Standpunkt: „Der Nächste bitte“ – Anmerkungen zur Indikationsstellung in der klinischen Medizin

Standpunkt: „Der Nächste bitte“ – Anmerkungen zur Indikationsstellung in der klinischen Medizin

Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2015) 109, 46—50 Online verfügbar unter www.sciencedirect.com ScienceDirect journal homepage: http:/...

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Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2015) 109, 46—50

Online verfügbar unter www.sciencedirect.com

ScienceDirect journal homepage: http://www.elsevier.com/locate/zefq

SCHWERPUNKT

Standpunkt: ,,Der Nächste bitte‘‘ — Anmerkungen zur Indikationsstellung in der klinischen Medizin夽 Heiner Raspe ∗ Seniorprofessur für Bevölkerungsmedizin, Universität Lübeck, Lübeck, Deutschland

Einführung Der möglicherweise befremdliche Titel wurde bewusst gewählt. Ich möchte — als Sozialmediziner — gleich anfangs andeuten, dass es in der evidenzbasierten klinischen Medizin immer — wenigstens auch — um den nächsten Fall geht, nicht nur um den konkreten Menschen, der gerade das Sprechzimmer betritt. Und bei diesem Besonderen geht es immer auch um etwas Unpersönliches. Es ist das Wesen klinischer Erfahrung, dass sie über sich und den Moment, in dem sie gewonnen wird, hinausweist. Die Erfahrung einer Arzneimittelnebenwirkung zum Beispiel ist für den betroffenen Patienten ganz unerfreulich; seinem Arzt kann sie helfen, diesem Risiko in Zukunft besondere Aufmerksamkeit zu widmen, und wenn er das





Der Text geht auf einen Vortrag auf der 15. Jahrestagung des EbM-Netzwerks in Halle am 14. März 2014 zurück. Er ist Johann Behrens, dem wissenschaftlichen Freund gewidmet. Die Überarbeitung des Vortragsmanuskripts bewahrt bewusst den damals gewählten Redestil. Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Dr. phil. Heiner Raspe, Seniorprofessur für Bevölkerungsmedizin, Akademisches Zentrum für Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung, Universität zu Lübeck, Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck, Deutschland. Tel.: +49 (0)451 500 5878; Fax: +49 (0)451 500 5964. E-Mail: [email protected]

http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2015.01.006 1865-9217/

Ereignis dokumentiert und meldet, dann bereichert er nicht nur die eigene, sondern auch die kollektive Erfahrung seiner Fachkollegen. Gleiches gilt für positive Erfahrungen, etwa aus individuellen Heilversuchen und erfolgreich behandelten Fallserien. Anders gesagt: Die klinische Medizin wird nicht für jeden einzelnen Patienten neu erfunden. Sie orientiert sich am ,,allgemein anerkannten Stand (und den Standards, HR) der medizinischen Erkenntnisse‘‘ (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V), soweit sie handlungsrelevant sind. Und dieser Stand verdankt sich immer vergangenen Erkenntnisbemühungen, hat also unvermeidlich etwas Rückwärtsgewandtes, Konservatives. Den je aktuellen Stand und seine Standards kann man fahrlässig verletzen, bewusst missachten, übersehen — aber das ändert nichts daran, dass sie existieren, schriftlich festgehalten sind (z.B. in Leitlinien), auch eingeklagt werden können. Sie machen den Kern der lex artis medicinae aus; und diese geht historisch, sachlich und normativ jeder Einzelbehandlung voraus. Im Folgenden diskutiere ich diesen harten Kern der klinischen Medizin. Ich tue dies im Sinne eines freundschaftlichkritischen Kommentars zu dem, was Sie von Johann Berendt gehört und gelesen haben. Vor diesem Hintergrund beschäftigen wir uns zuerst mit dem, was seit alters her in der Medizin ,,Anzeige‘‘, ,,Indicatio‘‘, ,,Endeixis‘‘ [1] genannt wird. Es werden drei Stufen der Indikationsstellung zu unterscheiden sein: eine generalisierende, eine individualisierende und eine in Grenzen personalisierende.

Standpunkt: ,,Der Nächste bitte‘‘ — Anmerkungen zur Indikationsstellung in der klinischen Medizin Generalisierende Indikationen orientieren sich an traditionellen klinischen und paraklinischen Merkmalen des Falles und an etablierten Zielen und Standards; für individualisierende Indikationen sind z.B. neuartige Biomarker maßgebend. Sie führen zu einer Differenzierung (,,Stratifizierung‘‘) klinischer Handlungsstrategien, oft in der Kombination eines molekularbiologischen Tests mit einem an dessen Ergebnis orientierten Behandlungsregime.

Indikation, Indikationsstellung und Indikationsregel Aber zuerst: Was ist eine Indikation: dazu einige Definitionen aus unterschiedlichen Jahrhunderten:

,,INDICATION, in physic, whatever serves to direct the physician how to act‘‘ ([2]; S. 838) ,,Die Anzeige ist also das durch den Verstand aufgefundene Vermittelungsglied zwischen der Krankheit und dem ihrer Heilung entsprechenden Verfahren des Arztes. Die Symptome der Krankheit sind das Anzeigende, die Heilmittel das Angezeigte, die Anzeige selbst steht zwischen beiden in der Mitte....‘‘ ([3], S. 365) ,,Die Indikation ist der begründete Entschluss zu einer bestimmten Handlung, nicht die Handlung selbst. Sie erhebt einen intellektuellen Anspruch, welcher in einem Durchdenken des Symptomatik und einem Nachdenken über diesen besonderen Fall . . . besteht.‘‘ ([4], S. 6) Für einen anderen Typus von Definition steht ein Eintrag in der Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde ([5], S. 520):

,,So [mit ,,Indikation‘‘, HR] werden von Alters her die speciellen Aufgaben und Ziele bezeichnet, die der Arzt am Krankenbette zu verfolgen hat.‘‘ Unterschieden werden u.a. die Indicatio prophylactica — curativa - symptomatica bis hin zur ,,Euthanasie‘‘ ,,als letzte humane Aufgabe‘‘. Daraus leite ich ab: • Indikationen haben eine handlungsdienliche und handlungsleitende-direktive Funktion; sie bilden eine Brücke zwischen klinischem Denken und Handeln. • Ihr Ausgangspunkt sind ,,Symptome‘‘ und ,,Umstände‘‘ der Krankheit und des besonderen Falls, die sie objektivieren, analysieren und bewerten. • Indikationen dienen der Überwindung des aktuellen Zustands und orientieren sich an einem in der Zukunft liegenden Ziel. • Das ,,how to act‘‘ beginnt mit der gedanklichen Klärung, der inneren Wahl eines Heilmittels (einschließlich präventiver, diagnostischer, prognostischer Leistungen). Indikationen beinhalten ein Probehandeln im Denken. • Indikationen für sich zu stellen und dann anderen (Patienten, Angehörigen, Kollegen, Kostenträgern) mitzuteilen, ist eine zentrale und unverzichtbare Aufgabe des Arztes, der Ärztin und jedes klinisch Tätigen in direktem Kontakt und direkter Verantwortung für einzelne Kranke.

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Ich behaupte nun, dass Indikationen — ich formuliere absichtlich scharf — ,,ohn‘ Ansehn der Person‘‘ gestellt werden können, dürfen — und oft auch gestellt werden müssen, nämlich dort, wo die Person des Patienten noch verborgen ist oder verborgen bleibt. Dabei meine ich hier mit ,,Person‘‘ nicht etwas, was sich in ,,personenbezogenen‘‘ Daten wie Alter, Geschlecht, Sozialstatus, Familienstand, Genetik etc. fassen lässt. Sondern der Begriff soll sich auf das beziehen, was aus dem Wesenskern eines Menschen einzigartig und unverwechselbar ,,durchtönt‘‘ und sich am ehesten in Nahbeziehungen mitteilen kann, kaum aber in der Notaufnahme, in einem Erstkontakt oder unter dem üblichen klinischen Zeitdruck und Personalwechsel. Dabei gilt: Kliniker (nicht Patienten) stellen Indikationen; Patienten (nicht Kliniker) entscheiden im Regelfall über ihre Realisierung. Genau diese Rollenverteilung ist es, die dem Arzt, der Ärztin die professionelle Pflicht, das soziale Privileg und die juristische Verantwortung gibt, Indikationen nach ,,bestem Wissen und Gewissen‘‘ zu stellen - im ,,wohlverstandenen Interesse des Patienten‘‘ und - auf der Stufe der generellen und individuellen Indikation — eben ,,ohn‘ Ansehn der Person‘‘. Wenn man will, kann man das als benevolenten Mater/Paternalismus, als ,,fürsorgliche Bevormundung‘‘ [6] kritisieren. Aber Vorsicht: als Sozialmediziner kann man den rechtlichen und moralischen Rahmen der klinischen Arbeit nicht übersehen: die Leistungen der GKV haben in ,,Qualität und Wirksamkeit . . . dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen‘‘; die Versorgung soll nach § 70 Abs. 1 Satz 1 ,,bedarfsgerecht und gleichmäßig‘‘ sein. ,,Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind können Versicherte nicht beanspruchen‘‘ (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Und selbst die in § 9 SGB IX gewürdigten ,,Wunsch- und Wahlrechte der Leistungsberechtigten‘‘ müssen ,,berechtigt‘‘ sein und setzten annähernd gleiche Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit des Gewünschten voraus. ,,Eine ungeeignete Leistung kann nicht erfolgreich gewünscht werden.‘‘ ([7], S. 91) — aber was generell geeignet bzw. ungeeignet ist, ist zuerst eine Fachfrage, die z.B. durch einen Blick in eine aktuelle S3-Leitlinie beantwortet werden könnte. Leitlinien machen die lex artis (lex kommt von lat. legere = lesen) in besonderer Weise vor- und nachlesbar; sie stellen, genau betrachtet, Kompendien von Indikationsregeln dar. So formuliert z.B. eine aktuelle Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie zum ,,Management der frühen rheumatoiden Arthritis‘‘ (3. Auflage, 08/2011):

,,Sorgen Sie dafür, dass Ihre Patienten von der Diagnosestellung an mit klassischen DMARDs behandelt werden, um eine Verzögerung der Krankheitsprogression zu erzielen und damit die Langzeitprognose zu verbessern.‘‘ Diese imperative Formulierung arbeitet leicht erkennbar mir Allgemeinbegriffen und Typisierungen (Diagnose, DMARDs (Medikamente mit dem Potential, den Krankheitsverlauf zu günstig beeinflussen), zwei Behandlungsziele), wie sie für Regeln, denen einzelne Fälle subsumiert werden müssen, charakteristisch sind. Von Besonderheiten einzelner Fälle oder gar der Person einzelner Kranker ist nicht die Rede.

48 Im Reich der regelbasierten generellen Indikationsstellung geht es für Mitglieder der Solidargemeinschaft GKV nicht um deren Bedürfnisse, -wünsche und —präferenzen, sondern um ihre fachlich zu objektivierenden Bedarfe (,,needs‘‘) als Grundlage jedes Leistungsanspruchs. Und damit es geht auch um die generelle Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit der Heilmittel — also um zentrale Themen der EbM. Anders gesagt: Patienten können alles ablehnen, es sei so gut gemeint oder evidenzbasiert, wie man möchte. Sie können sich aber als Mitglieder einer rechtlich verfassten Zwangsgemeinschaft nicht alles wünschen, sondern sind an die Objektivierung ihres Krankheitszustands, an fachliche Standards und das Wirtschaftlichkeitsgebot (s.u.) gebunden. Auch das jüngste Patientenrechtegesetz von Februar 2013 (§ 630 a Abs. 2 BGB) fordert: ,,Die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist.‘‘ In § 630 e Abs. 1 BGB werden dann die Aufklärungspflichten der Behandelnden normiert; genannt werden Inhalte, die der Kliniker, nicht der Patient zu wissen hat, die Elemente seiner Indikationsstellung sind und die eine sichere Evidenzbasis haben sollten. Wer die Bedürfnisse der Patienten scharf gegen ihren fachlich zu objektivierenden Bedarf stellt, geht, so scheint mir, davon aus, dass beide regelhaft über Kreuz sind. Ist dies berechtigt? Ich behaupte (nach Erfahrungen als rheumatologischer Kliniker und als Patient diverser Fachärzte — also opinion-based), dass die Differenzen im Alltag der konservativen und operativen Akutmedizin gering sind. Es leuchtet mir nicht ein, von einem grundsätzlichen Ziel- und Mittelkonflikt zwischen Klinikern und Patienten auszugehen. Auch Patienten sind zuerst an der Heilung ihrer Krankheit interessiert und, sollte dies unmöglich sein, an einer möglichst langen Remission, einer Linderung ihrer Beschwerden, einer Verbesserung ihrer Lebensqualität und Teilhabe, einer Verbesserung ihrer Prognose oder einer Verlangsamung des sonst unaufhaltbaren Krankheitsprogresses.

Die Rolle von Evidenzen in der (therapeutischen) Indikationsstellung Stellt man in der Klinik regelgeleitet eine Indikation, hat man es im Kern mit drei Variablen zu tun: dem Krankheitszustand eines individuellen Falles und einer Person (Indikantien), mit einem sozial akzeptieren und erreichbaren Ziel und einem oder mehreren verfügbaren Heilmitteln (Indikata). Dabei kann das aktuelle Krankheits-,,Bild‘‘ aufgefasst werden einerseits als Manifestation einer anfangs oft noch unbestimmten Erkrankung und andererseits als etwas, das von einer kranken Person präsentiert und unter dieser Oberfläche erlebt und erlitten wird. Auch diese Präsentation ist dem Kliniker als Problem aufgegeben. Vordringlich aber muss die Krankheit diagnostisch geklärt und in ihrem voraussichtlichen Verlauf prognostisch abgeschätzt werden - zuerst qua Anamnese und klinischer Untersuchung. Beides generiert wesentliche Teile der Johann Behrens am Herzen liegenden ,,internen‘‘ Evidenzen. Johann [8] definierte diese als ,,alles Wissen über unseren individuellen Klienten selbst, das oft nur in der Begegnung zwischen je einzigartigen Klienten und Therapeuten geklärt

H. Raspe werden kann.‘‘ Er sieht eine ,,unaufhebbare Differenz‘‘ zur sog. externen Evidenz und identifiziert die interne weitläufig mit ,,den individuellen Bedürfnisse des individuellen Klienten‘‘. Konsequenterweise steht damit die ,,Auftragsklärung‘‘ am Anfang seines ,,Aufbaus‘‘ der internen Evidenzen. Hier bin ich definitiv anderer Ansicht: Ich sehe als interne Evidenz alles, was nur in der klinischen Situation geklärt werden kann; ich sehe keine unaufhebbare Differenz zwischen interner und externer Evidenz, und für mich folgt die Auftragsklärung und Auftragsabstimmung der systematischen und individualisierten Indikationsstellung und steht nicht an deren Anfang. Denn das Behandlungsziel ergibt sich zu einem Teil aus der diagnostischen und prognostischen Klärung dessen, was sich krankhaft manifestiert und als behandlungsbedürftig präsentiert wird. Zum anderen unterliegt es einer Reihe von normativen Restriktionen: Ärztliche Euthanasie ist in Holland erlaubt, bei uns aber rechtlich verboten. Moralisch indiskutabel (und rechtlich wenigstens fragwürdig) ist das, was heute als ,,wunscherfüllende Medizin‘‘ bezeichnet wird: also etwa der Wunschkaiserschnitt, die unbegründete AUSchreibung oder die medizinisch sinnlose aber angebotene und/oder nachgefragte IGeL-Leistung. Auch ,,können‘‘ GKVversicherte Patienten keine Leistungen beanspruchen, die ,,nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind‘‘, und Leistungserbringer ,,dürfen‘‘ solche nicht ,,bewirken‘‘ (§ 12 Abs. 1 SGB V). Eine dritte Einschränkung ergibt sich aus spezifischen Indikationsregeln: Kontra-Indiziertes darf nicht, NichtIndiziertes soll nicht vorgeschlagen und realisiert werden; eine vierte aus medizinisch nicht-realisierbaren Wünschen (nach Heilung, wo diese unmöglich geworden ist). Alles dies setzt positiv formulierten Patienten-Bedürfnissen und -Wünschen normativ und faktisch Grenzen. Hinzu kommen moralische Bindungen, die sich aus der GKV als einer ,,Solidargemeinschaft‘‘ (§ 1 Satz 1 SGB V) ergeben. Sie ist darauf angewiesen, dass sie unter Berücksichtigung des für alle geltenden Bedarfs- und Gleichmäßigkeitsgebots maßvoll in Anspruch genommen wird. Wenn es dabei bleiben soll, dass auf 20% der Versicherten 80% der Leistungen entfallen, dann ist die GKV darauf angewiesen, dass sich individuelle Bedürfnisse zurücknehmen und begrenzen. Im Solidarprinzip verschränken sich Rechte und Pflichten für beide, die augenblicklich Starken und die Schwachen; und beide unterliegen bestimmten Bescheidenheitserwartungen und Mitwirkungspflichten. Noch ein Wort zur inneren Beziehung von interner und externer Evidenz: eine durchschnittliche Anamnese verwirklicht ein typisches Programm: einer offen einladenden Frage folgt ein Abschnitt der gezielten Abklärung. Fragt man einen Patienten mit Beinschmerzen, wie lange er frei gehen kann, bis er stehenbleiben muss, dann interessiert nicht, wie er das erlebt und was er sich dazu denkt, sondern wie lang die Strecke ist, über oder unter 200 m? Gleiches gilt für die Frage nach nächtlichen Rückenschmerzen beim Verdacht auf M. Bechterew, Atemnot bei Herzschwäche, Unruhe bei Schilddrüsenüberfunktion und morgendliche Antriebslosigkeit bei Depression. Es geht um klinische ,,Tatsachen‘‘ im Licht vorgezeichneter Krankheitsbilder. Und damit wird ein erheblicher Teil der internen Evidenzen aus nosographischen und nosologischen Quellen versorgt, die auch die externe Evidenz speisen. Hier verschränkt sich Externes und Internes.

Standpunkt: ,,Der Nächste bitte‘‘ — Anmerkungen zur Indikationsstellung in der klinischen Medizin Nun zu den Heilmitteln und der EbM: EbM hat das Ziel, das zu erarbeiten und/oder zu vergegenwärtigen, was man als möglichst unverzerrte, präzise und glaubwürdige Schätzung des wahren mittleren Zusatznutzens für größere oder kleinere Gruppen erhofft. Evidenz bildet ein wesentliches Element jeder systematischen Indikationsstellung. Sie unterstellt typische Verhältnisse, sozusagen Standardpatienten. Generell ist eine überzeugende Evidenzlage für eine kollektiv zu finanzierende Untersuchungs- oder Behandlungsmethode zu fordern. Sie ergibt sich in der Regel aus systematischen Übersichten von mehreren, vorzugsweise randomisierten kontrollierten Studien. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsmaßstab darf in verschiedenen Situationen unterschritten werden, z.B. wenn es um den sog. OffLabel-Use oder um die Feststellung der Bedenklichkeit von Arzneimitteln geht, und auch in Notstands-nahen Situationen wie im Fall von lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankungen, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht (§ 2 Abs. 1a SGB V). Selbst dann muss aber das vom Versicherten selbst wählbare Heilmittel zumindest ,,eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen.‘‘ (Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 347/98 vom 6.12.2005, Leitsatz und Randziffer 64). Die Erfahrung, dass die von der GKV zu finanzierende Methode bisher schon im eigenen Fall gut gewirkt habe, reicht nicht. In anderen Worte: Selbst in der Notstands-nahen Situation muss (wenn auch schwache) positive — externe - Evidenz vorliegen. Evidenz wird als ,,extern‘‘ bezeichnet, wenn sie sich nicht aus der klinischen Situation ergibt, sondern von außen in Form von Studienergebnissen in diese importiert werden muss. Das schlagendste Beispiel für Evidenz, die sich nicht in und aus der Situation gewinnen lässt, ist für mich Evidenz zu den bei uns üblichen präventiven Leistungen. Man denke an verschiedene Schutzimpfungen oder Krebsvorsorgeuntersuchungen. So gut wie nie (Sprung aus einem Flugzeug u.ä. ausgenommen) wird es möglich sein, allein aus situativen Erfahrungen zu beurteilen, ob eine präventive Leistung (Fallschirm) wirksam und nützlich ist. Es fehlt uns an einem Organ für ausbleibende Ereignisse, sofern deren Risiko gering ist. Die Indikationsstellung ist dann einfach, wenn sich ein konkreter Patient umstandslos der handlungsbegründenden Studie(nlage) subsumieren lässt. Er hätte dann Mitglied dieser Studie(n) sein können. Dann fallen generelle Indikationsregel und individuelle Indikationsstellung umstandslos zusammen - und der Fall ist standardmäßig gelöst — jedenfalls bis zur ersten, zweiten oder dritten Komplikation z.B. in Form von Nebenwirkungen. Solche allfälligen Störungen erfordern taktische Reaktionen, für die evidenzbasierte Standards oft nicht zur Verfügung stehen. Die Domäne der EbM sind strategische Entscheidungen am Anfang oder bei der Neuausrichtung einer Behandlung.

Individualisierung und Personalisierung von Indikationen Gelingt die einfache Subsumtion unter einen generellen Stand und Standard nicht, dann liegt eine Individualisierung

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der Indikationsstellung nahe. Im Kern geht es dabei um etwas, was man besser Stratifizierung nennen würde. Ein Patient lässt sich z.B. mit Hilfe valider Biomarker einer kleineren Untergruppe zuordnen und bedarf daher einer Anpassung des therapeutischen Regimes; für ihn kommt z.B. ein besonderes Zytostatikum infrage. Anders als der Begriff suggeriert, geht es dabei nicht um das Einzigartige, Unteilbare eines Patienten, sondern gerade um ein Merkmal, das er mit vielen anderen teilt. Ich kann mich darüber ärgern, dass heute exklusiv nur Biomarker diskutiert werden, nicht auch Psycho- und Soziomarker wie etwa das Stadium der Veränderungsbereitschaft, wenn es um eine Suchtentwöhnung geht, oder wie prekäre Lebensverhältnisse, wenn es um das kardiovaskuläre Risiko oder um Gründe von Nicht-Adhärenz geht. Individualisierung im Sinne von Stratifizierung ist sinnvoll im Bereich des Biologischen und des Psychischen und des Sozialen. Die Arbeiten von Weiner (z.B. [9]) zeigen, dass und wie man persönliche und Umgebungskontexte von Patienten typisieren kann. Ob solche Merkmale schon zur systematischen oder noch zu individualisierenden Indikationsstellung gehören, scheint mir eine Funktion der Validität und Sedimentationsgeschwindigkeit des entsprechenden Wissens zu sein. Wie immer: Mit solcher Individualisierung sind wir von der Person der oder des Kranken noch weit entfernt. Es schließt sich die letzte Frage an: kann man Indikationen ,,personalisieren‘‘, wenn man damit die Berücksichtigung höchstpersönlicher Verhältnisse, Strebungen, Gedanken, Gefühle, Konflikte eines Patienten meint. In Grenzen ist dies möglich; aber die Grenzen scheinen mir enger gezogen, als man denken möchte. Dazu das folgende Beispiel: Ein seinem Arzt bekannter Patient steht auf dem Standpunkt: ,,Nur keine Chemie, Herr Doktor.‘‘ Dahinter steht ein lange ausgearbeitetes komplexes kognitives System. Soll der Arzt nun angesichts einer gerade aufgetretenen und prognostisch ungünstigen rheumatoiden Arthritis von einer fachgerechten Indikationsstellung absehen? Darf er sich nur im Arsenal der seines Erachtens unzureichenden Homöopathika umsehen? Oder bleibt er bei seiner allopathischen Indikation, die er aus professionellen aber auch juristischen Gründen mitteilt — die der Patient natürlich ablehnen kann? Eine weitere Einschränkung ergibt sich daraus, dass der Begriff Indikation dort an Geltung verliert, wo es keine klaren Regeln mehr gibt, wo erfahrungsgeleitete Intuition, Spontaneität, Imagination notwendig sind. Allerdings lauern dort, wo es ganz persönlich wird, auch Gefahren, einerseits die der imperialen Einmischung in das Leben Fremder und andererseits die der Entprofessionalisierung. Nicht umsonst verzichten Ärzte in der Regel darauf, ihre nächsten Angehörigen selbst zu behandeln — aus persönlichen Gründen sozusagen.

Zum Abschluss Die stärksten Konzepte zur Personalisierung stammen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Namen Sigmund Freud und Viktor von Weizsäcker müssen als Andeutungen genügen. Schon im Zuge einer berühmten Debatte in Heft 8 des Studium Generale von 1953 gab es skeptische Stimmen

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zur Epistemologie einer weitgehenden Subjektivierung der Medizin. Zu nennen sind etwa die Beiträge von von Gebsattel, Martini und Zutt. Auch Karl Jaspers beteiligte sich: ,,Für uns endliche menschliche Wesen, . . ., gilt allgemein der Satz: ohne Objektivierung ist kein Erkennen und kein zweckhaftes Eingreifen möglich [10]. Heute kann man (unter ganz anderer Perspektive) noch skeptischer sein als damals: sind die Bedingungen der Möglichkeit patientenzentrierter Medizin unter den herrschenden Umständen z.B. in der Krankenhauswirtschaft noch gegeben? Die Verweildauer eines Falles auf einer internistischen Station beträgt weniger als eine Woche, die verantwortlichen Ärzte und Pflegenden wechseln z.T. täglich, die Arbeitsorganisation vereinzelt humane Impulse, die klinischen Pfade gehorchen nicht nur der medizinischen, sondern auch der betriebswirtschaftlichen Logik, ökonomisch orientierter Indikationsschwindel ist nicht selten und gerne hüllt er sich in das Gewand der kunstvoll induzierten Bedürfnisse angeblich souveräner Patienten und Kunden. In solchen Situationen wird es zunehmend unmöglich, die internen Evidenzen bipersonal [11] aufzubauen, die Johann Behrens im Auge hat. Und der ,,Nächste‘‘ und Übernächste etc. drängen sich so in den Vordergrund, dass der hier und jetzt anwesende Patient nur noch als typischer Gegenstand, kaum noch als individueller Fall und schon gar nicht mehr als personales Gegenüber wahrgenommen werden kann.

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Literatur

[11] [1] Kudlien F. ,,Endeixis‘‘ as a scientific term: A) Galen’s usage oft he word (in medicine and logic). In: Kudlien F, Durling

J, editors. Galen’s method of healing. Leiden: Brill; 1991. p. 103—11. Encyclopaedia Britannica. Indication. Ediburgh: Bell and MacFarquhar; 1771. Gmelin. Anzeige, indicatio. In: Ersch JS, Gruber JG, editors. Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste. Leipzig: Gleditsch; 1820. p. 365—6. Anschütz F. Indikation zum ärztlichen Handeln. Berlin u.a.O: Springer; 1982. Eulenburg A. Indicationen (Heilanzeigen, Heilaufgaben). Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde. Urban & Schwarzenberg: Wien und Leipzig; 1896. p. 520—3. Behrens J, Langner G, Berg A, Fleischer S. Inkludierende individuelle Indikation und die handlungswissenschaftliche Rationalisierung der Evidencebasierung: Jedem nach seinen Bedürfnissen. In: Behrens J, Weber A, Schubert M, editors. Von der fürsorglichen Bevormundung über die organisierte Unverantwortlichkeit zur professionsgestützten Teilhabe? Opladen u.a. O: Budrich; 2012. p. 259—72. Welti F. § 9 Wunsch- und Wahlrechte der Leistungsberechtigten. In: Lachwitz K, Schellhorn W, Welti F, editors. Handkommentar zum Sozialgesetzbuch IX. Neuwied: Luchterhand; 2002. p. 87—97. Behrens J. EbM ist die aktuelle Selbstreflexion der individualisierten Medizin als Handlungswissenschaft. Zeitschrift Evidenz Fortbildung Qualität im Gesundheitswesen 2010;104:617—24. Weiner SJ, Schwartz A, Weaver F, Goldberg J, et al. Contextual errors and failures in individualizing patient care. Annals Internal Medicine 2010;153:69—75. Jaspers K. Arzt und Patient. Studium Generale 1953;6:435—43, hier S. 437. Christian P. Das Personverständnis im modernen medizinischen Denken. Tübingen: Mohr; 1952.

Deutschlandweite Befragung zum Einführungsstand des klinischen Risikomanagements

Hintergrund Seit Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes im Februar 2013 und der Festlegung von Mindeststandards für das klinische Risikomanagement (kRM) durch den Gemeinsamen Bundesausschuss ist die Einführung von kRM für alle zugelassenen Krankenhäuser in Deutschland verpflichtend. Studienziel und Durchführung Ziel der Befragung ist die Abbildung des Status quo und die Identifikation von Schlüsselfaktoren für die erfolgreiche Implementierung von kRM. Zudem streben wir die Überführung in ein kontinuierliches Monitoring an, um die Effekte der gesetzlichen Verpflichtung, mögliche Trends sowie den ggf. eingeforderten

Unterstützungsbedarf der Krankenhäuser aufzuzeigen. Aufbauend auf der 2010 durch das Institut für Patientensicherheit des Universitätsklinikums Bonn durchgeführten Befragung zum Einführungsstand des kRM findet von März bis Mai 2015 eine erneute Erhebung statt. Der Versand der Zugangsdaten für die OnlineBefragung erfolgt Anfang März. Rückmeldung der Ergebnisse Teilnehmende Krankenhäuser und Reha-Kliniken erhalten einen institutionenspezifischen Bericht. Dieser dokumentiert einerseits den Erfüllungsgrad des kRM Mindeststandards im eigenen Haus, ermöglicht aber auch ein Benchmarking mit ver-

ZEFQ-SERVICE: TERMINANKÜNDIGUNG gleichbaren Häusern. Damit zeigt der institutionenspezifische Bericht das eigene Entwicklungspotential auf und kann als interne Diskussionsund Entscheidungsgrundlage dienen. Langfristig liefern die Ergebnisse der Befragung Impulse für die Steuerung des kRM auf nationaler Ebene. Weitere Informationen finden Sie unter: http://www.ifpsbonn.de/ projekte-1/onlinebefragung-krm Korrespondenzadresse: Institut für Patientensicherheit Fiona Mc Dermott Stiftsplatz 12 53111 Bonn E-Mail: [email protected] www.ifpsbonn.de