen, wie etwa der Mythos von Theseus und dem Labyrinth, der Mythos von der Chimaira, von der Medusa oder von den Titanen wechseln im Laufe der Zeit bei Belyj ihren Platz und ihre Funktion in Zusammenhang der bildlichen Vorstellungen: aus dem gelehrten Gebrauch werden sie zuriickgenommen in eine neue - nicht selten groteske - Naivitgt. Der Verlust dekorativer oder ornamentaler Funktionen wird aber in jedem Fall wettgemacht durch einen Zuwachs an innerer Dynamik, an semantischer Polyvaienz und damit such an potentieller isthetischer Ausdruckskraft. Jede sogenannte ‘Entiisthetisierung’ beschrgnkt sich auf das mal3gebende Wertsystem; in einem anderen Systemzusammenhang kann gerade der profane Gebrauch der Bilder, Symbole und Mythen wieder gsthetisch belangvoll werden. Belyjs Stil tr5gt dieser Tatsache Rechnung, und er spiegelt damit getreu die griil3ere Entwicklung, die die europ%sche Kunst zwischen 1900 und 1920 durchlaufen hat.
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Op. cit.,
S. 19.