Flora (1995) 190 45-64 ©by Gustav Fischer Verlag Jena
Morphologie der Wei8tanne (Abies alba MILL.)
I. Architekturkonzept und Bauelemente des SproBsystems Morphology of Silver fir (Abies alba MILL.) I. Concept and elements of tree architecture Von
FRANZ GRUBER
Forstbotanisches lnstitut, Universitiit Gottingen, Biisgenweg 2, D-37077 Gottingen, Deutschland Accepted: July 27, 1994
Summary The concept of ecological morphology of woody plants is based both on the exact description of single structural elements and architecture. These must be described under optimal environmental conditions (ideal phenotype) as well as on variations in the ideal phenotype induced by changes in the environment (modifications). The latter result in degeneration and subsequently deviation from the ideal type. Through regeneration and reiteration trees can grow back to a form approaching the ideal type. A whole plant approach is followed in which morphology dependent on ontogeny and the environment (genetic-environment interaction) is presented. Morphological and anatomical investigations on the trunk, crown and needles were carried out on 100-130 year old fir trees from Yugoslavia (Pokljuka) and the Black Forest as well as on young firs. The most important results are as follows: In fir the terminal bud has a simple anatomy (bud category 1) with a developmental cycle of a single period. In lateral buds, regularly sprouting buds and suppressed buds (proventitious buds), can be distinguished both morphologically and phenologically. For spruce the morphogenetic cycle of the regular bud can be divided into three phases; the growth phase I (bud scale formation), growth phase II (formation of needle primordia) and the dormant phase (overwintering of the buds). The shoot and needle development from regularly developed buds can be distinguished on the basis of the phyllochrone (dormancy period) between the premature (proleptic), the normal (regular) and retarded (proventitious) differentiation. In young fir trees the regular shoot development predominates, whereas in older trees the proventitious shoot development is most common. The regular annual shoot of fir can be divided into a stunted and elongated shoot part. The elongated part can be subdivided into a distal regularly sprouting bud area and a proximal area of suppressed buds. The branch development of the annual shoots is acrotonous, the growth is monopodia! (distally oriented shoot development). The subsequent shoot development results from proventitious buds on the stems as well as from buds in the primary crown. Due to this the twigs and branches can be put back on the dormant axes (proximally oriented shoot development). The proventitious branches in the primary crown are formed from proventitious buds mainly in first and second order axes and epitonously. Using the proventitious branches on the trunk firs can develop a completely new and "basally transferable" (towards the roots) crown (proventitious secondary crown). This can be formed as light-adapted or as shade-adapted crown. The proventitious shoots serve as substitutes for insufficient crown parts, the regeneration of the crown, the adaptation of the crown to develop an optimal form for the given environmental conditions and also to exploit the light in favourable growth phases. The flowers and inflorescences are formed as preformed structural elements. The male flowers are developed medially and hypotonously on the shoots of higher order. The female inflorescences are developed medially and epitonously on axes of first and second order. In young firs the angle at which the axes of first order grow is on average 67°. The needle form and in particular the needle tip, changes in dependence upon the shoot order (topophylly). The anatomy of the abscission zone of fir needles is described. The fir needle sits directly on the cork layer, which is a single period active bark periderm of the shoot axis in this area. In contrast to spruce, needle fall does not follow the rhexolytic shrinking mechanism. Key-words: elements of tree architecture, branching modes, flexibility, morphogenetic cycle, proventitious shoot, regeneration FLORA (1995) 190
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1. Einleitung Geholze sind im hohen MaBe flexibel. Ihre Flexibilitat wird neben den genetisch bedingten Eigenschaften wesentlich durch zwei Prozesse ermoglicht: 1. durch die Veranderungen der Differenzierungsvorgange von Nadeln, Trieben und Wurzeln, 2. durch die Belaubung, sowie durch den Verlust und die Regeneration von Trieben und Wurzeln. Die Anpassung vollzieht sich zum einen im Rahmen der jeweils spezifischen Reaktionsnorm von Wachstums- und Differenzierungsvorgangen, zum anderen auch iiber Anderungen morphologischer Eigenschaften, d. h., iiber die Flexibilitat des Kormos. In einer Zeit, in der okologische Fragestellungen im Hinblick auf anthropogene Veranderungen von Waldokosystemen immer bedeutungsvoller werden, ist die Erforschung der Anpassungserscheinungen und der (morphologischen und physiologischen) Flexibilitat der Geholze, die sozusagen ihr Verhalten in ihrer Umwelt widerspiegeln, dringend erforderlich. Solche Anpassungserscheinungen sind an der Baumarchitektur und insbesondere am Regenerationsverhalten ablesbar. Voraussetzung dafiir ist aber die Kenntnis der bauplanbedingten Elemente und Eigenschaften. Bislang gibt es nur sehr wenige Untersuchungen, die sich mit der Morphologie (BussE 1893; HEMPEL & WILHELM 1893) und morphologischen Flexibilitat der WeiBtanne (Abies alba) auseinandersetzen. Ein ganzheitliches Bild der morphologischen Eigenschaften eines vitalen Baumes iiber die gesamte Onto genese hinweg bildet jedoch die Basis, urn Veranderungen festzustellen und eventuelle EinfluBfaktoren abschatzen zu konnen. Im folgenden werden daher Grundlagen der Kronenmorphologie und -regeneration bei der Tanne aufgezeigt.
2. Das Konzept der okologischen Geholzmorphologie Voraussetzung fiir den Erfolg der okologischen Geholzmorphologie ist die genaue Kenntnis der Bauplane der Geholze. Unter definierten Umweltbedingungen (z. B. optimalen Wachstumsbedingungen) kann die Expression des Genotyps iiber die gesamte Ontogenese hinweg als der Bauplan (definierte Serie von Phanotypen in sukzessiven ontogenetischen Stadien = idealer Phanotypus) einer Spezies definiert werden. Ein solcher Bauplan setzt sich aus den zueinander in raumlicher und zeitlicher Beziehung stehenden Bauelementen zusammen, die in Abhangigkeit vom Ge46
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holzalter ganz bestimmte Eigentiimlichkeiten aufweisen (Bauplanarchitektur). Dabei kann man zwischen den stabilen und flexiblen (labilen) Elementen und Verhaltensweisen unterscheiden. Zu den wesentlichen Bauelementen und -eigenschaften des SproBsystems zahlen die Knospen (Anzahl, Verteilung, Art, Aufbau), Verzweigungseinheiten (vegetative, generative, gemischte), der morphogenetische Zyklus, die Triebbildungarten (proleptische, regulare und proventive) die Langssymmetrie (Akrotonie, Mesotonie, Basitonie), die Quersymmetrie (Epitonie, Hypotonie, Amphitonie), die Phyllotaxis und Knospenstellung (Dispersion, Decussation, Distichie etc.), die Art des Spitzenwachstum an den Haupt- und Seitenachsen (Monopodium, Sympodium), die Wuchsrichtung der Achsen in unterschiedlichem Baumalter (Achsenwinkel, geotropischer Winkel), das Ordnungssystem (Anzahl der Triebordnungen), die Lange der Zuwachseinheiten, Jahrestriebe und Internodien die Kurz- und Langtriebe, die Blattzahl und Blattform (Blattdichte, -groBe), die Lebensdauer des Blattes. Fiir das Wurzelsystem lassen sich ahnliche Bauelemente und -eigenschaften definieren (GRUBER 1992). Dies sind z. B. die Spitzenmeristeme, die Rhizotaxis, die Verzweigungsweise und das Spitzenwachstum (meist Monopodium) die Wuchsrichtung, die Anzahl der Wurzelordnungen (Ordnungssystem), die Wurzelarten (Lang-, Kurzwurzeln, verholzte, unverholzte Wurzeln, Mykorrhiza etc.), die Entstehungsweisen (regelzeitige, nachzeitige, wurzel- und sproBbiirtige Wurzelbindungen etc.), Lebensdauer der Adsorptionswurzeln. Die Zusammenfassung der Bauelemente laBt sich in einfachen (s. HALLE et al. 1978) oder erweiterten Bau- oder Architekturmodellen darstellen, die dann die Bezugsbasis fiir Vergleichsbetrachtungen sind. Das Baumodell kann aber durch Umwelteinfliisse modifiziert werden. Modifikationen sind somit die morphologischen (zeitlichen und strukturellen) Abweichungen vom idealen Phanotyp. Derartige Pha-
notypen werden unter der realen Architektur zusammengefaBt und mit dem Baumodell verglichen. Gerade die Modifizierungen stehen im Mittelpunkt der okologischen Morphologie. Denn durch die Modifikationen ist es moglich, auf gewisse Umwelteinfliisse zuriickzuschieBen. Modifizierungen kommen einerseits durch Veranderungen der flexiblen Merkmale und Bauelemente, anderseits durch Nichtausbildung, Unterdriickung oder Verlust stabiler Merkmale und Bauelemente zustande. Die wichtigsten, sehr auffalligen Veranderungen bei den flexiblen Merkmalen und Eigenschaften sind z. B. bei den monopodia! wachsenden Geholzen innerhalb des SproB-Verzweigungssystems: sympodiale Triebbildungen, erhohte Anzahl der Triebordnungen, Anderungen der Wuchsrichtung der verschiedenen Achsen (z. B. Neigungswinkel der Seitenachsen 1. Ordnung), auffallige Anderungen der Trieblangen (z. B. Biirstentriebe ), alle Ersatztriebbildungen aus regular angelegten Knospen (Embryonal-, Regular-, Proventivknospen) und adventiven Anlagen nach vorausgegangenem Verlust von Zweigen und Blattern, d. h. alle Regenerationserscheinungen. Dazu zahlen insbesondere die Polykladien (s. GRUBER 1987 c) und Sekundarkronen, Veranderungen in der Blattzahl bzw. Blattdichte (I nternodienanzahl und -abstande), Blattverfarbungen, Blattlebensdauer. Beim Wurzel-Verzweigungssystem sind es z. B. sympodiale Verzweigungen, Richtungsanderungen des Spitzenwachstums, Hemmung des geotropen Wachstums (unzureichende TiefenerschlieBung) alle Ersatzwurzelbildungen (adventive und latente Wurzelbildungen) und modifizierten Verzweigungsmuster (GRUBER 1992). Die Quantifizierung dieser Merkmale wird dann zu einer Synthese benutzt, urn von der realen Architektur des Geholzes Riickschliisse auf die Umweltbedingungen zu ziehen. AuBerdem sind bei Kenntnis der spezifischen Reaktionsnormen die Verhaltensweisen der Geholze auf spezifische Umweltsituationen abschatzbar. Die Morphologie der Geholze ist noch sehr unzureichend erforscht. Aus diesem Grund muB es Ziel sein, das Geholz in seiner Ganze und als Individuum mit sich anderndem Habitus und sehr verformbarer Gestalt in Abhangigkeit von seiner Umwelt zu erfassen und zu begreifen.
3. Material und Methoden Die morphologischen Untersuchungen zur Kronenarchitektur wurden an 100 bis 130 Jahre alten Tannen aus Jugoslawien (drei ca. 100 Jahre alte Tannen vom Pokljuka(/NW-Slowenien, 15 km sudwestlich von KrnicajBled) und aus dem Schwarzwald (vier 100 Jahre alte Tannen bei Wehr, Beobachtungsflache 25; fiinf 120-130 Jahre alte Tannen bei Mullheim, Beobachtungsfliiche 35/Kiilberlescheuer; zwei 110 Jahre alter Tannen bei Freiburg und eine 115 Jahre alte Tanne bei Tannenbach/Laber) durchgefiihrt. Fur die Untersuchung des Knospenaufbaus wurden 5-10 Jahre alte Tannen verwendet, die einerseits aus dem Schwarzwald (bei Tannenbach/Laber) stammten, andererseits im Forstbotanischen Institut der Universitiit Gi:ittingen angezogen wurden. Von 30 funfjiihrigen Tannen wurden die Endknospen der Stamm-(T 0 - )achsen im Hinblick auf die Anzahl der Knospenschuppen und den Aufbau des Embryonaltriebes (Anzahl der Nadelprimordien, Phyllotaxis) unter einer Stereolupe (Zei/3) untersucht. Weiterhin wurden die Achsenwinkel mit Hilfe eines Winkelmessers bestimmt. Der Achsenwinkel (BURTT 1899) ist der Winkel zwischen der T 0 - und der S 1 -Achse ( = Seitenachse 1. Ordnung) am jungsten ,Quirl". Fur die Untersuchung des anatomischen Aufbaus und der Entwicklung der Trennzone wurden Nadeln am diesjiihrigen Trieb (terminale Knospen an S 1 -Achsen) in unterschiedlichen Entwicklungsstadien und Nadeln von ein- bis mehrjiihrigen Trieben gesammelt und in AFE (AthanolFormaldehyd-Eisessig) fixiert. Bei der Herstellung der in Kunststoff eingebetteten anatomischen Priiparate wurde die bei GRUBER (1987 a) beschriebene Methode angewendet.
4. Bauelemente und Baueigenschaften des SproBsystems Die individuelle Ausgestaltung eines Verzweigungssystems wird zum einen durch die Verschiedenheit (z. B. Anzahl, Form, Farbe etc.) der stabilen Bauelemente gepragt, zum anderen durch die Veranderlichkeit der labilen (flexiblen) Baueigenschaften. Sowohl die stabilen als auch die labilen Bauelemente konnen iiber U mwelteinfliisse verandert werden. Die Analyse iiber das AusmaB und die Tntensitat der Veranderungen laBt dann eine Eingrenzung der hierfiir verantwortlichen Ursachen zu. Urn Veranderungen iiberhaupt definieren zu konnen, ist es wichtig, die Auspragung der Bauelemente in verschiedenen ontogenetischen Stadien einer Baumart unter optimalen Umweltbedingungen genau zu kennen. Da diese Kenntnis fiir viele Geholze noch sehr liickenhaft ist, soli im folgenden auf die wesentlichen Bauelemente und -eigenschaften im SproBsystem von Abies alba eingegangen werden. FLORA (1995) 190
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4.1. Die Triebknospen
4.1.2. Aufbau der ruhenden Seitenknospen
4.1.1. Aufbau der Terminalknospe
Bei den ruhenden Seitenknospen sind vom morphologischen und anatomischen Aufbau und vom Austriebverhalten her zwei Typen zu unterscheiden (s. Abb. 2, 3):
Die terminale Winterknospe (eines 30-40 em Iangen Terminaltriebes) besteht aus 80-120 Knospenschuppen, welche den Embryonaltrieb schiitzend einhiillen. Dieser tragt 300-400 Nadelanlagen, die wie bei der Fichte nach der Limitdivergenz (s. GRUBER 1986) spiralig angeordnet sind. Der EmbZIMMERMANN ryonaltrieb (embryonic shoot: & BROWN 1974) tragt distal den Apex und hat an seiner Basis die Kollenchymplatte (KORODY 1937) differenziert. Dazwischen befindet sich der Primordienkorper mit den griinen Nadelprimordien. Unter der Kollenchymplatte entsteht die Markhohle, welche die Grenze zwischen zwei aufeinanderfolgenden Langenzuwachsen - auch noch an alten Stammen - anatomisch anzeigt (Abb. 1). Im Gegensatz zu BussE (1893) konnten in den Winterknospen keine seitlichen Knospenanlagen festgestellt werden.
1. die iiber den Winter ruhenden, regular austreibenden (gemmae normales, WILLKOMM 1887), akroton geforderten und mit bloBem Auge gut sichtbaren Knospen (Abb. 3 a) und 2. die iiber mehrere Perioden ruhenden, unterdriickten, kleinen warzenformigen Knospen, die in der Regel nicht im Folgejahr ihrer Anlage austreiben, also Proventivknospen (gemmae proventitiae, WILLKOMM 1887) sind und gewohnlich etwa in der unteren Halfte des Jahrestriebes vorkommen konnen (Abb. 3 b). Die regular austreibenden Seitenknospen eines Jahrestriebes sind ahnlich aufgebaut wie die Terminalknospe. Sie unterscheiden sich von der Terminalknospe im wesentlichen durch die heiden Prophylle
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Abb. 1. Jahrestriebbildung: Zusammenhang zwischen dem Aufbau der Winterknospe und dem Jahrestrieb (rein und gemischt) NAIT = Nadelinsertions-Triebabschnitt, KSIT = Knospenschuppeninsertions-Triebabschnitt, NF =Neoformation, PF = Priiformation, Ks = Knospenschuppen, ET = Embryonaltrieb, Mh = Markhohle, Ma = Markgewebe, Co = Kollenchymplatte. 48
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Abb. 2. Knospenverteilung und reguliire Verzweigung des Jahrestriebes a = apikal, s = subapikal, m = medial, b = basal, t 1 = KSIT, t 2 = NAIT, T 0 = Terminaltrieb nullter Ordnung, rA = reguliirer Austrieb, uA = unterdriickter Austriebbereich.
(s. GoEBEL 1933) und die GroBe. Liings des Jahrestriebes nimmt ihre GroBe und die Anzahl ihrer Nadelprimordien aufgrund der Akrotonie in basipetaler Richtung ab (,Knospenakrotonie"). Die iiuBeren Knospenschuppen liegen dachziegelartig iibereinander. Die basalen und ein Teil der medialen Knospen konnen als Proventivknospen mehrere bis viele Jahre ausharren, ehe sie sich zum Trieb entwickeln. Solche Proventivknospen, die immer in den Achseln eines Nadelblattes angelegt werden und iiber die primiire Triebspur mit dem Mark des Triigertriebes in Verbindung stehen, sind sehr klein und unauffiillig; sie bestehen aus den beiden Prophyllen und kleinen, dreieckformigen, verkorkten Knospenschuppen, hochstens einigen wenigen undifferenzierten Blattanlagen und dem Apex (Abb. 4). Ein griiner Primordienkorper mit griinen Nadelanlagen - wie er bei regular austreibenden Knospen zu finden ist, fehlt oder ist unterentwickelt. Dieser wird in der Regel erst im J ahr vor der Entwicklung des proventiven Start-
triebes gebildet, so daB dann eine priiformierte Triebbildung vorliegt. Die Knospenschuppen lassen nicht die dachziegelartige Anordnung erkennen. Neben den ruhenden Seitenknospen konnen vom Austriebverhalten her noch die ,Embryonalknospen" (Knospen in verschiedensten Entwicklungsstadien: umfaBt alle Auspriigungen vom aktiven Apex bis hin zur fast vollstiindig ausgereiften Winterknospe) unterschieden werden. Aus ihnen gehen die proleptischen Triebe hervor.
4.2. Morphogenetischer Zyklus der ReguHirknospe Die Bildung der Reguliirknospe und deren Streckung zum Reguliirbetrieb verliiuft iihnlich wie bei der Fichte (GRUBER 1986, 1987 a). Im Jahr x wird die Knospe aufgebaut. Sie streckt sich im Jahr x + 1 zum FLORA (1995) 190
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Abb. 3. Seitenknospen am S 1 -trieb: a) regular austreibende Seitenknospen (Kr), b) unterdriickte Knospen (Proventivknospen = Kp).
Jahrestrieb, der in den meisten Fallen vollkommen praformiert ist (s. Abb. 7). ReguHirtriebe entstehen also aus einmal iiberwinternden Regularknospen (Winterknospen). Aufgrund dieser Entwicklung (eine Vegetationsperiode lang) und ihres einfachen Aufbans zahlt die Tannenknospe wie die Fichtenknospe zur Knospenkategorie 1. Regularknospen, die zwei Vegetationsperioden zu ihrem Aufbau benotigen und einen komplizierteren Aufbau zeigen, wie z. B. die von der Buche und Eiche, zahlen zur Knospenkategorie 2 (s. GRUBER 1992). Die Bildung der Knospe beginnt mit der Zellteilungsaktivitat des Spitzenmeristems in der Wachstumsphase I. Hier werden die Knospenschuppenanlagen induziert, die sich sofort zu den Knospenschuppen entwickeln und am ausgebildeten Jahrestrieb den gestauchten Knospenschuppenabschnitt bilden. Die Wachstumsphase I dauert etwa von Anfang/Mitte April bis Ende Juni. In der Wachstumsphase II (Anfang/Mitte Juli AnfangjMitte Oktober) werden die Nadelprimordien angelegt. Sie verharrenjedoch im Primordienstadium und entwickeln sich erst im Folgejahr zu den Nadeln. 50
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Danach tritt die fertige Winterknospe in die Rubephase (Mitte Oktober- Mitte/Ende Marz).
Abweichungen von diesem regularen Knospenund Triebdifferenzierungsmuster fiihren zu den vorzeitigen und nachzeitigen Triebbildungen.
4.3. Der Jahrestrieb 4.3.1. Definition und Arten des Jahrestriebes Als Jahrestrieb wird die in einer Vegetationsperiode entstandene vegetative Liingenzuwachseinheit definiert, wobei die Basis des Triebes durch den gestauchten Knospenschuppenabschnitt gebildet wird. Beziiglich des nadeltragenden Triebabschnittes sind reine und gemischte Jahrestriebe zu unterscheiden (s. Abb. 1, 2). Reine Jahrestriebe sind gewohnlich als Winterknospe vollkommen priiformiert (Reguliirtriebe, z. T. Proventivtriebe). Es gibt aber auch reine neoformierte Triebe, wie z. B. die aus der Plumula sich entwickelnden ,Epikotyle" der Keimlinge. Als ,prafor-
1 mm
I
Abb. 4. Uingsschnitt durch die Proventivknospe a) Proventivknospe in der Achsel einer Nadel, b) Autbau der Proventivknospe.
mierte" Blatter werden solche bezeichnet, die bereits
in der Winterknospe als Primordien angelegt waren und erst nach der Winterperiode als Battorgane ausdifferenziert werden. ,Neoformierte" Blatter hingegen sind solche, die im laufenden J ahr angelegt und bereits als Blattorgane ausdifferenziert werden (beachte Unterschied zu HALLE et al. 1978). Gemische Jahrestriebe setzen sich aus einem praformierten Triebteil und aus (einem) neoformierten Triebteil zusammen.
4.3.2. Organisation des pdiformierten Jahrestriebes Der J ahrestrieb der Tanne gliedert sich wie bei der Fichte in einen gestauchten Knospenschuppen-Triebabschnitt und einen gestreckten Nadel-Triebabschnitt (s. Abb. 1, 2). Uber dem gestauchten Knospenschup-
pen-Triebabschnitt, der sich an jiingeren Trieben durch das Vorhandensein der Knospenschuppen, an alteren Trieben durch die Triebbasisrillen (Knospenspur: s. BERTHOLD 1904) abzeichnet, ist dasjahrliche Langenwachstum in der Krone (an Achsen 1., 2. und 3. Triebordnung) sehr eindeutig und sogar am Schaft bis auf wenige Meter iiber dem Wurzelanlauf meist auch noch sicher verfolgbar. Im jiingeren Teil des Stammes zeichnen sich die Triebbasisrillen immer oberhalb des Astequirls ab. Zum alteren Teil des Stammes hin wandert diese Markierung zwischen den benachbarten QuirHisten allmahlich unter die Astquirle, so daB diese scheinbar an der Basis und nicht an der Spitze der jeweiligen T 0 -abschnitte stehen (Abb. 5). Diese scheinbare Verschiebung der Triebbasisrillen kommt durch das zunehmende Dickenwachstum der T 0 -achse und der Quirlaste zustande. In Wirklichkeit liegt aber der FLORA (1995) 190
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Abb. 5. Jahrestriebgrenze am Stamm der Tanne (,Astquirl" und Triebbasisrillen).
Ks
Schnittpunkt der Astachsen wie bei einjahrigen Quirlasten unterhalb der Triebbasisrillen (Abb. 6) bzw. unterhalb der Markhohle. Hinsichtlich des Austriebverhaltens gliedert sich der Nadel-Triebabschnitt in einen distalen, regular austreibenden und einen proximalen, unterdriickten Knospenbereich. Der unterdriickte Knospenbereich kann individuell und in Abhangigkeit von der Triebordnung und Trieblange variieren; er ist urn so kleiner, je wiichsiger der Trieb ist. Hinsichtlich ihrer Stellung langs des (regularen) Nadel-Triebabschnittes lassen sich die radiar angeordneten Knospen in subapikale, mediale und basale Seitenknospen gliedern. Die gro13en subapikalen Seitenknospen von T 0 -trieben, die bei jungen Tannen in einer Anzahl von meist 4- 6, bei alten Tannen zwischen 2-4 vorkommen, stehen kranzformig nahezu in einer Ebene, unmittelbar unterhalb der kegel- bis kuppenformigen Terminalknospe angeordnet. Die medialen Seitenknospen, die langs des Triebes regellos verteilt sind, konnen in Abhangigkeit von der Topographie als regular austreibende oder als unterdriickte Knospen angelegt sein. Die basalen Knospen stehen entweder in den Achseln der untersten Nadeln oder jiingsten Knospenschuppen und sind meist als Proventivknospen angelegt. Prinzipiell ist jeder Trieb in allen Triebordnungen gleichartig aufgebaut. Mit hoherer Triebordnung andert sich die Anzahl und Funktion der Seitenknospen. Die Akrotonie ist zunehmend strenger ausgepragt, so da13 die Seitentriebe hochster Ordnung nur noch terminal austreiben. Im Vergleich zur Fichte kommen bei der Tanne an vergleichbaren Trieben weniger mediale und basale Knospen vor. Auch der fur die Fichte so typische basale Knospenkranz ist bei der Tanne nicht ausgebildet.
A
I Abb. 6. Scheinbare Verschiebung der Triebbasisrillen (Jahrestriebgrenze) mit zunehmendem Dickenwachstum A = Astachse, Ks = Knospenschuppen, Tbr = Triebbasisrillen. 52
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4.4. Die Verzweigungsweisen Vegetative Verzweigung (Trieb- und Nadeldifferenzierung) 4.4.1.1. Grundsatzliches und Definitionen Grundsatzlich kann man dabei nach einer zeitlichen Klassifizierung beziiglich der Friihjahrstriebbildung aus regular austreibenden Knospen der Kategorie 1 (s. GRUBER 1992) drei Triebbildungsarten unterscheiden, namlich die vorzeitigen (proleptischen = antizipierten: s. RossMASSLER 1863; TROLL 1948; GRUBER 1986, 1989), die regelzeitigen (reguHiren) und die nachzeitigen (proventiven) Trieb- und Nadeldifferenzierungen. Diese Triebbildungen unterscheiden sich durch den unterschiedlichen Zeitabstand der zwischen der Induktion der Knospen- bzw. Blattanlage und deren Ausdifferenzierung zum Trieb bzw. Blatt liegt. Dieser Zeitabstand soli als ,Phyllochron" ( = Ruhezeit zwischen Knospenanlegung und Triebbildung) definiert werden. Vorzeitige Triebbildungen konnen grundsatzlich an allen Knospenpositionen entstehen (trauma tisch), normal aber nur an regular austreibenden Knospenpositionen mit giinstiger Topographie (akrotone Forderung, niedrige Triebordnung, kurze Transportwegstrecke zwischen Wurzel und Sproi3). Nachzeitige Triebbildungen entwickeln sich aus unterdriickten Knospen mit ungiinstiger Topographie (basitone Hemmung, auch an hoheren Triebordnungen und bei langeren Transportwegstrecken). Im folgenden wird ein Begriffssystem verwendet, das sich vom morphogenetischen Verstandnis der Knospen- und Triebentwicklung ableitet und deshalb die unterschiedlichen Triebbildungen in einem zeitlichen Kontinuum und in Abhangigkeit von der Ontogenese, Topographie und dem Induktionszeitpunkt darstellt (vgl. GRUBER 1986, 1989). Die Unterschiede in der Morphologie und die Dynamik der Triebdifferenzierungen in Abhangigkeit von Umwelteinfliissen werden dadurch verstandlich. In der Abb. 7 ist der Zusammenhang zwischen Blattinduktion und Blattausdifferenzierung dargestellt. Ist das im Jahr x auftretende Phyllochron sehr kurz bzw. erfolgt die Induktion zur Blatt- und Triebbildung aus neu angelegten Primordien sehr friih in der Vegetationsperiode, so entstehen die friihproleptischen Triebteile (lateral: bisher als Syllepsis, terminal: bisher als freies Wachs tum benannt). Bei im Jahr x auftretenden langeren Phyllochronen kommt es zu den spatproleptischen Trieben, die im Gegensatz zu den friihproleptischen Trieben an ihrer Triebbasis zuerst Knospenschuppen differenzieren.
Dauert das Phyllochron bis ins Jahr x + 1, dann entstehen die regularen Triebe. Aus unterdriickten Knospen mit Ianger andauernden Ruhezeiten entwickeln sich die proventiven Triebe. Vorzeitige (proleptische) Triebbildungen entstehen aus denim Jahr x angelegten Blattprimordien, die im gleichen Jahr zu reifen Nadeln ausdifferenzieren. Hierbei lai3t sich in Abhangigkeit vom Induktionszeitpunkt grob zwischen den friihproleptischen und spatproleptischen Triebdifferenzierungen (GRUBER 1986, 1989) unterscheiden. Bei den friihproleptischen Triebdifferenzierungen werden die in der Wachstumsphase I vom Vegetationskegel zuerst induzierten Primordien sofort zu reifen Nadeln - und nicht etwa als Knospenschuppen ausdifferenziert (Neoformation II). Die Bildung von Knospenschuppen und iiberwinternden Nadelprimordien (Winterknospe) aus dem gleichen Vegetationskegel setzt erst spater in der Vegetationsperiode ein, weshalb derartige Knospen nur unvollkommen ausgereift sein konnen. Solche Triebe, die sowohl aus terminalen als auch a us lateralen Meristemen entstehen konnen, sind morphologisch durch das Fehlen von Knospenschuppen an ihrer Basis gekennzeichnet. Da sich dort N adeln entwickeln, werden die Internodien gestreckt, wobei das erste besonders lang sein kann und bei Seitensprossen als Hypopodium (TROLL 1948) bezeichnet wird. Fiir die laterale Friihprolepsis konnte man auch den BegriffSyllepsis (sensu SPATH 1912; HALLE et al. 1978) synonym verwenden; denn die Seitentriebe entwickeln sich zusammen mit der Mutterachse. SPATH (1912) bezeichnet solche Seitentriebe, die keine Knospenschuppen an der Triebbasis ausbilden, als sylleptisch. Hier mui3 jedoch darauf hingewiesen werden, daB dieser Zusammenhang in dieser Form in vielen Fallen nicht besteht, denn viele Baumarten, die iiberhaupt keine Knospen mit Knospenschuppen bilden (z. B. Araucaria, die Cupressaceae, Seitensprosse von Taxus aus latenten Meristemen), haben auch keine Knospenschuppen an der Basis von reguliir oder nachzeitig austreibenden Seitensprossen ausgebildet. Das Fehlen von Knospenschuppen an der Triebbasis von Seitensprossen ist also kein ausreichendes Kriterium fiir sylleptische Triebe. Friihproleptische Triebe konnen einige Dezimeter lang werden und deshalb viele Nadeln tragen. Bei den spatproleptischen Triebbildungen werden zunachst die in der Wachstumsphase I zuerst induzierten Primordien zu Knospenschuppen entwickelt. Ein Teil der in der weiteren Folge induzierten Primordien wird aber noch im gleichen Jahr zu Nadeln ausgebildet, wobei diese erst nach einem kurzzeitigen Primordienstadium ausdifferenziert werden konnen (Neoformation I oder Triebbildung aus einer bereits weit entwickelten Embryonalknospe). Im Anschlui3 FLORA (1995) 190
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Di f f e r e n z i e r u n g s · a h r
J a h r
X +
X
tSPro
1 = lateral
t = terminal FPro = Fruhprolepsis SPro = Spatprolepsis Kn = Knospe R = Regulartrieb P = Proventivtrieb
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MD R P H D G E N E T I S C H E R Z Y K l U S D E R KNDSPENSCHUPPENBILDUNG
Winterknospe I Apex
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T A N N E
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Juni
Juli
Abb. 7. Zusammenhang zwischen Knospenentwicklung (Blattinduktion) und Triebausdifferenzierung (Prolepsis-, Regular-, Proventivtrieb) i = indefinitive Knospenschuppen, d = definitive Knospenschuppen.
daran werden die Knospenschuppen und ruhenden Nadelprimordien der ,Winterknospe" gebildet, die aufgrund der kiirzeren Entwicklungszeit unvollkommen ausgereift sein kann. Auch hier konnen terminale und laterale spatproleptische Triebe unterschieden werden. Spatproleptische Triebe sind morphologisch durch viele Knospenschuppen an der Triebbasis und wenige Nadeln (kurzer Nadel-Triebabschnitt) gekennzeichnet. Zwischen den Iangen friihproleptischen (Triebe ohne Knospenschuppen und mit vielen Nadeln) und kurzen spatproleptischen Trieben (Triebe mit vielen Knospenschuppen und wenigen Nadeln) konnen aile Ubergangsformen von proleptischen Trieben mit entsprechend wenigen bis mehreren Knospenschuppen und mehreren bis wenigen N adeln gebildet werden, also alle Triebbildungen a us mehr oder weniger weit entwickelten Embryonalknospen (metaproleptische Triebe). Proleptische Seitentriebe haben genauso viele Jahresringe wie ihre Tragertriebe. ReguHire Triebe bilden sich vollstandig aus den einmalig iiberwinternden, im Vorjahr angelegten 54
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Knospen. Die im Jahr x gebildete Knospe differenziert also ihren Embryonaltrieb im Jahr x + 1 zum Trieb. Eine solche Triebbildung (Praformation I) ist eine Anpassung an ein ausgepragtes Jahreszeitenklima. Morphologisch betrachtet tragen Regulartriebe viele Knospenschuppen an der Triebbasis und viele Nadeln am gestreckten Triebabschnitt. Regulare Seitentriebe sind stets urn ein Jahr jiinger als ihre Tragertriebe; sie besitzen daher einen Jahresring weniger. Beiden nachzeitigen (proventiven) Triebbildungen werden Nadeln friihestens in der Vegetationsperiode x + 2 von der im Jahr x angelegten Proventivknospe gebildet (Praformation II). Dabei baut die Proventivknospe meist erst im Jahr vor der Triebbildung eine morphologisch erkennbar regular austreibende Knospe auf(aktivierte Proventivknospe). Ein praformierter Proventivtrieb durchlauft daher bis zu seiner Ausdifferenzierung folgende Phasen (Abb. 8): 1. die mindestens einperiodische, haufig jedoch mehrperiodische (mehrjahrige) Ruhephase als Proventivknospe,
P- knospe
P- knospe
ak. P - knospe
P- trieb
akti:vierte Proventivknospe
. JAHR
X
. x(+p)
x(+p)+l
x(+p)+2
p = Anzahl der zusatzlichen Ruhejahre a1s Proventivknospe P = Proventiv, ak = akti:viert Abb. 8. Entwicklungsgang des priiform1erten Proventivtriebs.
2. den Aufbau der regular austreibenden, aktivierten Proventivknospe 3. die stets einperiodische Ruhephase als aktivierte Proventivknospe und 4. Die Bildung des proventiven Starttriebes ( = erster Trieb aus der Proventivknospe, s.GRUBER 1987), welcher meist als sehr kurzer Trieb mit wenigen Nadeln differenziert wird.
Abb. 9. Einjiihriger Proventivtrieb an einer 16 Jahre alten Stammscheibe: die ,Proventivtriebspur" reicht bis zum zentralen Markgewebe.
Da bei der Proventivtriebbildung die regulare Triebbildung - jedoch urn die Ruhezeit als Proventivknospe verzogert - wiederholt wird, konnen die Proventivtriebe auch als Wiederholungstriebe (Reiterationen) an mehrjahrigen Trieben betrachtet werden. Neben der praformierten Proventivtriebbildung ist jedoch auch eine neoformierte Proventivtriebbildung moglich. Eine solche liegt vor, wenn sofort aus der Proventivknospe ein Trieb ausdifferenziert wird, ohne daB vorher eine aktivierte Proventivknospe mit Primordienkorper gebildet worden ist. Proventivtriebe sind min des tens urn zwei Jahre jiinger als ihre Tragertriebe. Die Anzahl der Ruheperioden kann iiber die Differenz der Anzahl an Jahresringen oder jahrlichen Langenzuwachsen (Jahresring- oder Trieblangenchronologie) vom Tragerund Proventievtrieb ermittelt werden. Der Proventivtrieb ist iiber die ,Proventivtriebspur" mit dem axialen Markgewebe des Tragertriebes verbunden (Abb. 9). Solange kein Austrieb aus der Proventivknospe erfolgt, ist diese Triebspur primar gebaut und weist deshalb an Holzelementen nur Schraubentracheiden auf. Erst mit dem Austrieb der FLORA (1995) 190
55
Tab. 1. Liingenentwicklung (aufsummierte Jahreszuwiichse jeweils von der Achsenspitze her) von T 0- und S1-Achsen (Quirle 1-10) einer Tanne mit Storchennest (s. Abb. 10). Achsen
1988
1987
1986
1985
1984
1983
To
16 16 22 20 17 18 18
23
29
41
51
60
34 28
44 33 45 38
49 64 53
82
15 14 18
25 23 30
35 30 40
50 43 56
s1 s1 s1 s1 s1 s1 s1 s1 s1 s1
(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10)
33 30 23
71
88
66 56
81 68 86
72
Proventivknospe wachst auch die Triebspur in die Dicke und nimmt AnschluB an das sekundare Holz des Tragertriebes. Wie hier dargelegt wird, konnen verschiedene Triebbildungen mit sehr unterschiedlichen Zeitabstanden zwischen der Anlage der Knospe bzw. des ersten Primordiums und der Ausbildung zum Trieb bzw. zur ersten Nadel auftreten. Diese Phyllochrone sind bei ungestortem Wachs tum von der Topographie (Langssymmetrie, Ordnungszahl, ontogenetisch bedingte Topographie bzw. Transportwegstrecke zwischen Wurzel und SproB) abhangig.
4.4.1.2. Die vorzeitige (proleptische) Triebbildung An natiirlich aufwachsenden und im Wachstum ungestorten WeiBtannen kommen proleptische Triebbildungen selten vor. Proleptische Triebe konnen sich jedoch an jungen wiichsigen Tannen adaptiv (unter optimalen Wachstumsbedingungen) bilden. Solche zusatzlichen Triebe, die nur an Terminaltrieben nullter Ordnung und meist spatproleptisch entstehen und dann akroton gefordert sind, werden oft nur sehr kurz. Dagegen konnen proleptische Triebe auch traumatisch, als schnelle Reaktion auf Zweig- und Nadelverluste hervorgerufen werden.
4.4.1.3. Die regelzeitige (regulare) Triebbildung Die regularen Triebe der Tanne werden durch ein alljahrliches, monopodiales und akroton gefordertes Wachstum erzeugt. Aus diesem Grund bestimmt die regulare Triebbildung das Langenwachstum beim jungen Baum und an der Kronenperipherie von alten Baumen. Da sich bei dieser Verzweigungsweise die 56
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1982
1981
1980
1979
70
83
95
109
98 83 102
118 102 121
124 142
163
Jahr
jiingsten Triebe von J ahr zu J ahr von ihrem U rsprung mehr und mehr entfernen, wird sie als distal gerichtete Triebinnovation bezeichnet (GRUBER 1987). Die regulare Verzweigung erfolgt nach der Darstellung in Abb. 2. Bis zu einem bestimmten Alter bildet die Terminalknospe normalerweise immer den langsten Trieb (Abb. 2). An alteren Tannen kann jedoch der Langenzuwachs der subapikalen Seitentriebe den der Stammachse iibertreffen (Tab. 1), ohne daB dabei die Apikalkontrolle iiber die Seitenaste verlorengeht. Die Seitengaste stehen in einem mehr oder weniger steilen Winkel schrag nach oben oder sie konnen auch bogenformig nach oben gerichtet sein (sekundare Orthotropie), ohne jedoch die Stammachse maBgeblich zu iibergipfeln. Es bildet sich das altersbedingte ,Storchennest" (Abb. 10), fiir dessen Entstehung bislang keine kausale Erklarung gefunden werden konnte. Die subapikalen Seitenknospen entwickeln sich zu Langtrieben, die fast in einer Ebene entspringen und nahezu waagrecht oder im spitzen Winkel schrag nach oben gerichtet sind. Die Achsen einjahriger und alterer Aste sind gerade oder nur Ieicht durchgebogen (plagiotrope Wachstumsweise). Auch bei der Tanne iibernimmt eine subapikale Seitenknospe die Rolle der Terminalknospe, wenn letztere ausfallt (Ersatzgipfelbildung: GOEBEL 1908; MUNCH 1938). Dies deutet z. B. im Gegensatz zu Araucaria heterophylla auf eine ,labile Plagiotropie" (s. TROLL 1937) der Seitenachsen 1. Ordnung hin. Die medialen Knospen bilden auffallig kiirzere Langtriebe und im Vergleich zur Fichte auch weniger haufig a us; teilweise sind sie als Proventivknospen angelegt. Im basalen Teil des Nadel-Triebabschnittes sind die Knospen normalerweise als Proventivknospen angelegt.
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Zapfenspindeln
Abb. 10. Abtlachung des Tannenwipfels (,Storchennestbildung"): Besseres Uingenwachstum der S 1 -achsen gegenuber der T 0 -achse (schematisch).
Die Achsen 1. und 2. Ordnung verzweigen sich ebenfalls monopodia! und akroton. Sie sind jedoch nicht radiar gebaut, sondern bilden Seitenzweige hauptsachlich an den Flanken. Dadurch entstehen die fiir die Tanne so typischen plattenformigen Verzweigungsstrukturen. An den Seitenachsen 1. Ordnung entwickeln sich zum Teil auch Triebe aus den subapikalen Seitenknospen auf der Unterseite. Die regulare Verzweigung hoherer Triebordnung erfolgt also amphi-/hypoton. 4.4.1.4. Die nachzeitige (proventive) Triebbildung Ebenso wie bei der Fichte gewinnt bei gesunden Tannen die proventiv-praformiert erzeugte Verzweigung mit zunehmendem Baumalter (Kronenausdehnung) an Bedeutung. Die Tanne bildet Proventivzweige an Achsen 0., 1. und 2. Ordnung (Abb. 11, 12, 13). Aufgrund der ausgedehnteren unterdriickten Knospenbereiche und der spezifischen Anordnung der Seitenknospen entstehen die Proventivzweige an den Achsen 0. Ordnung meist basal, an den Achsen hoherer Ordnungen (1. und 2. Ordnung) zuerst meist medial und epiton (Abb. 14). Im Gegensatz zur Fichte kann die Tanne auch am Stamm Proventivzweige, sogenannte ,Wasserreiser", treiben. Diese Wasserreiser gehen aber in vielen Fallen nicht direkt a us Proventivknospen der Achsen 0. Ordnung hervor, sondern aus Proventivknospen
an der Basis alter Spi\ste und-Zweige (Abb. 12). Dadurch kann eine vollkommen neue Krone sukzessive von unten her (Schattensekundarkrone) oder spontan iiber den gesamten Schaft (Lichtsekundarkrone) aufgebaut werden (Sekundiirkrone). In dieser Hinsicht ist die Tanne in ihrer Anpassung an die Umwelt und Regeneration gegeniiber der Fichte iiberlegen, da Picea abies am Schaft keine Proventivzweige bildet. An den regularen Achsen bildet die Tanne Proventivzweige meist nur bis zu 2. oder 3. (und 4.) Ordnung. Trotzdem laBt sich ihre Verzweigung in sukzessiven Serien langs des Stammes und auf den Achsen 1. und 2. Ordnung beschreiben (vgl. VEILLON 1976; EDELIN 1977; GRUBER 1987 a, b, 1992). Solange der Ersatz der regularen Verzweigungseinheiten durch proventive gleitend erfolgt, sind UnregelmaBigkeiten in der Verzweigung kaum wahrnehmbar. Erst infolge von Wachstumsstorungen treiben die zwar regular angelegten Proventivknospen an den verschiedensten Orten der Krone jedoch unregelmaBig aus. Dadurch wird die RegelmaBigkeit des Aufbaus im Verzweigungssystem gestort. Unter anderem ist dies ein Grund dafiir, warum Baumkronen urn so ,ungeordneter" erscheinen,je alter sie sind. Denn mit zunehmendem Alter nimmt in der Regel auch der Anteil an Proventivzweigen zu. Aber gerade diese Unordnung verleiht den alten Baumriesen (z. B. auch bei den Eichen, Buchen, Linden u. v. a.) eine besondere Asthetik und damit einen besonders hohen Wert. FLORA (1995) 190
57
Abb. 11. Proventive Triebbildung an der T 0 - und S 1 Achse. Abb. 12. Proventivzweig an der Basis einer S 1 -Achse (nur scheinbar am Stamm). Abb. 13. Proventivzweige auf der Oberseite eines iilteren Astes (S 1 -Achse), die Reguliirzweige (s. Astrumpfe) sind !angst abgebrochen (Ansicht schriig von unten).
Polykladien (bi.ischelformig angehaufte Proventivzweige), die bei der Fichte und Douglasie auf exponierten Standorten haufig vorkommen (s. GRuBER 1987 c; 1988), sind bei der Tanne selten. Das Zuriickverlegen der Innovationstriebe durch Proventivtriebe auf die horizontalen Achsen in der Primarkrone und das ,Heruntersetzen der Krone" am Stamm durch Bildung einer neuen Sekundarkrone (proximal erfolgende Triebinnovation) haben bei der Regeneration und der Anpassung der Tannenkrone an wechselnde Umweltfaktoren eine groBe Bedeutung.
4.4.2. Generative Verzweigung 4.4.2.1. Orte mannlicher und weiblicher Bli.itenbildung Die Tanne tdigt ihre Bli.iten und Bli.itenstande nur in der Lichtkrone. Beide Bli.itengeschlechter entwickeln sich getrennt an einjahrigen Trieben aus den im 58
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Vorjahr angelegten und einmal i.iberwinternden reinen Bli.itenknospen. Die Bli.iten und Bli.itenstande der Tanne sind also praformierte Bauelemente. Die kleinen, glanzend braunen mannlichen Bli.itenknospen entwickeln sich sehr zahlreich in den Achseln von Nadeln, aber immer nur an der Unterseite (hypoton) und medial von Trieben zweiter und hoherer Ordnung. Im Vergleich zu einem entsprechenden Trieb mit seitlichen Triebknospen fallt dabei auf, daB bei starker Bli.iteninduktion fast injeder Nadelachsel eine Bli.itenknospe angelegt sein kann. Dieser sehr gravierende Unterschied in der Anzahl und dem Ort der vegetativen und mannlich-generativen Knospen z. B. im Gegensatz zu der Fichte sehr offensichtlich, daB die Induktion der mannlichen Bli.itenbildung nicht an die Positionen der sichtbaren Triebknospen gebunden ist. AuBerdem wird daran sehr deutlich, daB die Induktion der mannlichen Bli.itenknospen schon fri.ihzeitig, im Fri.ihjahr (MaijJuni) des dem Bli.itejahr vorausgehenden J ahres erfolgt, weil bereits zu diesem Zeitpunkt die
J ® Abb. 14. Proventive Verzweigung liings von S 1 - und Sz-Achsen: Die proventive Triebbildung erfolgt meist medial, da hiiufig keine basalen Knospen angelegt werden.
,Bliitenknospchen" in den N adelachseln nachweis bar sind. Die weiblichen Bliitenstande entwickeln sich aus medialen Seitenknospen auf der Oberseite (epiton) und meist im distalen Drittel von Trieben 1. uns 2. Ordnung in der oberen Lichtkrone. Diese auffalligen Knospenpositionen auf der Oberseite der Triebe sind nicht immer mit den Positionen der regular austreibenden Triebknospen identisch. Zum Teil entstehen an den epitonen Knospenpositionen (medial und basal) auch orthotrop wachsende Proventivtriebe. Solche ausgepragt epitonen Knospenpositionen fehlen bei den jiingeren Tannen. Die Zapfenspindeln und die Schuppen der mannlichen Bliitenknospen bzw. Teile davon konnen viele Jahre lang im Kronengeriist erhalten bleiben und somit Zeugnis iiber die zuriickliegenden ,Zapfenund Bliitenjahre" geben. In den Kronenwipfeln alterer Tannen, die ins Storchenneststadium hineingewachsen waren, konnten Zapfenspindeln vermehrt und teilweise mehrere Jahre hintereinander gefunden werden. Es konnten
insbesondere an den S1 -Jahrestrieben 1985 und 1986, aber auch an den Jahrestrieben 1980-1984 Zapfenspindeln beobachtet werden. Die untersuchten Alttannen hatten 1985 sehr stark, 1986, 1987 und 1988 stark mannlich gebliiht. 4.4.2.2. Auswirkungen der Bliitenbildung auf die Verzweigung Aufgrund der mesotonen Forderung von sowohl mannlichen Bliiten als auch weiblichen Bliitenstanden wird die monopodiale und akroton geforderte Triebbildung nicht direkt beeintrachtigt: Die mannlichen Bliiten entstehen an Orten, an denen sonst keine Triebe gebildet werden. Es wurde aber festgestellt, daB sich in den Folgejahren nach reicher Bildung mannlicher Bliiten auffallig kurze Triebe (Biirstentriebe) an Trieben hoherer Ordnung (S 3 -Trieben) bildeten. Die weiblichen Bliitenstande entwickeln sich an Orten, an denen normalerweise regulare oder teilweiFLORA (1995) 190
59
se auch proventive Triebe differenziert werden konnen. Sie entwickeln sich jedoch nie an subapikalen oder gar apikalen Knospenpositionen, so daB keine bedeutenden Verluste durch Verbrauch von vegetativen Knospenpositionen oder UnregelmaBigkeiten in der Verzweigung, wie z. B. Sympodien, entstehen. Auch werden im Gegensatz z. B. zur Fichte die Triebknospen an den Trieben, an denen sich die Zapfen bilden, zeitlich und im Wachstum nicht gehemmt (s. GRUBER 1992).
4.5. Wuchsrichtung der Achsen Einen wesentlichen EinfluB auf den Kronenhabitus haben die Wuchsrichtungen der Achsen der verschiedenen Triebordnungen. U nter dem EinfluB der Akrotonie, welche letztlich die Zahl der Triebordnungen begrenzt (Aufgrund der Akrotonie existiert ein deutlicher Gradient in der TriebHinge: von Ordnung zu Ordnung werden somit die Triebe immer kleiner, so daB sich die kurzen Triebe der 3. Ordnung schon nicht mehr verzweigen), wird durch die regulare Triebbildung zusammen mit der Wuchsrichtung der Triebe der geordnete, ,geometrische Aufbau" der Krone bewirkt. Diese Ordnung halt aber nur so lange an, wie sich die Krone ungestort und aus der regularen Verzweigung aufbaut. Mit zunehmendem Baumalter wird diese Ordnung durch die Zunahme der proventiven und regularen Ersatztriebbildungen gestort, was mitunter durch die von der regularen Triebbildung abweichende Wuchsrichtung solcher Ersatzachsen zustande gebracht wird. Insbesondere sind es ,Dedifferenzierungen" (s. HALLE et al. 1978), die Sympodien und die verschiedenen Bildungsorte (z. B. Epitonie) und unregelmaBigen Bildungszeitpunkte der Triebe, die die zunehmende, U nordnung" und UnregelmaBigkeit in die Kronenarchitektur bringen. Dies ist ein wesentlicher Grund dafiir, warum sich die Jungtanne mit ihrem streng geometrisch geordneten Kronenaufbau von der sehr unregelmaBig wirkenden Kronenform des Altbaumes so auffallig unterscheidet. Zur Charakterisierung der Wuchsrichtung der Achsen 1. Ordnung unterscheidet BuRTT (1899) den Achsenwinkel, Neigungswinkel und geotropischen Winkel (vgl. GRUBER 1992). An 5jahrigen Tannen betrug der Achsenwinkel der subapikalen Seitentriebe durchschnittlich 67,2° (n = 30, X= 67,41°± 5,77°). Bei KIRCHNER et al. (1906) ist ein Achsenwinkel von 65° - 84° angegeben. Der geotropische Winkel der Endknospe an der einjahrigen Achse und auch an jiingeren mehrjahrigen Achsen sowie deren Neigungswinkel sind iden60
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tisch mit dem Achsenwinkel, weil diese Achsen iiberwiegend gerade verlaufen oder hochstens leicht nach oben durchgebogen sind. An alteren Tannen sind diese Winkel meist verandert. Hier gilt als Regel, daB mit zunehmendem Astalter der Neigungswinkel groBer und der geotropische Winkel kleiner wird. Auch der Achsenwinkel verandert sich mit der Ontogenese des Baumes. Bei der ,Storchennestbildung" werden im allgemeinen durch die steilere Aststellung oder durch das bogenformige Aufrichten der Achsen die Winkel kleiner.
4.6. Anzahl der Triebordnungen Bei regularer Wachstumsweise bildet die Tanne vegetative Triebe bis zur 3. Ordnung aus. Triebe 4. Ordnung sind bereits selten. An Trieben 3. Ordnung konnen sich aber mannliche Bliiten bilden.
4. 7. Die N adeln 4.7.1. Morphologie Die Tannennadeln sind spiralig an der SproBachse angeordnet. Die Nadel ist flach und linealisch gebaut; sie verschmalert sich an ihrer Basis auffallig und endet dann in einem scheibenformigen FuB. Damit haftet die Nadel direkt an der SproBachse. Ein Blattkissen fehlt. Nach dem Abfallen der Nadel ist auf der SproBachse eine kreisrunde und nicht hervorstehende Blattnarbe sichtbar. Die Nadeln am T 0 -Trieb sind radiar angeordnet. Durch ihre stechenden Spitzen und gekielten Unterseite unterscheiden sie sich deutlich von den ausgeT 0 P 0 P HY L L I E 0 E R T ANN E NNA0 E L stechend spitz
stumpf spitz
abgerundet
ausgerandet
0
To-, S1-achse
Abb. 15. Nadelformen (aus dem Gipfelbereich) in Abhiingigkeit von ihrer Stellung an unterschiedlichen Triebordnungen.
randeten und flachen Nadeln der Achsen hoherer Ordnung. Diese Heterophyllie wird an den unterschiedlichen Triebordnungen sehr deutlich (Topophyllie). Die Nadeln an den SrAchsen sind ebenfalls stechend zugespitzt und unterseits gekielt. Die Nadeln an den Achsen zweiter und hoherer Ordnung sind gescheitelt und daher auch sehr anisophyll ausdifferenziert; die Nadeln auf der Trieboberseite sind auWillig kiirzer. Die Nadeln an den Sr Trieben haben eine stumpfe Spitze oder ein abgerundetes Ende. Die Nadeln an den Trieben hoherer Ordnung haben ausgerandete Spitzen (Abb. 15).
4.7.2. Die Trennzone der Tannennadel Bereits mehrere Autoren haben die Trennzone der Tannennadel beschrieben (BEHRENS 1886; NEGER & FUCHS 1915; NAPP-ZINN 1966), meist jedoch ungenau oder unvollstandig. Im folgenden wird daher die Anatomie der Trennzone erlautert. Ein Langsschnitt durch die Trennzone einer einjahrigen Tannennadel zeigt, daB die Nadel mit ihrer Basis einer Korkschicht aufsitzt (Abb. 16 a). Diese Korkschicht, die nur im Zentrum durch das Leitbiindel durchbrochen wird (Abb. 16b) stellt eine sehr scharfe Grenze zwischen der Nadel und der SproBachse dar. In Hohe der Trennzone ist die Epidermis unterbrochen; dort bilden Korkzellen das AbschluBgewebe. Die Nadelbasis wird durch 1-2 Reihen kleiner rundlicher, dreieckformiger oder ovaler, lebender Zellen gebildet, wovon letztere zur Nadellangsachse quer liegen. Sie stellen das eigentliche Trennungsgewebe dar, mit dem die Abtrennung der Nadel erfolgt. Die Trennzone der Tannennadel besteht also aus zwei Trennschichten, einem parenchymatischen Trennungsgewebe an der Nadelbasis und einer Korkschicht, welche die Blattnarbe nach auBen abschlieBt. Diese Korkschicht stellt ein vorgebildetes AbschluBgewebe dar. Die Nadel besitzt dickwandige, langlich rechteckige Epidermiszellen, die von einer dicken Kutikula bedeckt sind. Darunter fin den sich in 2- 3 Reihen angeordnete dickwandige und schlauchformige Hypodermiszellen. Im Bereich des scheibenformigen FuBes der Nadel sind die relativ dickwandigen und mit Tiipfeln ausgestatteten Mesophyllzellen in sehr unregelmaBiger Form ausgebildet. Besonders auffallig ist, daB das Mesophyll - vor allem auf der abaxialen Nadelseite - von vielen und groBen Interzellularen durchsetzt ist. Ander Basis des NadelfuBes ist das Mesophyll in 1-2 Reihen dicht anliegender kleiner rundlicher bis ovaler (liegender) Zellen - das Trennungsgewebe -
umgebildet. Diese Zellen enthalten auch Starke und groBe Zellkerne (Abb. 16a, b). Unterhalb des Trennungsgewebes zieht eine aus 1- 2 Zellreihen bestehende Korkschicht quer durch die Nadel (Abb. 16a, b). Diese querliegende Korkschicht schlieBt direkt an die Korkzellen des axialen Periderms an. Das axiale Periderm gliedert standig durch ein Phellogen nach auBen Korkzellen ab, wodurch im Laufe der Zeit eine machtige Korkschicht entsteht (Abb. 16 a), die aus zusammengedriickten Korkzellen aufgebaut ist. Durch das Periderm wird nur die Epidermis mit der Kutikula von der SproBachse abgehoben. In Analogie zur Fichte konnte man sich die Epidermis der SproBachse auch als unscheinbare Blattkissen im Sinne der Berindungstheorie nach HoFMEISTER (1851) vorstellen. Danach wiirde die SproBachse kein eigenes primares AbschluBgewebe besitzen. Die meisten Epidermiszellen konnen zu Iangen zahnartigen Haarzellen umgebildet sein. Unter dem Phellogen befinden sich mehrere Reihen von langlichen Zellen, die dicke und von Poren durchsetzte Zellwande aufweisen. Auch diese Zellen, die wohl zum Zellentyp des Kollenchyms zahlen, besitzen Starke und Nuclei. Die Korkschicht der Trennzone erstreckt sich mit Ausnahme des zentralen Leitbiindels iiber den gesamten Querschnitt. Selbst die Epidermiszellen sind im Bereich der Trennzone als Korkzellen differenziert. Die Kutikula ist an dieser Stelle allerdings nicht unterbrochen. Die Korkschicht ist von auBen nach innen nicht gleichmal3ig aufgebaut. Diejenigen Korkzellen, die etwa in den auBeren zwei Dritteln der Querschnittsflache liegen, sind dreieckig bis viereckig langlich und liegen in der Mehrzahllangs zur N adelachse und iiber dem Achsenkollenchym. Sie sind nicht zusammengedriickt und reich an Kristallen. Im Gegensatz zum Achsenperiderm werden diese Korkzellen nicht weiter durch neue erganzt. Es konnte kein aktives Phellogen zwischen dem Achsenkollenchym und diesen Korkzel1en nachgewiesen werden. Im inneren Drittel der Querschnittsflache setzt sich die Korkschicht mit quer zur Nadellangsachse liegenden und zusammengedriickten Korkzellen fort (Abb. 16 b). Auf der adaxialen Nadelseite liegen unter den zerdriickten Korkzellen diinnwandige teilungsaktive Meristemzellen, die bis unmittelbar an das Leitbiindel reichen. Dieses Meristem spielt wahrscheinlich nach dem Abfallen der Nadel als Vernarbungsmeristem der Blattspur eine wichtige Rolle. Die Ablosung der Tannennadel vollzieht sich im Trennungsgewebe durch Auflosung der Mittellame1len bzw. Zellwande direkt im Kontaktbereich des querliegenden Korkgewebes (Abb. 17). Die Trennzone wird bereits in der diesjahrigen Nadel voll entwickelt (Ende Juni/Anfang Juli; siehe FLORA (1995) 190
61
GRUBER 1992). Sie zahlt aufgrund dieser vorab angelegten Trennungsschichten zu den primaren Trennungsgeweben (PFEIFFER 1928). Im Gegensatz zur Fichte (s. GRUBER 1987, 1990) kann der Ablosungsmechanismus der Tannennadel nicht mechanisch arbeiten. Die Nadeln fallen bei Trocknung des Zweiges nicht ab, sondern bleiben daran fest sitzen. Der Ablosungsvorgang wurde bisher noch nicht untersucht. Auch wurde der Nadelfall noch nicht systematisch und im Jahresablauf verfolgt.
5. Zusammenfassung Das hier vorgeschlagene Konzept der okologischen Geholzmorphologie beruht einerseits auf der exakten Darstellung der einzelnen Bauelemente und Bauplanarchitektur unter theoretischen ,optimalen" Umweltbedingungen (idealer Phii.notypus) und andererseits auf der durch Veriinderungen dieser Umwelt bedingten Variation dieses Idealtypus (Modifikationen oder reale Phanotypen). Letztere haben vom Idealtypus abweichende Degenerationen zur Folge. Uber die Regenerationen kann sich der Baum in seinem Wuchs wieder zum Idealtypus annahernd zuriickbilden. Es wird eine ganzheitliche Betrachtungsweise verfolgt, indem die Morphologie des ganzen Baumes in Abhangigkeit von der Ontogenese und der Umwelt (Genetik-Umwelt-Interaktionen) dargestellt wird. An 100-130 Jahre alten Tannen aus NW-Slowenien (Pokljuka) und dem Schwarzwald sowie anjungen Tannen wurden morphologische und anatomische Untersuchungen an Knospen und in der Krone durchgefiihrt. Die wichtigsten Ergebnisse sind:
Abb. 16. Trennzone einer 1jii.hrigen Tannennadel (Ende Juni) a) Lii.ngsschnitt auf der abaxialen Nadelseite, b) im Bereich des Leitbiindels T = Trennungsgewebe, K = Korkschicht, C = Kollenchym, LB = Leitbiindel (Blattspur), ad= adaxiale Nadelseite. Abb. 17. Ablosung der Tannennadel im Trennungsgewebe P = Periderm.
62
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Die terminale Tannenknospe zeigt einen einfachen Aufbau mit einperiodischem Entwicklungszyklus. Bei den Seitenknospen sind regular austreibende (Winterknospen) und unterdriickte, mehrperiodisch ruhende Knospen (Proventivknospen) morphologisch und phanologisch unterscheidbar. De morphogenetische Zyklus der Regulii.rknospe lii.J3t sich wie bei der Fichtenknospe in drei Phasen unterteilen, in die Bildung der Knospenschuppen, die Bildung der Nadelprimordien und die Uberwinterung der Knospe. Bei der Trieb- und Nadelentwicklung aus regular angelegten Knospen kann man in Bezug auf das Phyllochron (Ruhezeit) zwischen den vorzeitigen (proleptischen), regelzeitigen (regularen) und nachzeitigen (proventiven) Ausdifferenzierungen unterscheiden. Bei der Tanne herrschen in der Jugend die regulii.ren, im Alter die proventiven Triebbildungen vor. Der regulii.re Jahrestrieb der Tanne gliedert sich in einen gestauchten, Knospenschuppen tragenden Abschnitt an der Basis und einen gestreckten, Nadeln tragenden Abschnitt. Der gestreckte Triebteillii.J3t sich zur Spitze hin in
einen regular austreibenden und zur Basis hin in einen unterdruckten Knospenbereich gliedern. Die Verzweigung erfolgt akroton, das Wachstum monopodia! (distal gerichtete Triebinnovation).
Die nachzeitige Triebbildung erfolgt aus Proventivknospen einerseits am Stamm und andererseits in der Primiirkrone. Dadurch konnen die Zweige und Aste auf den ubergeordneten Achsen zuruckverlegt werden (proximal erfolgende Triebinnovation). Die Proventivzweige in der Primiirkrone entstehen aus Proventivknospen hauptsiichlich auf den Achsen erster und zweiter Ordnung und epiton. Durch die Proventiviiste am Stamm kann die Tanne eine vollkommen neue und nach ,unten (in Richtung Wurzelpo!) verlegbare" Krone aufbauen (proventive Sekundiirkrone). Bei den Sekundiirkronen mui3 man zwischen im Schatten und im Licht entstandenen Sekundiirkronen unterscheiden. Die Proventivtriebe dienen dem Ersatz ineffektiver Kronenteile, der Regeneration der Krone, der Anpassung und Optimierung der Kronenform an die standortlichen Faktoren und der Exploitation des Lichtraumes in gunstigen Wachstumsphasen. Die Bluten und Blutenstiinde werden als priiformierte Bauelemente angelegt. Die miinnlichen Bluten entwickeln sich medial und hypoton an Trieben hoherer Ordnung. Die weiblichen Blutenstiinde entstehen medial his subapikal und epiton an Achsen erster und zweiter Ordnung. Die Wuchsrichtung der Achsen (Achsenwinkel) von jungen Tannen betriigt im Durchschnitt 67°. Die Trennzone der Tannennadel wird anatomisch beschrieben. Die Tannennadel sitzt direkt auf der Korkschicht des in diesem Bereich einperiodisch aktiven Rindenperiderms der Triebachse auf. Im Gegensatz zur Fichte vollzieht sich die Ablosung der Nadel nicht nach dem Schrumpfungsmechanismus.
Danksagung Das dieser Arbeit zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministers fUr Forschung und Technologie (H. RIESENHUBER) unter den Kennzeichen OEF 2019 gefordert.
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