Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in Deutschland: Allianz von Staat und Ärzteschaft

Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in Deutschland: Allianz von Staat und Ärzteschaft

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www.elsevier.de/zefq Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) 102 (2008) 582–586

Schwerpunkt V

Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in Deutschland: Allianz von Staat und A¨rzteschaft Bruno Mu¨ller-Oerlinghausen, Wolf-Dieter Ludwig Robert-Ro¨ssle-Klinik im HELIOS Klinikum Berlin-Buch, Klinik fu¨r Ha¨matologie, Onkologie u.Tumorimmunologie, Charite´, Campus Berlin-Buch

Zusammenfassung fassung und Sammlung von unerwu¨nschten Arzneimittelwirkungen, sondern insbesondere die ada¨quate Kommunikation der daraus resultierenden Erkenntnisse an A¨rzte, Apotheker und Patienten sowie die Entwicklung und Implementierung geeigneter intelligenter Systeme, um potentielle Fehler bei der Verordnung zu verhindern. Um diesen Prozess aktiv voranzutreiben, hat die Bundesregierung im November 2007 den Aktionsplan 2008/2009 zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicher’’ heit in Deutschland publiziert. Er schla¨gt ca. 40 einzelne Maßnahmen vor, die nachstehend skizziert und kommentiert werden. ’’

Aus vielen internationalen Studien geht hervor, dass die praktisch geu¨bte Arzneitherapie nicht den Grad von Sicherheit besitzt, den sie theoretisch haben ko¨nnte. Fu¨r durch Arzneimittel induzierte Scha¨digungen, die bei Anwendung der im Prinzip vorhandenen Erkenntnisse in ca. 50% der Fa¨lle vermeidbar wa¨ren, sind prima¨r Verordnungsfehler verantwortlich. In vielen Fa¨llen liegt eine falsche, meist zu hohe Dosierung bzw. die Nicht-Beru¨cksichtigung von Kontraindikationen oder speziellen Patientenrisiken zugrunde. Eine Sta¨rkung der Pharmakovigilanz in der Bundesrepublik ist die Voraussetzung fu¨r eine Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS). Pharmakovigilanz meint in diesem Sinne keineswegs nur die Er-

Schlu¨sselwo¨rter: Arzneimitteltherapie, Pharmakovigilanz, Behandlungsfehler, O¨ffentliches Gesundheitswesen, Bundesrepublik Deutschland

Improving Drug Safety in Germany: An Alliance between the Government and the Medical Profession Summary According to a multitude of international studies the safety of general drug treatment practice is not up to standard. It has been demonstrated that about 50% of adverse drug reactions are avoidable and that their main cause are medication errors. Such errors have often been related to dosing and non-consideration of contraindications and the individual patient’s risk profile. In order to resolve this unacceptable situation pharmacovigilance has to be strengthened. Pharmacovigilance in this context does not only imply the assessment and collection of adverse drug reactions,

but also the communication of treatment risks to the medical community as well as to pharmacists and patients, and the development and implementation of intelligent electronic prescribing systems. The Federal Government of Germany in co-operation with the Drug Commission of the German Medical Association has decided on a bunch of about 40 single measures to enhance drug safety in this country. This project was issued in November 2007 by the Federal Ministry of Health. The Drug Commission will be responsible for the co-ordination of any future actions.

Key words: drug safety, pharmacovigilance, medication error, public health, Federal Government of Germany Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. B. Mu¨ller-Oerlinghausen, Bartningallee 11-13, 10557 Berlin. Tel.: 030-23 36 29 40; fax: 030-23 36 29 35.

E-Mail: [email protected] (B. Mu¨ller-Oerlinghausen).

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In Deutschland befinden sich ca. 55.000 zugelassene und registrierte Arzneimittel mit 12.000 (!) verschiedenen Wirkstoffen auf dem Markt. Darunter fallen auch 20.000 verschreibungspflichtige Arzneimittel – mit ca. 2.000 Wirkstoffen. Zwei Drittel dieser Medikamente werden a¨rztlich verordnet. Das Verordnungsspektrum und -volumen werden ja¨hrlich im Arznei’’ [1]. verordnungs-Report dargestellt Schon in fru¨heren Untersuchungen wurde festgestellt, dass der deutsche Vertragsarzt mit einem durchschnittlichen Praxissortiment von ca. 200–300 Wirkstoffen arbeitet (bei Spitzenwer’’ ten von 41000 Wirkstoffen); Sorge bereitete aber der hohe Prozentsatz ja¨hrlich ausgetauschter Wirkstoffe [2]. Angesichts dieser Basiszahlen und der Tatsache, dass bei sehr vielen Patienten, insbesondere den a¨lteren unter ihnen, mehrere Medikamente gleichzeitig verordnet werden, kann die Ha¨ufigkeit unerwu¨nschter Arzneimittelwirkungen nicht erstaunen. Moderne Arzneimitteltherapie ist ein Hochrisikoprozess [3]. Schon Michel de Montaigne (1532–1592) schrieb: Die a¨rztlichen ’’ u¨berzeugt, Schriftsteller sind sowieso dass es kein Medikament ohne scha¨dliche Nebenwirkungen gebe. Wenn also selbst die uns heilsamen Mittel auch Unheilsames anrichten, was werden dann erst jene anrichten, mit denen man uns von vornherein auf unheilsame Weise traktiert? [4]. Unerwu¨nschte Arzneimittelwirkungen (UAW) sind ein kalkuliertes Risiko jeder Arzneitherapie und deshalb nicht grundsa¨tzlich vermeidbar. UAW aber, die auf Nichtanwendung vorhandenen Wissens zuru¨ckgehen, ko¨nnen und sollten wohl vermieden werden. Hierfu¨r tra¨gt die A¨rzteschaft neben staatlichen Beho¨rden ’’

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1 Der Begriff des Verordnungsfehlers kann in verschiedener Weise definiert werden. Die US-amerikanische National Patient Safety Association hat sich die folgende Definition entsprechend der Terminologie des US National Co-ordinating Council for Medication Error Reporting and Prevention zu eigen gemacht: Ein Verordnungsfehler ist jedes vermeidbare Ereignis, ’’ das potentiell oder tatsa¨chlich zu einer inada¨quaten Verordnung oder einer Scha¨digung des Patienten fu¨hrt, wobei die Verordnung von Gesundheitsexperten, Patienten oder Verbrauchern verantwortet wird .

und pharmazeutischen Herstellern die prima¨re Verantwortung1. Um das Problem zu illustrieren, seien einige Zahlen genannt, die sich in einschla¨gigen Publikationen immer wieder finden, (z.B. [3,5,6]): – 6–7% aller Krankenhausaufnahmen verursacht durch schwere UAW – dadurch Erho¨hung der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer um ca. 2 Tage; bis zu 100.000 vermeidbare Todesfa¨lle ja¨hrlich in den Krankenha¨usern der USA [7] – Kosten der UAW so hoch wie die der verursachenden Arzneimittel (z.B. [8]) – 1998–2005 Anstieg der Zahl spontan gemeldeter schwerer und to¨dlicher UAW auf das 2,6-fache in den USA [9] – 4% aller neu eingefu¨hrten Wirkstoffe mu¨ssen wegen UAW zuru¨ckgezogen werden – 19% aller Scha¨den in der Medical Practice Study bedingt durch Arzneitherapie – ca. die Ha¨lfte davon als vermeidbar eingescha¨tzt. UAW ko¨nnen grundsa¨tzlich in drei Kategorien unterteilt werden: a. Nicht vermeidbare (nicht vorhersehbar bzw. Auftreten trotz korrekter Anwendung) b. Kalkuliertes Risiko der Therapie (z.B. Durchfall bei antibiotischer Therapie oder Blutung bei der Gabe blutverdu¨nnender Medikamente) und c. Vermeidbare. Es kann nach der derzeitigen internationalen Studienlage kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die ha¨ufigste Ursache vermeidbarer UAW inada¨quate Verordnungen sind1. In anderen Worten: Die Verordnung ist fehlerhaft, und die aufgetretene UAW wa¨re bei Anwendung anerkannter Regeln vermeidbar gewesen. Die Sicherheit der Arz’’ neimittelbehandlung ist die Sicherheit des Prozesses der Arzneimittelbehandlung und nicht nur, aber auch die Sicherheit des Arzneimittels [10]. Die ha¨ufigsten Ursachen von Medikationsfehlern sind:

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Einleitung

– Dosierungsfehler (davon mehr als die Ha¨lfte wegen Nicht-Beru¨cksichtigung einer eingeschra¨nkten Nierenfunktion) – Missachtung von Kontraindikationen – Medikamenteninteraktionen und – Nicht-Beru¨cksichtigung bekannter Allergien.

1. Notwendigkeit einer Kooperation von Staat und A¨rzteschaft zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit Nachdem in den angloamerikanischen La¨ndern die Notwendigkeit einer verbesserten Sicherheit der Arzneitherapie schon seit mehreren Jahren als gemeinsame Aufgabe von Staat und A¨rzteschaft erkannt worden ist (vgl. z.B. [11,17]), sind auch in Deutschland wichtige Weichen im Sinne einer Allianz von Staat und A¨rzteschaft gestellt worden. Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit bei medikamento¨ser Therapie sind neben den USA auch in einigen europa¨ischen La¨ndern inzwischen gesetzlich vorgeschrieben. In Deutschland hat der Sachversta¨ndigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in seinem Jahresgutachten 2003 und 2007 [12] ausdru¨cklich empfohlen, der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) versta¨rkte Aufmerksamkeit zu widmen. Eine folgerichtige Konsequenz ist der vom Bundesministerium fu¨r Gesundheit in Zusammenarbeit mit der Arzneimittelkommission der deutschen A¨rzteschaft (AkdA¨) im November 2007 vorgelegte Aktionsplan zur Verbesserung der Arzneitherapiesicherheit in Deutschland [13]. Damit wird auch dem in der Bevo¨lkerung wohl zunehmendem Eindruck, die a¨rztliche Therapie sei ha¨ufig fehlerhaft und fu¨hre zu Scha¨digungen des Patienten, in kreativer Weise Rechnung getragen (Tabelle 1): Der Aktionsplan der Bundesregierung besitzt verschiedene, nachfolgend dargestellte Schwerpunkte und geht grundsa¨tzlich davon aus, dass die Risiken beim Umgang mit Arzneimitteln

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Angeho¨rige als Opfer von Behandlungsfehlern Fehler bei med. Therapie yschwerwiegende Folgen yDauerscha¨den als Folge yTod als Folge

42% 24% 11% 10%

Blendon RJ et al., [14].

– Etablierung einer besseren Sicherheitsstruktur fu¨r die AMTS, – Verbesserung der Informationen u¨ber Arzneimittel, – Entwicklung und Einsatz von Strategien zur Risikovermeidung bei der Anwendung von Arzneimitteln, – Fo¨rderung der Forschung auf dem Gebiet der AMTS und – Organisation der Umsetzung und Fortschreibung des Aktionsplanes.

2. Etablierung einer besseren Sicherheitskultur 2.1. Sensibilisierung der Patienten und Patientinnen bezu¨glich der Risiken der Arzneimitteltherapie Patienten mu¨ssen durch eine laienversta¨ndliche Aufkla¨rung so weit wie mo¨glich in die Lage versetzt werden, eine eigenverantwortliche Nutzen-Risiko-Abwa¨gung der Arzneimitteltherapie vorzunehmen. Nur so kann – ganz wesentlich auch durch entsprechende Aktivita¨t der Apotheker – dem Patienten das medizinische Modell seiner Krankheit und Therapie vermittelt und seine Mitwirkung sowohl an der Ver-

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besserung der Wirksamkeit als auch der Reduktion der Risiken seiner pharmakologischen Therapie geweckt werden. In diesem Zusammenhang erscheint es wichtig, dass die dem Patienten zur Verfu¨gung stehenden Informationsquellen, wie etwa Internet, Krankenkassenbroschu¨ren, Selbsthilfegruppen etc., besser aufeinander abgestimmt werden. Wichtig erscheint insbesondere die bislang keineswegs vorauszusetzende Unabha¨ngigkeit dieser Information von pharmazeutischen Interessen2.

2.2. Sta¨rkere Beru¨cksichtigung der AMTS bei der Aus-, Weiter- und Fortbildung Trotz verschiedener, auch staatlicher Initiativen besitzt die Kenntnis klinischpharmakologischer Lehrinhalte incl. Aspekten der AMTS bislang weder in der a¨rztlichen Ausbildung noch Weiterund Fortbildung den notwendigen Stellenwert. Hier sind Verbesserungen und entsprechende Initiativen der medizinischen Fakulta¨ten wie auch der a¨rztlichen Selbstverwaltung nachdru¨cklich gefordert. Insbesondere muss der nach wie vor starke Einfluss der pharmazeutischen Hersteller auf die a¨rztliche Fortbildung vermindert, am besten abgeschafft werden. Es geho¨rt auch zum Programm der Bundesregierung, durch die regelma¨ßige Abhaltung des Kongresses fu¨r Patientensicherheit bei medikamento¨ser Therapie die im Aktionsplan angesprochenen Aspekte in der A¨rzte2 Ein gutes Beispiel hierfu¨r ist die Laien-Zeitschrift Gute Pillen – Schlechte Pillen , die von den vier ’’ unabha¨ngig-kritischen deutschen Arzneimittelbulletins (ARZNEIMITTELBRIEF, arznei-telegramm, Arzneiverordnung in der Praxis, Pharma-Brief) gemeinsam herausgegeben wird.

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den Gesamtprozess der Arzneimittelbehandlung und nicht nur, aber auch die Sicherheit des Arzneimittels selbst betreffen. Dies bedeutet, dass einerseits Defizite bei der Zulassung und Marktu¨berwachung von Arzneimitteln reduziert, gleichzeitig aber durch geeignete Methoden (z.B. Critical Incident Reporting System, CIRS) Risiken im gesamten Prozess der Arzneimittelbehandlung erkannt, analysiert und verringert werden mu¨ssen. Der Aktionsplan umfasst folgende Schwerpunkte:

und Apothekerschaft, bei den Patienten sowie in der O¨ffentlichkeit pra¨sent zu halten.

3. Verbesserte Information zu Arzneimitteln Eine wesentliche Voraussetzung verbesserter Pharmakovigilanz3 ist die Bereitstellung unabha¨ngiger, kompetenter, aktueller Informationen u¨ber Arzneimittel, die sowohl Fachkreisen als auch Laien zuga¨nglich sind. Deshalb beinhaltet der Aktionsplan auch verschiedene Maßnahmen, wie z.B. eine Intensivierung der Kommunikation zu Arzneimittelrisiken durch die Bundesoberbeho¨rden und eine Verbesserung der teilweise inakzeptabel heterogenen Fachinformationen bzw. Packungsbeilagen [15]. Folgerichtig heißt es im Aktionsplan: So mu¨ssen z.B. hinsichtlich ’’ der Wechselwirkungen die in den Fachinformationen aufgenommenen Daten einer mo¨glichst einheitlichen Systematik folgen und in den verschiedenen Fachinformationen aller betroffenen Fertigarzneimittel konsistent sein. Im Hinblick auf die Dosierung bei Niereninsuffizienz mu¨ssen die Fachinformationen solche Angaben enthalten, die eine systematische Berechnung der notwendigen Dosisanpassung ermo¨glichen . Solche Informationen sollen zentral, beispielsweise u¨ber das Arzneimittelinformations-Portal des Deutschen Instituts fu¨r Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), zur Verfu¨gung gestellt werden. In diesem Zusammenhang muss auch dafu¨r gesorgt werden, dass der Zugriff auf relevante Informationen incl. der European Public Assessment Reports (EPAR) der Europa¨ischen Agentur fu¨r die Beurteilung von Arzneimitteln (EMEA), aber auch auf z.B. RoteHand-Briefe fu¨r Fachkreise und ggf. Laien gebu¨hrenfrei und komplikationslos mo¨glich ist. Eine besondere Form der Information wa¨re es zudem, Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen speziell zu kennzeichnen, ’’

Tabelle 1. Beobachtete Medikationsfehler bei Familienangeho¨rigen (Umfrage bei allgemeiner Bevo¨lkerung; n ¼ 1.207).

3 Pharmakovigilanz ist hier in einem modernen erweiterten Sinne gemeint, bedeutet also keineswegs nur die Erfassung von Nebenwirkungen, sondern auch die Maßnahmen zur Risikominimierung incl. verbesserter Risikokommunikation [5].

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4. Entwicklung und Einsatz von Strategien zur Risikovermeidung bei der Anwendung von Arzneimitteln Ein wesentlicher Fortschritt in der AMTS und damit no¨tigen Optimierung der medikamento¨sen Therapie ist nur mo¨glich, wenn zum einen ein breites Bewusstsein fu¨r die existierende und nicht zu akzeptierende Fehlerhaftigkeit unserer Therapie entsteht und gleichzeitig geeignete Strategien zur Risikovermeidung entwickelt und implementiert werden. Hierzu heißt es im Aktionsplan: Die Analyse des Medi’’ kann Risikosituatiokationsprozesses nen verifizieren, deren Vermeidung zur Verbesserung der AMTS notwendig ist. Dazu sind differenzierte Strategien zu entwickeln und systematisch einzusetzen. Der diesbezu¨gliche Kenntnisstand in Deutschland ist unzureichend und bedarf noch wissenschaftlicher Vorarbeit. Unabha¨ngig davon ist eine Reihe von Risikosituationen empirisch bekannt, denen bereits jetzt gezielt entgegengewirkt werden sollte. Dazu geho¨rt nicht nur die regelma¨ßige Nutzen-Risiko-Abwa¨gung der Therapie durch den Arzt gemeinsam mit dem Patienten vor Beginn einer Arzneiverordnung, sondern die regelma¨ßige kritische Medikationsu¨berpru¨fung im Verlauf der Therapie, bei neu auftretenden Begleiterkrankungen, beim Wechsel des behandelnden Arztes, beim U¨bergang von stationa¨rer zu ambulanter Versorgung etc. In anderen La¨ndern, wie z.B. Kanada oder den USA, ist eine solche Medikationsu¨berpru¨fung eine o¨ffentlich unterstu¨tzte wesentliche Strategie zur Verbesserung der Patientensicherheit geworden . Mit der Einfu¨hrung der elektronischen Gesundheitskarte in Deutschland werden sich die Bedingungen fu¨r eine fla¨chendeckende individuelle Medikationsu¨berpru¨fung wesentlich verbessern. Die Ablehnung der elektronischen Gesundheitskarte auf dem diesja¨hrigen Deutschen A¨rztetag zeigte, dass bei

vielen a¨rztlichen Funktionstra¨gern das Bewusstsein fu¨r die Notwendigkeit einer verbesserten AMTS und des großen Stellenwertes der Gesundheitskarte in diesem Kontext noch entwicklungsbedu¨rftig ist. Zur Risikoreduktion geho¨rt auch die Definition spezieller Patientengruppen, bei denen ein u¨berdurchschnittlich hohes Risiko fu¨r UAW besteht, wie z.B. Kinder und Jugendliche, Schwangere, Patienten in ho¨herem Lebensalter etc. Empfehlungen zur Arzneimitteltherapie dieser Patientengruppen mu¨ssen in Deutschland entwickelt und implementiert werden. Ganz besondere Bedeutung kommt – insbesondere im Zusammenhang mit der bevorstehenden Einfu¨hrung der elektronischen Gesundheitskarte und damit verbunden des elektronischen Rezeptes – der Entwicklung und Testung praxisnaher Verordnungssoftware zu, die mit einer Rechner-unterstu¨tzten automatischen Pru¨fung auf Kontraindikationen, Wechselwirkungen oder ada¨quate Dosierung ausgestattet ist. Denn es ist davon auszugehen, dass die Information im Prinzip vorhanden ist, aber u¨berwiegend nicht in einer praxistauglichen Form [16].

5. Forschung und Organisation In anderen La¨ndern, wie in den USA, hat seit ca. 10 Jahren, d.h. nach dem Erscheinen des Berichtes des Institute of Medicine ‘‘To err is human’’ [17], eine intensive Forschung zu den Bedingungen einer verbesserten Patientensicherheit eingesetzt. Deutschland hat auf diesem Gebiet noch Nachholbedarf. Es wurde deshalb vorgeschlagen, dass entsprechende Forschungsschwerpunkte auch in die Rahmenpla¨ne des Bundesministeriums fu¨r Gesundheit (BMG) und des Bundesministeriums fu¨r Bildung und Forschung bald aufgenommen werden. Die Gesamtkoordination der zahlreichen von der Regierung in Aussicht genommenen Maßnahmen wird entsprechend dem Wunsch des BMG in den Ha¨nden der Arzneimittelkommission der deutschen A¨rzteschaft liegen. Diese Arbeit ist inzwischen angelaufen.

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6. Fazit Der Sachversta¨ndigenrat hat schon 2003 [18] eine Neuorientierung auf dem Gebiet der Arzneitherapiesicherheit gefordert: Ein systematisches, vor’’ beugendes Fehlermanagement muss zu einem Qualita¨tsmerkmal der Medizin werden (,neue Fehlerkultur‘), welches den Anspruch a¨rztlicher Unfehlbarkeit und die Neigung, lediglich nach einzelnen Schuldigen zu suchen, u¨berwindet . Es ist also no¨tig, die Patientensicherheit bei medikamento¨ser Therapie nicht nur als Angelegenheit des einzelnen Arztes, sondern als nationale Aufgabe zu begreifen. Der Aktionsplan 2008/2009 zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in Deutschland stellt sich diesem Anspruch. Aller Voraussicht nach sind damit relevante Fortschritte erreichbar, deren Einsparpotential den notwendigen finanziellen Aufwand vermutlich deutlich u¨bersteigen wird. ’’

so wie es in Großbritannien bereits u¨blich ist.

Literatur [1] Schwabe U, Paffrath D. Arzneiverordnungs-Report 2007. Heidelberg: Springer Medizin Verlag; 2008. [2] Friebel H, Scha¨fer T, Balthasar R, Dinnendahl V, Hoffmans-Hohn M, Mu¨ller-Oerlinghausen B, et al. Arzneimitteltransparenz und -beratung in Dortmund – Zum Verordnungsverhalten niedergelassener A¨rzte. Pharmazeutische Zeitung 1987;132: 1981–7. [3] Grandt D, Friebel H, Mu¨ller-Oerlinghausen B. Arzneitherapie(un)sicherheit – Notwendige Schritte zur Verbesserung der Patientensicherheit bei medikamento¨ser Therapie. Dtsch A¨rztebl 2005;102:A509–15. [4] Hans Stilett, Herausgeber. Michel de Montaigne fu¨r Mediziner und ihre Opfer. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag; 1999. [5] Arzneimittelkommission der deutschen A¨rzteschaft. Pharmakovigilanz. Arzneiverordnung in der Praxis (Sonderheft) 2005. [6] Zipper SG. Medical-Risk-Management. Med Klinik 2006;101:796–803. [7] Rice B. Do doctors kill 80,000 patients a year? Med Econ 1994;71:46–56. [8] Pirmohamed M, James S, Meakin S, Green C, Scott AK, Walley T, et al. Adverse drug reactions as cause of admission to hospital. BMJ 2004;329:15–9. [9] Moore TJ, Cohen MR, Furberg CD. Serious adverse drug events reported to the Food and Drug Administration, 1998–2005. Arch Intern Med 2007;167:1752–9.

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ARTICLE IN PRESS [10] Hart D, Wille H. Empfehlungen zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit in Kinderkliniken. In: Bundesa¨rztekammer, Herausgeber. Fortschritt und Fortbildung in der Medizin. Ko¨ln: Deutscher A¨rzte-Verlag; 2008: im Druck. [11] Smith J. Building a safer NHS for patients Improving medication safety. Department of Health, Great Britain, London, 2004. [12] Sachversta¨ndigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Kooperation und Verantwortung – Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. Gutachten 2007. Deut-

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scher Bundestag; Drucksache 16/6339. Berlin, 2007. [13] Bundesministerium fu¨r Gesundheit. Aktionsplan 2008/2009 zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) in Deutschland, 2007. [14] Blendon RJ, DesRoches CM, Brodie M, Benson JM, et al. Views of practicing physicians and the public on medical errors. N Engl J Med 2002;347:1933–40. [15] Schulte van Werde M, Criege´e-Rieck M, Christ P, Munter K-H. Rechnergestu¨tzter Vergleich von Fachinformationen mit dem Drug Information Management System (DIMAS). Pharm Ind 2008;70:187–96.

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