Facetten der japanischen Akupunktur im frühen euro-japanischen Kulturaustausch – Teil 2

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Akupunktur

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Deutsche Zeitschrift für

German Journal of Acupuncture & Related Techniques

W. Michel-Zaitsu

Facetten der japanischen Akupunktur im frühen euro-japanischen Kulturaustausch – Teil 2 Facets of Japanese acupuncture in early European-Japanese cultural interaction – part II Zusammenfassung

Abstract

Die überwältigende kulturelle Ausstrahlung Chinas verstellt nur allzu leicht den Blick auf die Eigenständigkeit und Leistungen der anrainenden Länder. Obwohl westliche Schriften zur Akupunktur und Moxibustion bis zum 19. Jahrhundert überwiegend auf Informationen aus Japan beruhten, sah man lange kaum einen Unterschied zur traditionellen chinesischen Medizin. Im ersten Teil dieses Artikels (DZA 2/2015) wurden einige Züge der japanischen Akupunktur im 17. Jahrhundert nachgezeichnet, als die Europäer erstmals versuchten, einen Einblick in diese fremdartige Therapie aus einer so fernen Welt zu gewinnen und japanische Ärzte aufbrachen, um neue Konzepte und Behandlungsmethoden zu entwickeln. Der zweite Teil beschreibt Engelbert Kaempfers Abhandlung zur Therapie der „Kolik“, die Erfindung des Führungsröhrchens durch Sugiyama Wa’ichi, des Weiteren die Deutungsversuche der sino-japanischen Konzepte durch die Pioniere Kaempfer und ten Rhijne sowie die Reaktion namhafter Mediziner des 18. Jahrhunderts.

The overwhelming cultural charisma of China all too easily prevents recognition of neighbouring countries’ autonomy and achievements. Even though until the 19th century Western papers on acupuncture and moxibustion were predominantly based on Japanese information, distinctions from Traditional Chinese Medicine were hardly recognized for a long time. The first part of this article (DZA 2/2015) traced some traits of Japanese acupuncture during the 17th century. This period is marked by Europeans venturing for the first time to glimpse into this strange therapy from a remote part of the world, while Japanese physicians embarked on the development of novel concepts and therapeutic methods. The second part of the article will describe Engelbert Kaempfer’s treatise on the therapy of “colic” and the invention of the guiding tube by Sugiyama Wa’ichi. Furthermore, the pioneering Kaempfer and ten Rhijne’s attempt at interpreting the Sino-Japanese concepts as well as the reaction of renowned physicians of the 18th century will be presented.

Schlüsselwörter

Keywords

Traditionelle Japanische Medizin (TJM), Akupunktur, Klopfnadel, Führungsröhrchen, Palpation, Mubun, Misono Isai, Sugiyama Wa’ichi, Nagata Tokuhon, Willem ten Rhijne, Engelbert Kaempfer, Lorenz Heister, Georg Stahl

Traditional Japanese Medicine (TJM), acupuncture, tapping needle, guiding tube, palpation, Mubun, Misono Isai, Sugiyama Wa’ichi, Nagata Tokuhon, Willem ten Rhijne, Engelbert Kaempfer, Lorenz Heister, Georg Stahl

Engelbert Kaempfer und die Therapie der Kolik

(hineribari, sinojapanisch nenshin), die „Klopfnadel“ (uchibari, sinojapanisch dashin) sowie die Nadelung mit Führungsröhrchen (kudabari, sinojapanisch kanshin). Bei den beiden letztgenannten Verfahren handelt es sich, was er nicht wusste, um japanische Entwicklungen des 17. Jahrhunderts. Sein besonderes Interesse galt der Klopfnadeltechnik:

Der Lemgoer Arzt Engelbert Kaempfer (1651−1716), der von 1690– 1692 in Japan umfangreiche Forschungen zu Land und Leuten betrieb, verfolgte auch die einheimische Medizin mit großer Intensität [1]. Zu Akupunktur und Moxa verfasste er zwei Abhandlungen, die er in seinem noch zu Lebzeiten gedruckten Werk „Amoenitatum Exoticarum Politico-Physico-Medicarum Fasciculi V“ (Lemgo, 1712) der Fachwelt vorlegte. Ein unveröffentlichtes Manuskript „Heutiges Japan“ [2] wurde nach seinem Tod in englischer Bearbeitung als „History of Japan“ 1727 herausgegeben. Der Arzt und Übersetzer Johann Caspar Scheuchzer (1702−1729) fügte dem Text sechs Abhandlungen aus den Amoenitates Exoticae bei, darunter die beiden medizinischen Arbeiten. Das Buch übertraf alle bisherigen Publikationen über Japan. Schon bald folgten Ausgaben in französischer, niederländischer und schließlich auch deutscher Sprache, durch die auch Kaempfers medizinische Beobachtungen weithin bekannt wurden. Kaempfer hatte in Japan eine der „in sinesischen und japanischen Charaktern gedruckten Tafeln“ erhalten, die man ihm zufolge „sowohl in den Buchläden als auch bei herumreisenden Ärzten kaufen“ konnte. Eine Reihe der Therapieanweisungen dieses mit zwei Abbildungen geschmückten Faltblatts stellte er in einer Abhandlung „Von der Moxa, dem vortrefflichsten Brennmittel, das bei den Sinesern und Japanern sehr häufig gebraucht wird“ vor [3]. Es hat den Anschein, dass ihm während seines Japanaufenthaltes keinerlei Buch zur Akupunktur zugänglich gemacht wurde. Doch hatte er wie ten Rhijne dreierlei „Akupunktierverfahren“ beobachtet: die „Drehnadel“ Prof. em. Dr. Wolfgang Michel 1-6-6 Jigyohama Chuoku Fukuoka-City Japan 810-0065

„Man nimmt die Spitze der Nadel in die linke Hand zwischen dem Mittel- und Zeigefinger, der auf dem Daumen ruhet, und nähert sie alsdenn dem Orte, in den gestochen werden soll, und der vor-

Abb. 1: Klopfnadel-Set nach Misono Isai (Sammlung des Verfassers)

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her wohl ausgewählt ist, damit er von keinen Nerven berührt werde. Alsdenn nimmt der Arzt den kleinen Hammer in die rechte Hand und bringt die Nadel mit einem oder zwei Schlägen durch die äußere, harte Haut, legt dann den Hammer weg und dreht die Handhabe der Nadel zwischen den Spitzen der vordern Finger, um sie bis zu der erforderlichen Tiefe in den Körper zu bringen, welche gemeiniglich einen halben, zuweilen, aber selten, einen ganzen Zoll betragen, und in jedem Fall die Materie des Schmerzes berühren muß. Der Arzt hält die Nadel hier feste, bis der Patient ein oder zweimal Athem geschöpft hat, alsdenn zieht er sie aus, presst den Ort mit seinen Fingern, als wollte er den bösen Geist herausdrücken.“ [2] Ten Rhijne, der seine Informationen aus einem chinesischen Buch erhalten hatte, zählt für die Akupunktur einen beachtlichen Anwendungsbereich auf: Kopfschmerz, Schwindel, grauer Star, Schlagfluss, Tollwut, Spannungen auf der Brust und im Rücken, Nervenzuckungen, Epilepsie, Schnupfen und Rheuma, intermittierende und Continua-Fieber, Hypochondrie, Melancholie, Ruhr, Cholera, Kolik und andere „Leiden, die aus Winden der Eingeweide herkommen“, Hodenschwellung, Arthritis und Tripper [4]. Kaempfer konzentriert sich auf ein einziges Leiden, das seine japanischen Informanten senki (chines. shànqì) nannten. Diese Bezeichnung erscheint zwar schon im ältesten japanischen Fachwerk, dem Ishimpō (984), sie verbreitete sich aber erst mit der zunehmenden Beachtung der Bauchregion seit dem 16. Jahrhundert. Das „Vocabulario da lingoa de Iapam“ (1603) der Jesuiten gibt eine enge Auslegung [5]: Senki. Leiden an den Hoden [ähnlich] wie Erysipele oder Geschwülste. Japanische Autoren der Frühen Neuzeit verwendeten die Bezeichnung ziemlich weitgreifend für heftige Schmerzen im Unterleib, ausgelöst durch Kälte-Defizienz (kyokan), für feuchte Fieber (shitsunetsu), Verdauungsstörungen (shokushaku), Entzündungen im Rippenfellbereich (tanseki), Entzündungen der Blase und Harnwege oder durch Würmer (senki no mushi) verursachte Beschwerden [6]. Kaempfer ,übersetzte‘ senki als Kolik, fühlte sich aber zu Erläuterungen genötigt. Es handele sich nur um jene Art von Leibschmerzen, „die zugleich die Därme angreift und auch in den Weichen unsers Körpers convulsivische Bewegung“ erregt, auch „die Muskeln und Häute des Unterleibes“ angreife. Allerdings nenne man „die heftige und schmerzhafte Empfindung der Ausdehnung“ „im Lateinischen gemeiniglich mit Unrecht Colik“, „weil der Darm, wovon diese Benennung herkömt, sehr oft unschuldig an dem Übel“ sei. Dazu gesellten sich in Japan zufällige Begleiterscheinungen wie „Geschwulste, die hin und wieder am Körper hervorgehen.“ Oft ende sie auf eine schreckliche Art, indem bei den Männern einer der Hoden sehr stark anschwelle und daraus ein „Fistelgeschwür“ entstünde, bei Frauen sich „eine Menge heslicher Klumpen am Hintern und der Schaam“ bildeten [7]. Kaempfer zufolge wird diese Kolik in Japan durch Nadelung an neun Stellen therapiert, die oberhalb des Nabels in der Form eines Quadrates mit einem Abstand von zwei Daumesbreiten liegen. Jede „Reihe dieser Punktierungen“ habe „bei den Lehrern der Kunst einen besonderen Namen“, und bei jeder seien eigene Regeln zu beobachten. Die obere Reihe heiße „Sjoquan“, die mittlere „Tsjuquan“ und die untere „Gecquan“. Wenn man dort „nach der Ordnung und den Vorschriften des Meisters der Kunst in gehöriger Tiefe“ steche, hörten die Schmerzen „sogleich und oft in einem Augenblick auf, als wenn sie weggezaubert“ wären. Er selbst sei „sehr oft Augenzeuge davon gewesen“ [7]. In der Tat existieren in der Mitte der Oberbauchregion senkrecht untereinander drei Punkte Jōkan (KG 13), Chūkan (KG 12) und Gekan (KG 10). Und jeweils spiegelbildlich rechts und links davon liegen Shōman (Ma 20), Ryōmon (Ma 21)

Abb. 2: Kaempfers Skizze der zur Therapie der „Kolik“ genutzten neun Punkte (British Library, Sloane Collection 3062)

und Tai’itsu (Ma 23), die alle bei Magen- und Darmbeschwerden empfohlen werden. In der chinesischen Literatur gibt es für Kaempfers Neun-Punkte-Konstellation keinerlei Beleg. Hier liegt eine japanische Therapieform vor, die im Werk von Nagata Tokuhon (1513−1630) wurzelt und an die immer stärkere Betonung der Abdominalregion seit dem 16. Jahrhundert erinnert. Nagata war ein origineller Kopf, der in jungen Jahren mit zenbuddhistischen Atempraktiken (shinsen tonō) zur Ausstoßung von pathogenem Qi (Ki) begann und dann seine medizinischen Kenntnisse bei Gekkō Dōjin und Tashiro Sanki vertiefte. Danach zog er als Wanderarzt durch die Lande, die Heilmittel im Beutel um den Hals seiner Kuh gebunden. Nagata, der seine Fürsorge auch den Ärmsten zuteilwerden ließ, bildete in einem exzeptionell langen Leben ungefähr fünfzig Schüler aus. Mit seinem Lehrer Tashiro Sanki und Manase Dōsan, dem Begründer der „Schulrichtung des späteren Zeitalters“ (Goseihō-ha), zählt er zu den Pionieren im Umbruch zur neuzeitlichen Medizin. Seine Lehren, die eine eigene Bauch- und Pulsdiagnose, Moxa- und Nadel-Therapie sowie neunzehn berühmte Rezepturen umfassen, wurden von späteren Generationen erneut aufgegriffen und weiterentwickelt [8]. So in der zehn Jahre vor der Anlandung Kaempfers von Watanabe Hidetomi publizierten Schrift über „Geordnete Raritäten der Nadelverfahren“ (Gōrui shimpō kika), die ebenfalls solche Punktkonstellationen in der Bauchregion propagiert [9].

Die Nadelung mit Führungsröhrchen Im Gegensatz zur Klopfnadelung wird das Führungsröhrchen bei Kaempfer nur kurz behandelt. Hier liegt ebenfalls eine japanische Erfindung vor, die man heute in Handelsformen international nutzt. Das Röhrchen, ein „kleiner Kanal von Erz“, sei „etwa ein Dritttheil eines Fingerbreits“ kürzer als die Nadel. Es werde gebraucht, um „genau in den bestimmten Ort des Körpers ohne allen Fehler zu stechen“, und sorge dafür, „dass die Nadel durch einen starken Schlag nicht zu tief in die Haut eindringe“ [7]. Die Entwicklung dieses Röhrchens geht auf Sugiyama Wa’ichi (1610−1694) zurück, der in einer Samurai-Familie aufwuchs, dann aber, vermutlich infolge einer Pockeninfektion, erblindete und die Nachfolge seines Vaters nicht antreten konnte. Seit dem 14. Jahrhundert waren blinde Männer in einer Gilde (Tōdōza) organisiert, deren Mitglieder als wandernde Musiker, Masseure und Akupunkteure ihren Lebensunterhalt verdienten. Sugiyamas erster Versuch, sich bei einem Akupunkteur in Edo ausbilden zu lassen, scheiterte an seiner Ungeschicklichkeit. Und auch beim zweiten Lehrer, dem

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renommierten Akupunkturarzt Irie Toyoaki (alias Irie Hōmei) in Kyōto, quälte er sich mit der Kontrolle der Einstichpunkte und der Stichtiefe. Nach langen, an die Gottheit Benzaiten gerichteten Gebeten in einer Höhle auf der Insel Enoshima kam der Durchbruch. Dank der Erfindung des Führungsröhrchens reifte er zu einem der führenden Akupunkteure in Edo (heute Tokyo) heran und stieg in die höchsten Ränge der Blindengilde auf. 1682 gründete er unter der Patronage des Shōgun Tokugawa Tsunayoshi eine Lehrstätte für Akupunktur. Dies war weltweit die erste Einrichtung zur Unterrichtung von Sehbehinderten, rund ein Jahrhundert älter als die 1784 von Valentin Haüy in Paris gegründete „Institution Royale des Jeunes Aveugles“. 1685 führte Sugiyama eine erfolgreiche Behandlung des Shōgun durch, was das Engagement der Regierung in seinen Unternehmungen weiter förderte. 1693 überließ man ihm ein Grundstück zum Ausbau der Schule [10]. An dieser Stätte befindet sich heute der zu seiner Verehrung errichtete Sugiyama-Schrein (Ejima Sugiyama-jinja) und der Sitz einer Gesellschaft zur Propagierung seines Erbes (Sugiyama-kengyō itoku kenshō-kai). Sugiyama leistete zugleich einen Beitrag zur Entwicklung der Abdominaldiagnose [11], da ihm unter den vier von der chinesischen Tradition propagierten Diagnoseverfahren, die visuelle Beobachtung von Zunge, Haut, Körpertyp usw. nicht möglich war. Hierzu nutzte er den linken Handteller und die Fingerspitzen, die keinen stärkeren Druck ausübten, und suchte Temperaturänderungen,

Abb. 3: „Geheime Akupunkturpunkte“ nach Nagata Tokuhon (Chisokusai Nagata sensei ikō, 1900)

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Spannungen der Haut und Muskeln, Schmerzempfindungen, Verhärtungen, Elastizität, Hautausschlag, Schwellungen, innere Bewegungen u. a. m. zu erfassen. Diese Techniken erregten großes Interesse auch unter Ärzten ohne Sehbehinderung. Das Führungsröhrchen erleichterte die Kontrolle von Einstichtiefe und -winkel und erlaubte die Verwendung feinerer Nadeln. Dank dieses Röhrchens und der Verfeinerung der Palpation erlebte der Berufsstand der Akupunkteure einen erheblichen Aufschwung. Zugleich leitete Sugiyama eine im Vergleich zur chinesischen Medizin stärker ausgeprägte Tradition des Tastens, des Fühlens, der Hautkontakte ein. Seine Lehren verbreiteten sich zunächst mündlich und wurden postum in Schriften wie „Wahre Sugiyama Tradition“ (Sugiyama shinden-ryū) zusammengefasst. 1880 erschien erstmals eine Druckausgabe, heute stehen auch umgangssprachliche Übersetzungen zur Verfügung [12].

Deutungsversuche Die Beobachtung und Beschreibung von Therapietechniken bot keine großen Schwierigkeiten, doch sobald die Rede auf den theoretischen Hintergrund kam, hingen die Europäer von den Sprachfertigkeiten und vom Sachwissen ihrer japanischen Informanten ab. Ten Rhijne, dem die Schwächen seiner Abhandlungen bewusst waren, fügte einige Bemerkungen zur Situation auf der niederländischen Handelsstation Dejima bei. Er hatte den Beistand des Arztes Iwanaga Sōko gewonnen, der chinesische Texte lesen und ins Japanische übertragen konnte. Dessen Erklärungen wurden dann von dem Dolmetscher Motoki Shōdayu übersetzt, doch sprach dieser holländisch nur „in halbierten Wörtern und fragmentarischen Wendungen“. Kaempfer hingegen brachte dem ihm zugewiesenen Zimmerdiener und Dolmetscherlehrling Imamura Eisei „im ersten Jahre die holländische Sprache“ bei, sodass „er dieselbe schreiben und weit besser reden“ konnte als „jemals ein japonischer Tolmetsch gekonnt“ [13]. Allerdings verstand der junge Imamura nichts von Medizin. Ten Rhijnes Ausführungen in der „Mantissa Schematica“ vermitteln einen guten Eindruck von den Mühen interkultureller Verständigung. Die Leitbahnen mutieren zu Venen und Arterien („venae et arteriae“), in denen „Winde“ („flatus“) und „Lebensgeister“ („spiritus vitales“) zirkulieren. Yin und Yang werden als „humidum radicale“ und „calidum innatum“ in der klassischen Humoralpathologie verankert. Zudem konnte er keinerlei Beziehung zwischen den Behandlungspunkten, die er „signa“, an anderer Stelle auch „foramina“ nennt, und dem Ort des Leidens erkennen [4]. Auch Kaempfer blieb nur die Hoffnung auf einen Anatomen, der „scharfsichtig genug“ sei, „um hier die besondre Verbindung der Gefäße angeben zu können“ [3]. Hinsichtlich der Krankheitsursachen machen beide Autoren gleichartige Angaben. Bösartige „Winde und Dünste“ („flatus et vapores“) bringen das Blut durcheinander, sie „stauen sich auf“ oder „werden eingeschlossen“. Durch Auflösung dieser Stauungen werde die Harmonie im Organismus wiederhergestellt, was in Termini wie „liberare“, „evocare“, „resolvere“ vermittelt wird. Die Integration neuer Konzepte wird durch (vermeintlich) vertraute Züge und Gemeinsamkeiten erleichtert. Genau das geschah bei ten Rhijne und Kaempfer, wenn sie die Erklärungen ihrer Dolmetscher in Begriffe des Pneumatismus und der klassischen Säftelehre fassten. Sieht man davon ab, dass das Abendland ein vierpoliges und China ein fünfpoliges Korrespondenzschema verwendete, so gab es auf beiden Seiten neben konkreten Körpersubstanzen auch substanzlose bzw. extrem feinstoffliche Flüsse in Mikro- und Makrokosmos. Störungen in diesem Fluss lösen Verwerfungen, Ungleichgewichtigkeiten aus, die sich im Körper als Krankheiten manifestieren. Harmonie und damit Gesundheit tritt erst dann wieder ein, wenn der Überfluss abgeschöpft ist, Mängel ausgeglichen wurden und Stockungen beseitigt sind. In Ost und West griff der Arzt zu Gegenmaßnahmen (contraria contrariis): Trockenes gegen Nasses, Kaltes

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Abb. 4: Nadelung mit Führungsröhrchen in den „Wertvollen Aufzeichnungen zur Akupunktur und Moxibustion“ (Hongō Masatoyo: Shinkyū chōhōki, 1718. [Sammlung des Verfassers])

Abb. 5: Statue des meditierenden Sugiyam Wa’ichi in einer künstlichen Grotte des Ejima Sugiyama Schreins (Aufnahme des Verfassers)

gegen Warmes, Abführung gegen Überschuss, Zuführung gegen Mangel, Erweichung gegen Verhärtung usw. Ten Rhijnes und Kaempfers humoralpathologische Transformationen bekamen der Rezeption von Akupunktur und Moxibustion in Europa nicht sonderlich. Denn nun war die fremde Medizin der Vormoderne zugewiesen. Kaempfer ließ sich überdies zu einer provokativen Gegenüberstellung hinreißen. Die japanischen Ärzte, schreibt er, würden „den Kranken nicht mit einer großen Menge von Arzneien“ ermüden. Sie suchten „vielmehr die Wurzel des Übels (wofür sie allemal die Verstopfung halten) und die Materie des Schmerzes (welche sie verschlossene Winde nennen) durch äußerste Mittel, nämlich die Nadel und den Rauch zu vertilgen“ [14]. Noch kräftiger in dieses Horn stieß er in der Abhandlung zur Akupunktur. Die zwei „Haupt- und Universalmittel“ der Japaner, das „Feuer und Metall“, seien dem Namen nach zwar fürchterlich, doch dürfe man darunter weder den „grausamen verwundenden Stahl, noch das Feuer eines glühenden Eisens verstehen, mit denen die unmenschliche Chirurgie unsers westlichen Erdtheils die armen Sterblichen auf eine Art“ martere, „die von allen verabscheut“ werden müsse, welche „noch Menschlichkeit und Mitleid zu fühlen fähig“ seien [15]. Wenn ihm wirklich daran gelegen war, die Verbreitung von Akupunktur und Moxibustion zu fördern, dieses Fanal klang etwas zu schrill. Namhafte Leser fällten ein harsches Urteil. 1724 fügte Lorenz Heister seiner „Chirurgie“ ein Kapitel „Vom Nadelstechen der Chineser und Japoneser“ hinzu: „Mit dem Schröpffen hat einige Gleichheit das so berühmte Nadelstechen der Chinenser und Japonenser; welches bey denselben eine sehr gebräuchliche Chirurgische Operation in den meisten Kranckheiten ist: da sie mit besondern güldenen oder silbernen Nadeln allerley Theyle des Leibes entweder stechen, oder mit einem besondern Hämmergen solche einzuschlagen pflegen und dadurch allerley Kranckheiten zu curiren trachten: a) insbesonderheit, da

Abb. 6: Palpation nach Mubun zur Ermittlung des Zustandes von Milz und Leber bei okori, einer intermittierenden Fieberkrankheit (Handschrift, spätere Edo-Zeit. Kenikai Library, Tokyo)

sie sowohl das Aderlassen als Schröpffen nicht im Gebrauche haben, sondern selbige vielmehr verachten; hergegen aber auf dieses Nadelstechen und das Brennen mit der Moxa mehr halten, als auf alle andere Operationes oder Medicamenten, auch solche als die vornehmste und nützlichste Operationes der Chirurgie ausgeben, womit man fast alle Kranckheiten bezwingen könne. Sie stechen selbige in den Kopff, Brust, Bauch und andere Theile des Leibes, um dadurch allerley Kranckheiten zu vertreiben: und ist zu wundern, wie solche kluge Nationen so viel auf diese wunderliche Remedia halten können. Dieweilen aber diese Operation bey den Europäern gar nicht gebräuchlich, halten wir nicht nöthig selbige weitläufftiger zu beschreiben: sondern wer mehr davon wissen will, kan solches bey dem ten Rhyne de Arthritide pag. 145 und insbesonderheit pag. 183 und 190 auch bey dem Kämpffer in seinen Amoenitatibus exoticis pag. 582 mit Verwunderung nachlesen.“ [16] Vier Jahre später meldete sich der Alchemist und Mediziner Georg Ernst Stahl zu Wort. Als Schöpfer der Phlogistontheorie war er mit flüchtigen Stoffen vertraut, und in seiner spiritualisierten Physiologie dirigierte die Anima über Blutkreislauf als Bindeglied den Körper [17]. Damit war er vergleichsweise gut gerüstet für eine Annäherung an das chinesisch-japanische Denken. Doch auch dieser originelle Kopf setzte die „subtilen Flatus“ in ten Rhjines Buch mit Darmwinden gleich und schloss seinen Überblick mit einer bissigen Bemerkung ab: „Die orientalischen Völcker, Chineser und Japaner haben einen besonderen Methodum, welchen sie Acupuncturam nennen, da diese also schmertzhaffte partes mit einer subtilen göldenen Nadel gestochen werden: sie wird nemlich mit einem Hämmerchen eingeschlagen und nach Nothdurfft der Sache umgedrehet, und so will man versichern, daß der dolor arthriticus weichen soll: davon Ten Rhyne in Tract. de Acupunctura Japonensium sonderlich Zeugniß giebt. Es hat hier alles eine Conspiration oder Verwandt-

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schafft mit einander, obgleich keine copiöse eruptio sanguinis sinceri darauf folget, so wird doch der Spasmus durch diese punctur alteriret. Er zwar, nemlich Ten Rhyne, deduciret die Schmertzen von Flatibus, und persuadiret sich, daß die subtilen Flatus solchergestalt durch die subtilen Nadel-Stiche evaporiren müsten: ja er kommt in dieser Persuasian gar so weit, daß er den Raht giebt, es solten gemeine Leute, die mit Colic-Schmertzen beladen wären, die Intestina mit Nadel stechen. Da sehen wir, was die Phantasie thut. Wem es gefällt, kan dergleichen anwenden: es stehet jederman frey, der es versuchen will.“ [18] Damit war die Akupunktur fürs Erste ins Kuriositätenkabinett verbannt. Bis zur Revitalisierung sollte einige Zeit verstreichen. Erklärung zu Interessenkonflikten Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Literatur

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1. Michel W. Engelbert Kaempfer und die Medizin in Japan. In: Haberland D (Hrsg.): Engelbert Kaempfer − Werk und Wirkung. Stuttgart: Boethius, 993:248−93 2. Michel W, Terwiel BJ (Hrsg). Kaempfer E. Heutiges Japan. München: Iudicium, 2001 (Kritische Edition) 3. Dohm CW (Hrsg). Von der Moxa, dem vortreflichsten Brenmittel, das bei den Sinesern und Japanern sehr häufig gebraucht wird in: Engelbert Kaempfer, Geschichte und Beschreibung von Japan Lemgo: Meyer, 1777–79:429–41 4. Ten Rhyne W. Dissertatio de Arthritide: Mantissa Schematica: De Acupunctura: Et Orationes Tres. London: Chiswell, 1683 5. Societas Jesu (Hrsg). Vocabulario da Lingoa de Iapam. Nagasaki: Collegio de Iapão da Companhia de IESV. (facsimile: 1976, Benseisha, Tokyo), 1603 (Supplemento, 1604) 6. Shirasugi Etsuo. Senki to Edo-jidai no hitobito no shintaikeiken (Senki und die Körpererfahrung der Menschen in der Edo-Zeit). Rekishi no naka no yamai to igaku (Medizin und Krankheit in der Geschichte). Kyōto: Shibunkaku Shuppan, 2001:63−92 7. Dohm CW (Hrsg). Engelbert Kaempfer, Geschichte und Beschreibung von Japan. Lemgo: Meyer, 1777–1779 8. Komatsu Kiyokago. Isei Nagata Tokuhon-den [Biographie des verehrungswürdigen Arztes Nagata Tokuhon]. Tokyo: Kyōeidō, 1900. Komatsu Kiyokago (Hrsg). Chisokusai Nagata sensei ikō [Hinterlassene Manuskripte des Lehrers Nagata]. Tokyo, 1900 9. Watanabe Hidetomi. Gōrui shimpō kika (Geordnete Raritäten der Nadelverfahren). (s. l.), 1680 10. Sugiyama-kengyō itoku kenshō-kai (Hrsg). Sugiyama-kengyō denki (Biographie des Lehrinspekteurs Sugiyama). Tokyo, 1970 11. Matsumoto K, Birch S. Hara. Diagnosis − Reflections on the Sea. Brookline, Mass.: Paradigm Publ, 1989:29 f. 12. Sugiyama-kengyō itoku kenshō-kai (Hrsg). Sugiyama-ryū sanbu-sho (Sugiyama Therapien in drei Teilen). Tokyo, 1932 13. Dohm CW (Hrsg). Vorrede des Verfassers, LXVII−LXVIII in: Engelbert Kaempfer, Geschichte und Beschreibung von Japan. Lemgo: Meyer, 1777–1779 14. Dohm CW (Hrsg). Beweis, daß im Japanischen Reiche aus sehr guten Gründen den Eingebornen der Ausgang, fremden Nationen der Eingang, und alle Gemeinschaft dieses Landes mit der übrigen Welt untersagt sey. In: Engelbert Kaempfer, Geschichte und Beschreibung von Japan. Lemgo: Meyer, 1777–1779: 394−14 15. Dohm CW (Hrsg). Von der bei den Japanern üblichen Kur der Kolik durch die Akupunktur oder das Stechen mit der Nadel. In: Engelbert Kaempfer, Geschichte und Beschreibung von Japan. Lemgo: Meyer, 1777–1779:423−8 16. Heisters L. Chirurgie, In welcher alles, was zur Wund-Artzney gehöret, nach der neuesten und besten Art, gründlich abgehandelt. Nürnberg: Johan Hoffmanns seel. Erben, 1724 (2. Aufl.) 17. Stahl GE. Über den mannigfaltigen Einfluß von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper. Über die Bedeutung des synergischen Prinzips für die Heilkunde (1695). Über den Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus (1714). Eingeleitet, ins Deutsche übertragen und erläutert von Bernward Josef Gottlieb. Leipzig: Barth, 1961 18. Storchen J (Hrsg). Herrn Georg Ernst Stahls Königl. Preußischen Hof-Raths und Leib-Medici, Collegium casuale magnum. Leipzig: Caspar Jacob Eyssel, 1728

Autoreninformation (STRICTA recommendations) Wolfgang Michel (Michel-Zaitsu), geb. 09.06.1946 Frankfurt am Main Studium der Ostasiatischen Sprach- und Kulturwissenschaften, M.A. (J. W.Goethe-Universität, Frankfurt a. M.), Ph.D. (Cultural Sciences, Staatl. Universität Okayama) Staatl. Universität Kyushu, Fukoka, Japan: Dozent (1974), Ass. Professor (1984), Professor (1995), Dekan (2008–2010), Vizepräsident (2009–2010) Forschungsmitglied Kenikai Library Trust, Tokyo (2011–) Wissenschaftlicher Förderpreis der Japanese Society for Medical History (1996) Bundesverdienstkreuz am Bande (2004) Vorstandsmitglied der Japanese Society for the History of Medicine (2000–2008), Mitglied des permanenten Exekutivvorstands (2008-) Forschungsgebiet: Geschichte des euro-asiatischen Kulturaustauschs; Medizin und verwandte Wissenschaften in der Geschichte der Kulturkontakte zwischen Europa und Ostasien

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