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ZEFQ-10436; No. of Pages 10
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Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) journal homepage: http://www.elsevier.com/locate/zefq
Wirksamkeit technischer Unterstützungssysteme zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit – Evaluationsergebnisse des Arzneimittelkontos NRW Efficacy of decision support systems to improve medication safety – results of the evaluation of the ‘‘Arzneimittelkonto NRW’’ Julian Witte ∗ , Stefan Scholz, Bastian Surmann, Daniel Gensorowsky, Wolfgang Greiner Universität Bielefeld, Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement, D-33501, Bielefeld, Deutschland
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Artikel-Historie: Eingegangen: 31. Juli 2018 Revision eingegangen: 4. Oktober 2019 Akzeptiert: 14. Oktober 2019 Online gestellt: xxx
Schlüsselwörter: Arzneimitteltherapiesicherheit Informationstechnologie Entscheidungsunterstützende Systeme Potenziell inadäquate Verschreibungen
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Article History: Received: 31 July 2018 Received in revised form: 4 October 2019 Accepted: 14 October 2019 Available online: xxx
Keywords: Medication safety Information technology Decision support systems Potentially inadequate medication
z u s a m m e n f a s s u n g Polypharmazie erhöht insbesondere bei alten und hochalten Personen das Risiko vermeidbarer unerwünschter Arzneimittelwirkungen. Die Reduzierung potenziell inadäquater Verschreibungen (PIM), eine Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) sowie ein generell rationalerer Arzneimittelgebrauch sind Ziele verschiedener politisch flankierter Maßnahmen. Ziel dieser einarmigen prospektiven Interventionsstudie ist es, das Potenzial eines verordnungssynchronen technischen Entscheidungsunterstützungssystems (,,Arzneimittelkonto NRW‘‘) zur Verbesserung der AMTS in der ambulant-ärztlichen Versorgung zu untersuchen. Durch 15 aktiv an der Studie teilnehmende Ärzte konnten 874 Patienten rekrutiert werden. Für 654 Patienten lagen Verordnungs- und AMTS-Prüfdaten vor; für 86% dieser Patienten waren zudem Beobachtungsdaten von wenigstens 12 Monaten verfügbar. Die PIM-Prävalenz sank innerhalb des Beobachtungszeitraums um 11,3% (648/575 Verordnungen), jedoch nicht auf statistisch signifikantem Niveau (p = .157). Das kumulierte Verordnungsvolumen nach Einführung des Arzneimittelkontos liegt im Beobachtungszeitraum signifikant unterhalb der Menge verordneter Medikamente vor Einführung des Arzneimittelkontos (−14,1%). Auf Interaktions- und Doppelverordnungsmeldungen konnten konstant hohe Umsteuerungsquoten von bis zu 85% beobachtet werden. Technische Unterstützungssysteme haben das Potenzial, eine sicherere und dabei kostensparende Arzneimittelversorgung zu unterstützen. Die vorliegende Pilotstudie liefert hierfür erstmalig Anhaltspunkte im Kontext der ambulanten Regelversorgung in Deutschland. Zum Aufbau eines belastbaren Evidenzkörpers sind jedoch weitere Untersuchungen notwendig. Ein besonderer Fokus sollte dabei auf der qualitativen Begleitung der Studien und der Einbindung weiterer Akteure im Versorgungsprozess liegen.
a b s t r a c t Polypharmacy increases the risk of adverse drug reactions, especially in the elderly. Therefore, the reduction of potentially inadequate medication (PIM), an improvement in drug therapy safety and, in general, a more rational use of drugs is an objective of various interventions. The aim of this prospective single-arm interventional study is to investigate the potential of a decision support system (DSS; ‘‘Arzneimittelkonto NRW’’) to improve medication safety in outpatient care. 15 primary care physicians participating in the study recruited 874 patients. Prescription data and results of medication safety tests were available for 654 patients. Data of at least 12 months were available for 86% of these patients. PIM prevalence declined within 12 months (−11.3%), but not at a statistically significant level. The number of prescriptions after the introduction of the DSS is significantly below the prescription volume before the introduction of the DSS (−14.1%). Constantly high alteration rates of up to 85% were observed, for example, on drug interaction system warnings made by the DSS.
∗ Korrespondenzadresse. Universität Bielefeld, Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement. PO-BOX 100131, D-33501. +49 521 106 4264, Bielefeld. E-mail:
[email protected] (J. Witte). https://doi.org/10.1016/j.zefq.2019.10.002 1865-9217/
Please cite this article in press as: Witte J, et al. Wirksamkeit technischer Unterstützungssysteme zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit – Evaluationsergebnisse des Arzneimittelkontos NRW. Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2019), https://doi.org/10.1016/j.zefq.2019.10.002
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Technical decision support systems have the potential to support a safer and cost-saving drug use. For the first time, this pilot study provides evidence for this in the context of standard outpatient care in Germany. However, further investigations are necessary to establish a robust body of evidence. A particular focus should be on the qualitative monitoring of the studies and the involvement of other actors in the care process.
Hintergrund Polypharmazie und Arzneimitteltherapiesicherheit Patienten ab einem Alter von 65 Jahren sind eine bedeutende Zielgruppe der Pharmakotherapie. Innerhalb dieser Altersgruppe steigt das Risiko für das parallele Auftreten mehrerer therapiebedürftiger Erkrankungen signifikant an [1]. Multimorbidität geht meist mit einer sogenannten Polypharmazie einher, welche durch das Fehlen einer allgemeingültigen Definition häufig in ,,minor polypharmacy‘‘ als gleichzeitiger Gebrauch von zwei oder mehr bzw. als ,,major polypharmacy‘‘ beim zeitgleichen Gebrauch von fünf oder mehr Arzneimitteln differenziert wird [2,3]. In Deutschland erhält bereits jeder dritte (36%) Arzneimittelpatient im Alter von über 65 Jahren mehr als fünf Medikamente, in der Altersgruppe der 85-Jährigen sind es sogar 42% [4]. Nationale sowie internationale Beobachtungsstudien deuten darüber hinaus auf eine altersassoziierte Zunahme langfristig parallel eingenommener Arzneimittel hin [5]. Dabei ist eine leitliniengerechte Therapie aller Erkrankungen häufig schwierig umzusetzen und selten in Studien an älteren Patienten geprüft. Zudem sind im Alter auftretende pharmakokinetische und pharmakodynamische Veränderungen zu beachten. Diese bedingen, dass bestimmte Medikamente bei der Abgabe an ältere Patienten ein hohes Risiko unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) bergen und daher potenziell inadäquat für diese Patienten sind (potenziell inadäquate Medikation - PIM). Vermeidbare UAW resultieren daraus, dass ein Arzneimittel ungewollt nicht bestimmungsgemäß eingesetzt wird. Sie sind auf Medikationsfehler zurückzuführen, die im gesamten Medikationsprozess bei der Verordnung, der Distribution, der Abgabe oder der Applikation auftreten können. Diese äußern sich etwa in falscher Indikation, falscher Dosierung, Nichtbeachtung von Kontraindikationen oder Warnhinweisen, falscher Verabreichung oder Einnahme, Kommunikationsfehlern oder Verwechslungen [6,7]. Entsprechende Medikationsfehler resultieren insofern meist nicht aus individuellem Fehlverhalten, sondern aus suboptimalen Abläufen im Medikationsprozess, die systematisch analysiert und verbessert werden sollten. Polymedikation stellt in diesem Zusammenhang erhöhte Anforderungen an am Medikationsprozess beteiligten Ärzte, Apotheker und Patienten. Dabei ist zu beobachten, dass Frauen aufgrund des Erreichens eines höheren Lebensalters eher von Arzneimittelrisiken betroffen sind [8]. Schätzung über die Prävalenz unerwünschter Arzneimittelwirkungen medikamentös behandelter Patienten sind für den deutschen Versorgungskontext nur eingeschränkt verfügbar [9]. Bei ungefähr 3–6% aller Patienten, die stationär aufgenommen werden, ist eine UAW Ursache für die Aufnahme [9], wobei 40% der UAW, die zu einer stationären Aufnahme führen, als vermeidbar eingestuft werden [10,11]. Hinzu kommt, dass UAW mit bis zu 50prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht erkannt, sondern als neue Erkrankungen fehlinterpretiert und mit einem weiteren Medikament behandelt werden [12]. Als potenziell inadäquat gilt ein Medikament, wenn der enthaltene Wirkstoff grundsätzlich als ungeeignet für ältere Personen bewertet wird, oder wenn er bei bestimmten Erkrankungen oder in bestimmten Dosierungen vermieden werden sollte [13]. International gibt es Bemühungen entsprechende Arzneimittel in Negativlisten zu führen (Beers-Kriterien, FORTA-Liste, STOPP-Kriterien)
[14–16]. Nach Daten von Chang et al. [17] liefern jene Listen, die PIM benennen, sehr unterschiedliche Ergebnisse in Bezug auf die Anzahl betroffener Patienten, die Anzahl von PIM-Verordnungen sowie Zusammenhänge zu negativen Gesundheitsfolgen, z. B. Stürze oder Kontakte zu Notfallambulanzen. Seit dem Jahr 2010 ist eine entsprechende Liste (PRISCUS-Liste) auch für den deutschen Versorgungskontext verfügbar [13]. Erste Studienergebnisse sowohl zur Prävalenz entsprechender PIM-Verordnungen – in der Regel aus Sekundärdaten – sowie zur Verordnungsentwicklung nach Einführung der PRISCUS-Liste liegen vor. Demnach liegt der Anteil über 65-jährigen Patienten mit mindestens einem potenziell inadäquaten Wirkstoff unter den verordneten Medikamenten in Deutschland bei ca. 20% bis 25% [18,19]. Negative Gesundheitsfolgen durch PIM sind ebenfalls in verschiedenen Studien beschrieben worden [20–22]. Die Ergebnisse sind aber nicht konsistent und widerspruchsfrei. Auch gibt es mit Ausnahme einer Studie von Gallagher et al. [23] bislang keine überzeugende klinische Studie, die Maßnahmen zur Reduktion von PIM als wirksam nachgewiesen hätte. Das alleinige Vorliegen entsprechender Negativlisten ohne aktive Einbindung in den Verordnungsprozess hat noch keinen Einfluss auf das ärztliche Verordnungsverhalten und damit auf die Prävalenz von PIM-Verordnungen, wie sowohl interventionelle als auch auf GKV-Routinedaten basierende Analysen zeigen [19,24]. In dessen Konsequenz schlug der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in seinen Jahresgutachten 2003 und 2007 vor, der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) in Deutschland verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen und sowohl in der Forschung als auch der Versorgungsgestaltung Maßnahmen zur Verbesserung des Arzneimitteltherapieprozesses zu initiieren bzw. auszubauen [25,26]. AMTS umfasst die Gesamtheit der Maßnahmen zur Gewährleistung des bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Arzneimittels. Mit diesen Maßnahmen wird eine optimale Organisation des Medikationsprozesses angestrebt, um unerwünschte Arzneimittelereignisse als Folge von Medikationsfehlern zu vermeiden und damit das Risiko für den Patienten im Rahmen der Arzneimitteltherapie zu minimieren [27]. Für den deutschen Versorgungskontext sind in diesem Zusammenhang insbesondere Aktivitäten des Aktionsbündnisses Patientensicherheit und des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) zu nennen, das in Kooperation mit Akteuren im Gesundheitswesen das Thema AMTS seit 2007 im Rahmen von inzwischen vier Aktionsplänen voranzubringen versucht. Die bisherigen Bestrebungen auf nationaler Ebene zielen auf verschiedene Ebenen des Medikationsprozesses ab. Vor dem Hintergrund der Polypharmazieproblematik ist insbesondere die Einführung des Bundeseinheitlichen Medikationsplans (BMP) hervorzuheben. So haben Patienten, die mindestens drei zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnete, systemisch wirkende Medikamente dauerhaft einnehmen, seit 1. Oktober 2016 einen gesetzlichen Anspruch auf die Erstellung eines BMP durch ihren Arzt. Auf diese Weise soll eine bessere Übersicht über die Medikation von Patienten mit Polypharmazie geschaffen werden. Ob die alleinige Bereitstellung des BMP ausreichend zur Minimierung von Arzneimittelrisiken beiträgt, ist jedoch zu bezweifeln. Durch die Vielzahl von Wirkstoffen und möglichen Wechselwirkungen ist es selbst bei umfassender Transparenz der eingenommenen Arzneimittel häufig nicht möglich, alle potenziellen Risikoquellen der Arzneimitteltherapie ohne technische Unterstützung zu erfassen.
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¨ Insbesondere die computergestützte AMTS-Prufung kann daher als wichtige Ergänzung bestehender AMTS-Maßnahmen betrachtet werden. Ziel dieser einarmigen prospektiven Interventionsstudie ist es, das Potenzial eines integrativen, verordnungssynchronen technischen Entscheidungsunterstützungssystems (,,Arzneimittelkonto NRW‘‘) zur Verbesserung der Arzneimittelversorgung und Arzneimitteltherapiesicherheit im Alter insbesondere im Hinblick auf die Vermeidung potenziell inadäquater Verordnungen sowie der Anzahl verordneter Arzneimittel zu untersuchen.
Arzneimittelkonto NRW Das Arzneimittelkonto NRW ist eine der ersten technisch unterstützten und im Rahmen der Versorgungspraxis erprobten Interventionen zur Verbesserung der AMTS im deutschen Versorgungskontext. In einem zentralen Arzneimittelkonto laufen alle Medikationsdaten der teilnehmenden Patienten zusammen. Zugriff hierauf haben nicht nur behandelnde Ärzte, sondern auch die Patienten bzw. deren Angehörige und Pflegekräfte. Das Arzneimittelkonto bildet dabei zeitlich synchron zur Verordnung die Basis für einen übergreifende AMTS-Prüfung. Gleichzeitig steht die Prüfung auch bei Eingaben z.B. von OTC-Medikation über eine Smartphone-App oder einen Desktop-Zugang durch den Patienten oder Angehörigen ab Studienbeginn zur Verfügung. In die AMTS-Prüfung fließen neben den Medikationsdaten alle relevanten Patientenparameter ein. Es erfolgt eine übergreifende Risikoüberprüfung auf Interaktionen, Kontraindikationen und Doppelverordnungen. Die in der PRISCUS-Liste potenziell inadäquater Medikation für ältere Menschen aufgeführten 83 Arzneistoffe werden ebenfalls berücksichtigt, wenngleich anzumerken ist, dass diese zuletzt im Jahr 2011 aktualisiert wurde und den heutigen Stand der Arzneimittelversorgung somit nur noch eingeschränkt erfasst [28]. Wiederholte Benachrichtigungen für dasselbe Medikationsproblem (,,repeats‘‘) wurden vom System nicht angezeigt. Der zentrale Ausgangspunkt des Datenflusses ist die Arztpraxis mit dem Primärsystem des Arztinformationssystems (AIS). Durch das Einlesen einer ,,CompuGroup Medical (CGM) Life Key Card‘‘ eines Patienten wird der patientenbezogene Datentransfer freigeschaltet. Es können sowohl Daten in das zentrale Arzneimittelkonto gesendet als auch Daten hieraus empfangen werden. Die ,,CGM Life Key Card‘‘ dient als patientenindividueller Zugangsschlüssel für die CGM Life Gesundheitsakte. Der bei Registrierung auf die Karte geschriebene Schlüssel ermöglicht anderen mitbehandelnden Haus- und Fachärzten den Zugriff auf ein patientenspezifisches Arzneimittelkonto. Nach der derzeitigen Spezifikation der Gematik wird diese Funktion später auch von der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) übernommen werden können. Mit den aktuell im Umlauf befindlichen eGKs und der aktuellen Telematik-Infrastruktur ist ein Einsatz bei Anpassung der technischen Voraussetzungen zukünftig möglich. Jeglicher Datentransfer von und aus der Praxis hinaus wird über einen speziellen Client im AIS abgewickelt. Dieser Client führt sämtliche Kryptografiefunktionen durch und enthält die lokale Logik zur Verarbeitung von Klartext-Daten. Bei jeder Neuverordnung wird direkt nach der Auswahl eines Präparates die AMTS-Prüfung mit Zugriff auf die in der lokalen Patientenakte und die im zentralen Arzneimittelkonto verfügbaren Medikamentendaten des Patienten durchgeführt. Die lokal in der Praxis generierten Daten werden über den Client verschlüsselt in die Zentralakte des Patienten gesendet und in einem sog. Blindstore pseudonymisiert für die Evaluation zur Verfügung gestellt.
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Studiendesign und Methodik Studiensetting und Rekrutierung Die Rekrutierung der teilnehmenden Ärzte erfolgte innerhalb des Lennetzes (Lennetz GmbH), einem aus 57 Praxen bestehenden Hausärztenetz im Märkischen Kreis (Sauerland), sowie in Praxen im Raum Bonn. Dabei wurden sowohl Praxen mit bestehender CompuGroup-Praxissoftwareinfrastruktur als auch Praxen mit Arztinformationssystemen von Drittanbietern eingeschlossen. Parallel zur lokalen Installation des AIS-Desktops fand eine Einweisung in die Funktionsweise der Technik durch den Softwarehersteller statt. Die Patientenrekrutierung erfolgte über die zuvor eingeschlossenen Hausarztärzte. Einschlusskriterien waren eine vorliegende ,,minor polypharmacy‘‘ (parallele Einnahme von mindestens drei Medikamenten), ein weitestgehend selbstständiges Leben sowie eine aus Sicht des Arztes erwartbare vollständige Studienteilnahme. Im Hinblick auf den primären Endpunkt wurden bevorzugt Personen ab 65 Jahren in die Studie eingeschlossen. Um dem explorativen Charakter der vorliegenden Untersuchung Rechnung zu tragen, wurden jedoch auch jüngere Personen zur Rekrutierung zugelassen. Eine schriftliche Teilnahmeeinwilligung der Patienten wurde eingeholt. Die rekrutierenden Ärzte erhielten je eingeschriebenem Patienten eine finanzielle Aufwandsentschädigung. Die Datenerhebung erfolgte über einen automatisierten, pseudonymisierenden Datenabzug aus dem Arzneimittelkonto in den Blindstore. Dabei wurden patientenbezogene Studiendaten (Alter, Geschlecht, Vorjahresmedikation, Verordnungen, Diagnosen, AMTS-Prüfergebnisse) jeweils mit Zeitmarkierung übertragen. Darüber hinaus konnten patientenseitig weitere Angaben zur OTCMedikation über einen lokalen oder mobilen Patientenzugang in das Arzneimittelkonto übertragen werden. Die Vorgänge des Arzneimittelkontos sind in einem longitudinalen Datenformat verfügbar. Dabei unterscheidet das Konto generell drei Arten von Einträgen: gestellte Diagnosen, verschriebene Medikamente sowie die AMTS-Prüfungen durch das System. Zusätzlich wurden jedem Arzt und jedem Patienten jeweils eine eindeutige ID zugewiesen, das Geburtsjahr und das Geschlecht des Patienten wurde erfasst, sowie das Datum, an dem der jeweilige Vorgang aufgezeichnet wurde. Der individuelle AMTS-Startzeitpunkt je Patient wird definiert durch den erstmaligen AMTS-Prüfeintrag eines Patienten im Arzneimittelkonto. Der patientenindividuelle Beobachtungszeitraum ist somit aufgrund unterschiedlicher Aktiv-Startzeitpunkte des Arzneimittelkontos in den teilnehmenden Praxen verschieden. Endpunkte Primärer Endpunkt ist die Veränderung der PIM-Prävalenz, also die Verordnungshäufigkeit von PRISCUS-Medikationen vor und nach Einführung des Arzneimittelkontos innerhalb des Follow-up Samples. Basierend auf einer geschätzten mittleren Differenz der PIM-Prävalenz im Zeitverlauf von 7% bis 10% sowie der Annahme, dass die Variabilität der erwarteten Differenzen in der Verordnung von PIM sowohl auf Ebene der Patienten als auch auf Ebene der Praxen eher gering ist, wurde unter Berücksichtigung potenzieller Drop-Outs von 5% ein Rekrutierungsziel von 500 bis 800 Patienten errechnet. Bei einem Rekrutierungsziel von 40 Praxen entspricht dies im Durchschnitt 20 zu rekrutierenden Personen je Praxis. Weitere Endpunkte beziehen sich auf systeminduzierte Veränderungen des Medikationsvolumens, ökonomische Effekte des Arzneimittelkontos in Form einer monetären Bewertung der veränderten Medikationsvolumina vor und nach Einführung des Arzneimittelkontos in der beobachteten Patientenkohorte sowie Umsteuerungsquoten als ärztliche Reaktion auf AMTS-relevante Risikomeldungen. Letztere beschreiben den Anteil der Risikomeldungen, auf welche eine ärztliche Anpassung der Medikation zur
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Behebung des für die Meldung ursächlichen Medikationsproblems erfolgte. Es ist anzunehmen, dass sich eine mit den AMTS-Meldungen assoziierte Vermeidung von Medikationsfehlern auch im Medikationsvolumen widerspiegelt, indem Doppelverordnungen ausbleiben und Folgemedikationen zur Behandlung etwaiger medizinischer Probleme aufgrund von Medikationsfehlern entfallen. Um den Zusammenhang zwischen der Einführung bzw. der Inbetriebnahme des AMTS-Algorithmus und der Anzahl der verordneten Medikamente je Quartal zu analysieren, wurden drei verschiedene Regressionsmodelle gerechnet. Im ersten Modell wird das Arzneimittelkonto als binäre Variable berücksichtigt, d.h. die durchschnittliche Verordnungszahl im gesamten Zeitraum nach der Einführung des Arzneimittelkontos berechnet. Im zweiten Modell werden die Quartale als kategoriale Variable mit in das Modell aufgenommen. Auf diese Weise wird der Unterschied des jeweiligen Quartals zum Referenzquartal (Quartal 1) berechnet und erlaubt deshalb genauere Aussagen über den Verlauf der Verordnungszahlen. Im dritten Modell werden die Quartale als numerische Variable betrachtet und um Polynome ergänzt, um nicht lineare Effekte abbilden zu können. Die Anzahl der Verordnungen je Quartal ist eine ganzzahlig, positive (Zähl-)Variable mit einem Mittelwert von 4,594 und einer Varianz von 19,871 mit einem erhöhten Anteil an Nullwerten. Aus diesem Grund wurde das Modell als generalisiertes lineares Modell unter Annahme einer zero-inflated negativ-binomial Verteilung (log-link) mit Hilfe des R-Pakets ,,gamlss‘‘ gerechnet. Im Modell wurde für die Faktoren Alter, Geschlecht und Anzahl der morbi-RSA Erkrankungen der Patienten kontrolliert. Um Verzerrungen durch unbeobachtete Eigenschaften der Patienten und Ärzte zu vermeiden, wurde jeweils ein random effect in die Regressionsgleichung mit aufgenommen. Eine monetäre Bewertung der Veränderungen der Verordnungsvolumina vor und nach Einführung des Arzneimittelkontos erfolgte mit jeweils tagesaktuellen Preisen auf Basis der Lauer Taxe® . Stationärer und ambulanter Ressourcenverbrauch (in Form von Kontakten) der teilnehmenden Patienten wurden mittels eines im Patientenzugangsbereich des Arzneimittelkonto elektronisch hinterlegten Fragebogens zu drei Zeitpunkten (Baseline, nach 3 Quartalen, nach 6 Quartalen) erfasst, da Hinweise auf einen direkten Zusammenhang zwischen PIM-Verschreibungen im ambulanten Versorgungsbereich und einer erhöhten Hospitalisierungsrate in der Literatur berichtet sind [20,21]. Bei dem verwendeten Instrument handelt es sich um eine gekürzte und adaptierte Version des FIMA® -Fragebogens zur Ressourcenerfassung innerhalb älterer Bevölkerungsgruppen [29]. Die Analyse systeminduzierter Umsteuerungsquoten betrachtet patienten- und arztbezogene Veränderungen im Verordnungsverhalten basierend auf vom Arzneimittelkonto dokumentierten Prüfergebnissen zu PRISCUS-Meldungen, möglichen Kontraindikationen, Interaktionen und Doppelverordnungen. Ziel der Implementierung des Arzneimittelkontos sollte eine möglichste hohe Umsteuerungsquote auf entsprechende Warnmeldungen sein. ,,Warnmeldungen‘‘ entsprechen dabei einem Verordnungsversuch, für welche das Arzneimittelkonto eine AMTS-Warnmeldung an den verordnenden Arzt zurückgibt. Anhand der der Daten aus dem Blindstore wurde für die jeweiligen Einträge der Systemprüfungen nachvollzogen, ob es nach einer AMTS-Warnung durch das Arzneimittelkonto auch zu einer Verschreibung des Medikamentes, zu welchem diese Warnung ausgegeben wurde, durch den jeweiligen Arzt gekommen ist. PZNs, die sowohl in der Warnmeldung als auch als tatsächlich verschriebene Medikation gelistet waren, wurden trotz Warnung durch das System vom Arzt verschrieben und als solche markiert. Das Verhältnis zwischen den systeminduzierten AMTS-Meldungen, zu denen zum Prüfdatum keine korrespondierende PZN vorlag, und der Gesamtanzahl aller systeminduzierten Warnungen ergibt die Umsteuerungsquote.
Dauermedikationen wies das System bei jeder neuen Verschreibung als eine neue Medikation trotz vorangegangener Warnung aus. Um eine Unterschätzung des Interventionseffektes zu vermeiden, wurden die Umsteuerungsquoten dahingehend bereinigt, dass Neuverschreibungen von Dauermedikationen nur bei Initialverschreibung in die Berechnung einfließen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass eine mögliche Verhaltensänderung in Folge einer AMTS-Meldung bereits bei der ersten Verordnung erfolgen müsste. Eine bewusste Auseinandersetzung mit dem AMTS-Prüfergebnis findet bei Dauerverordnungen dann nicht mehr in der Form statt, wie sie bei Neueinstellungen erfolgt. Zur Abschätzung des Verbrauchsvolumens vor und nach Einführung des Arzneimittelkontos wurden Dauerverordnungen jedoch berücksichtigt. Zudem wurde ermittelt, wie häufig eine zuvor prüfungsrelevante Verordnung basierend auf der entsprechenden Pharmazentralnummer (PZN) letztlich für den Patienten als Verordnung registriert wurde. Aus der Differenz errechnet sich eine quartalsspezifische, arztübergreifende Umsteuerungsquote. Zeitvariable Anpassungen des Verordnungsverhaltens sowie bestimmte Sockelmengen von nicht änderbaren bzw. geplanten Verordnungen müssen bei der Interpretation der Ergebnisse jedoch berücksichtigt werden. Aus den Fragestellungen ergeben sich für die Evaluation unterschiedliche Studienkohorten. Da es sich bei der Analyse der Umsteuerung auf kontoinduzierte Warnmeldungen um eine deskriptive Auswertung der Quoten ohne Vorher-NachherVergleich handelt, werden hierfür all jene Patienten herangezogen, für die im Beobachtungszeitraum AMTS-Prüfergebnisse des Arzneimittelkontos vorliegen (,,komplettes Sample‘‘). Für die Analyse der Entwicklung der Anzahl verordneter Arzneimittel nach Einführung des Kontos sowie die Veränderung der PIM-Prävalenz sind wiederum jene Patienten zu berücksichtigen, für die vergleichbare, einjährige Follow-up-Zeiträume vorliegen (,,Followup-Sample‘‘).Eine Analyse der Umsteuerungsquoten auf Basis des Follow-up-Samples würde einen bedeutenden Anteil der dokumentierten AMTS-Checks und der damit verbundenen Möglichkeiten zur Umsteuerung nicht erfassen. Die Forschung im Bereich der eingesetzten IT im Gesundheitswesen konzentriert sich oftmals auf das Design und die Implementierung der technischen Lösungen und vernachlässigt in vielen Fällen die Verhaltensweisen der Endnutzer [30]. Dabei geht der Erfolg im Rahmen einer Einführung von neuen technischen Lösungen über die Frage des Designs und der besseren funktionellen Eigenschaften hinaus. Da bestehende Erhebungsinstrumente den Problemkontext nicht vollständig erfassen konnten, wurde ein eigener Anwender-Akzeptanzfragebogen entwickelt. Dieser beinhaltet 5 Frage-Dimensionen mit insgesamt 23 Items, welche als 4-stufige Likert-Skala angelegt sind. Der Fragebogen enthält Fragen zur Leistungserwartung, zur Aufwandserwartung, zu sozialen Determinanten, zur Einschätzung handlungserleichternder Rahmenbedingungen sowie zur langfristigen Nutzungsintention. Dieser wurde den teilnehmenden Ärzten nach Projektabschluss postalisch übermittelt. Die Auswertungen erfolgten mit Microsoft Excel und R. Die Aufbereitung der Ergebnisse fand unter Berücksichtigung der STROBE-Guideline zum Reporting von interventionellen Beobachtungsstudien statt [31]. Abbildung 1
Ergebnisse Studienkohorte Initial konnten insgesamt 38 Ärzte rekrutiert werden, von denen 15 Ärzte aktiv Daten in das Arzneimittelkonto übertrugen. Durch diese 15 Ärzte wurden 874 Pateinten rekrutiert (Abbildung 2). Der auswertungsrelevante Beobachtungszeitraum umfasst
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Abbildung 1. Systemarchitektur und Datenfluss im Arzneimittelkonto NRW.
Abbildung 2. Ergebnisse des Rekrutierungsprozesses.
Daten zwischen dem 06.12.2013 und 29.06.2015 (570 Tage). Dabei verteilt sich die Anzahl rekrutierter Patienten nicht gleichmäßig auf die teilnehmenden Ärzte. Durchschnittlich rekrutierte jede aktiv teilnehmende Praxis 58 Patienten (Spanne: 1-284). Auf sechs der 15 Ärzte entfielen dabei über 50 Patienten. Fünf Ärzte schlossen weniger als 10 Patienten ein. Das mittlere Alter der Studienkohorte lag bei 73 Jahren, wobei 14% der teilnehmenden Personen jünger als 65 Jahre waren. Das ,,komplette Sample‘‘ zur Evaluation der Umsteuerungsquoten umfasst 654 Patienten. Auf das ,,Follow-up-Sample‘‘, welches für die Analyse des Verordnungsvolumens sowie der PIM-Prävalenz heranzuziehen ist, entfallen 560 Patienten. Systematische Unterschiede zwischen den sich Studienkohorten hinsichtlich relevanter Baseline-Variablen konnten nicht beobachtet
Tabelle 1 Baseline-Charakteristika der Studienkohorte.
Männer (%) Frauen (%) Alter (MW, SD)
BaselineSample n = 874
Komplettes Sample Mit AMTS-Meldung n = 654
Follow-up Sample 365 Tage-Follow-Up n = 560
46,3 53,7 72,8 (10,8)
46,0 54,0 72,1 (11,0)
44,6 55,4 70,2 (11,1)
MW - Mittelwert; SD - Standardabweichung
werden (Tabelle 1). Die durchschnittliche Anzahl innerhalb eines Jahres verordneter Arzneimittel lag in der Follow-up-Kohorte bei 19,8 (SD: 7,0), wobei im Durchschnitt 8,2 verschiedene Wirkstoffe (basierend auf ATC-Codes) je Person verschrieben wurden.
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Abbildung 3. Anzahl verordneter Arzneimittel vor und nach Einführung des Arzneimittelkontos.
Die im Blindstore zur Evaluation abgelegten Eintragsmengen verteilen sich analog zur Anzahl rekrutierter Patienten nicht gleichmäßig auf die teilnehmenden Ärzte. Auf die Top 2 entfielen 86,3% der AMTS-Einträge bzw. 50,6% der Verordnungen. Auf die Top 5 Ärzte entfielen 98,7% der AMTS-Einträge bzw. 80,1% der Verordnungen. Dabei sind mehrere AMTS-Einträge bei einem Patienten-Arzt-Kontakt möglich. Insgesamt haben sechs von 15 teilnehmenden Ärzte weniger als zehn AMTS-Einträge im Blindstore. Prävalenz potenziell inadäquater Verordnungen Vor Einführung des Arzneimittelkontos wurden im ,,Followup-Sample‘‘ 648 PIM-Verordnungen registriert. Die PIM-Prävalenz sank innerhalb der ersten zwölf Monate nach Einführung des Arzneimittelkontos um 11,3% auf 575 PRISCUS-Verordnungen. Die Anzahl von Patienten mit einer PIM-Verordnung blieb dabei konstant (61 vor Einführung des Arzneimittelkontos (Prävalenz 10,9%), 59 nach Einführung (Prävalenz 10,5%)). Die beobachteten Unterschiede sind statistisch nicht signifikant (gepaarter t-Test, p = .157). Entwicklung des Verordnungsvolumens nach Aktivstart des Arzneimittelkontos Für die Patienten der ,,Follow-up Kohorte‘‘ wurden als Bezugsgröße das Medikationsvolumen aus dem patientenindividuell vergleichbaren Vorjahreszeitraum gezogen und kumuliert. Insgesamt zeigt sich innerhalb der Studienkohorte zunächst ein vergleichbarer Verlauf des Medikationsvolumens vor und nach Einführung des Arzneimittelkontos (Abbildung 3). Die Anzahl verordneter Medikamente liegt jedoch nach ca. zwei Monaten weitestgehend konstant signifikant unterhalb des Volumens im Vorjahreszeitraum (p < .001). Das kumulierte Verordnungsvolumen nach Einführung des Arzneimittelkontos liegt im Beobachtungszeitraum insgesamt 14,1% unterhalb der Menge verordneter Medikamente vor Einführung des Arzneimittelkontos. Während innerhalb des einjährigen Zeitraumes vor Aktivstart des Arzneimittelkontos noch 11.071 Arzneimittel verordnet wurden (MW: 19,8; SD: 7,0), sank das Verordnungsvolumen nach Einführung des Kontos innerhalb der Kohorte kumuliert auf 9.510 (MW: 17,0; SD: 7,1). Neben der zeitvarianten Betrachtung des Verordnungsvolumens lässt sich ein analoger Zusammenhang zwischen der Anzahl der Arztkontakte in Form von Arzneimittelverschreibungen und dem arzneimittelbezogenen Verordnungsvolumen beobachten. So zeigt sich deskriptiv, dass durchschnittlich ab dem 4. Arztkontakt mit Arzneimittelverschreibung das Verordnungsvolumen nach
Einführung des AMK rückläufig ist. Dieser Effekt wird jedoch maßgeblich dadurch gestützt, dass auch die durchschnittliche Anzahl von Arztkontakten mit Arzneimittelverschreibung je Person im Interventionszeitraum unterhalb des Durchschnitts im Kontrollzeitraum liegt. Während im Zeitraum vor Einführung des Arzneimittelkontos durchschnittlich 9,4 Arztkontakte mit Arzneimittelverschreibung registriert wurden, lag die durchschnittliche Rezeptanzahl nach Einführung des AMK 17% darunter (7,8 Kontakte mit Arzneimittelverschreibung). Die Isolierung des Interventionseffektes des Arzneimittelkontos auf die Entwicklung des Verordnungsvolumens im Zeitverlauf erfolgt zudem mittels generalisierter linearer Modelle (Tabelle 2). Dabei gingen durchschnittlich 2.768 Verordnungen (Spanne: 2.462-2.883) je Quartal im Beobachtungszeitraum vor Einführung des Arzneimittelkontos (Quartal 1-4) bzw. 2.377 Verordnungen (Spanne: 2.091-2.775) nach Einführung des Kontos (Quartal 5-8) in die Modelle ein. Die durchschnittliche Anzahl an morbiRSA-relevanten Diagnosen je Quartal liegt bei 1.472 (Spanne: 1.201-1.646) im Zeitraum vor und 1.532 (Spanne: 1.200-2.008) im Zeitraum nach Einführung des Arzneimittelkontos. Die Ergebnisse zeigen sehr stabile Koeffizienten der Kontrollvariablen über die Modelle hinweg. So sinkt mit jedem Altersjahr die Verordnungsanzahl um 0,5 bis 0,6%, steigt jedoch mit jeder morbiRSA Diagnose um 2,1% an. In Kombination bedeutet dies, dass bei einem älteren Patienten mit einer größeren Zahl an Diagnosen mit einer niedrigeren Verordnungszahl zu rechnen ist, als bei jüngeren Patienten mit derselben Anzahl an Diagnosen. Beide Koeffizienten sind signifikant zum Niveau 0,001. Das Geschlecht zeigt keinen signifikanten Zusammenhang mit der Anzahl der Diagnosen. Modell 1 zeigt, dass in den Quartalen, in denen AMTS-Prüfungen durchgeführt wurden, im Durchschnitt 7,5% weniger Verordnungen zu beobachten sind als in den Quartalen zuvor. Die Ergebnisse von Modell 2 verdeutlichen den quartalsweisen Verlauf dieses Rückgangs. Auffällig ist dabei, dass die Verordnungen im Vergleich zum ersten Beobachtungsquartal bereits vor Interventionsstart zurückgingen. So zeigen sich vor AMK-Start geringe und nicht bzw. schwach signifikante Unterschiede zwischen dem ersten und den beiden nachfolgenden Quartalen. In Quartal 4 reduziert sich die Anzahl der Verordnungen im Vergleich zu Quartal 1 bereits deutlich (p < .001). In den Follow-up-Quartalen 5 bis 8 findet sich ebenfalls ein starker, signifikanter Rückgang der Verordnungszahlen, allerdings ist dieser Effekt mit ansteigender Beobachtungsdauer rückläufig. Dieser Zusammenhang ist auch im dritten Modell zu beobachten, dessen AMTS-Koeffizienten einen Rückgang Verordnungen um durchschnittlich 12,9% mit jedem Quartal indizieren. Allerdings wird dieser Effekt durch den positiven Koeffizienten der quadrierten Quartalszahl wieder aufgefangen. Sowohl das Akaike
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Tabelle 2 Ergebnisse der GLM-Modelle zur Erklärung der Verordnungsvolumina vor und nach Einführung des Arzneimittelkontos (innerhalb des Follow-up Samples).
Kontrollvariablen Intercept Alter Männlich Anzahl morbi-RSA ICDs Verordnungsvolumina AMTS-Konto aktiv Quartal 1 Quartal 2 Quartal 3 Quartal 4 Quartal 5 Quartal 6 Quartal 7 Quartal 8 Quartal Quartal2
Modell 1
Modell 2
Modell 3
12,454 -0,005 (0,000)*** -0,019 (0,017) 0,021 (0,001)***
12,857 -0,006 (0,000)*** -0,019 (0,016) 0,021 (0,001)***
12,943 -0,006 (0,000)*** -0,019 (0,017) 0,021 (0,001)***
-0,075 (0,017)*** Referenz -0,048 (0,031) -0,072 (0,031)* -0,267 (0,032)*** -0,195 (0,031)*** -0,195 (0,032)*** -0,156 (0,033)*** -0,113 (0,035)** -0,129 (0,016)*** 0,012 (0,002)***
sigma (Intercept) nu (Intercept)
-2,991 (0,108)*** -1,549 (0,044)***
-3,152 (0,120)*** -1,535 (0,043)***
-3,108 (0,117)*** -1,535 (0,043)***
Num. obs. Nagelkerke R2 Generalized AIC
4480 0,493 21056,79
4480 0,503 20986,02
4480 0,500 21002,50
* ** ***
p < .05 p < .01, p < .001,
information criterion (AIC) als auch das Nagelkerke R2 bevorzugen Modell 2 als das Modell mit dem besten Fit. Monetäre Bewertung der Interventionseffekte Basierend auf den Ergebnissen zur Veränderung des Medikationsvolumens im Zeitverlauf lassen sich durch Implementierung des Arzneimittelkontos erzielte Einsparungen errechnen. Diese berechnen sich durch die beobachteten Veränderungen im absoluten Medikationsvolumen vor und nach patientenindividueller Einführung des Arzneimittelkontos. Das kumulierte Ausgabenvolumen betrug für den patientenindividuellen Einjahreszeitraum vor Einführung des Arzneimittelkontos 325.330 Euro und sank im Beobachtungsjahr um 36.780 Euro auf insgesamt 288.550 Euro und liegen damit insgesamt 11,3% unterhalb denen des vergleichbaren Vorjahreszeitraums. Die Arzneimittelkosten lagen damit im Interventionszeitraum durchschnittlich 65,70 Euro unterhalb denen im vorangegangenen Kontrollzeitraum. Die durchschnittlichen Bruttokosten einer Verschreibung lagen im Beobachtungszeitraum vor Einführung des Arzneimittelkontos bei 29,40 D , im zwölfmonatigen Vergleichszeitraum danach bei 30,34 D . Die ökonomische Bewertung der Einführung technischer Verordnungsprüfsysteme sollte sich grundsätzlich auch auf Effekte auf weitere Leistungsbereiche wie z.B. vermiedene Krankenhausaufenthalte beziehen. Zu entsprechenden Effekten des Arzneimittelkontos sind aufgrund des geringen Rücklaufes des eingesetzten Fragebogens zum patientenbezogenen Ressourcenverbrauch jedoch keine Aussagen möglich. Arzneimittelbezogene Umsteuerung in Folge eines AMTS-Warnhinweises Die gemittelte Umsteuerungsquote als Reaktion auf vom System gemeldeter potenzieller Interaktionen innerhalb des Beobachtungszeitraumes liegt bei 84,8% (Tabelle 3). Der beobachtete Effekt ist über den Beobachtungszeitraum stabil und zeigt auch zwischen den beteiligten Ärzten kaum Variationen. Die gemittelte Umsteuerungsquote als Reaktion auf vom System gemeldeter potenzieller
Doppelverordnungen innerhalb des Beobachtungszeitraumes liegt mit 69,5% ebenfalls auf hohem Niveau. Der beobachtete Effekt ist über den Beobachtungszeitraum stabil und zeigt auch zwischen den beteiligten Ärzten kaum Variationen. Einzig die Anzahl von Doppelverordnungsversuchen innerhalb des 4. Quartals 2013 und 1. Quartals 2014, auf die schließlich eine Umsteuerung erfolgte, weichen auffallend nach oben ab. Ein möglicher Erklärungsansatz hierfür wäre, dass einer der Ärzte, welche konstant über den gesamten Beobachtungszeitraum Daten im Arzneimittelkonto generierte, für einen Großteil der Dateneinträge in diesen Quartalen verantwortlich und damit hinsichtlich der Gesamtstudiendauer überrepräsentiert ist. Die gemittelte Umsteuerungsquote innerhalb des Beobachtungszeitraumes liegt bei 35,8%. Dabei zeigt sich ein starker zeitlicher Gradient hin zu weniger Umsteuerungen. Hinsichtlich der Umsteuerung auf vom Arzneimittelkonto gemeldete Kontraindikationen zeigen sich Ergebnisverläufe, welche qualitativ nicht erklärbar sind. Die Anzahl gemeldeter potenzieller Kontraindikationen blieb im Studienverlauf konstant auf hohem Niveau (Q4/2013: 97, Q1/2014: 199, Q2/2014: 213, Q3/2014: 234, Q4/2014: 276, Q1/2015: 294) Die resultierenden Umsteuerungsquoten gehen ab dem vierten Beobachtungsquartal jedoch deutlich zurück (Q1/2014: 74,4%, Q2/2014: 19,7%, Q3/2014: 4,7%, Q4/2014: 7,6%, Q1/2015: 7,5%). Technik- und Nutzungsakzeptanz Im Rahmen des vorliegenden Projektes wurde die Anwenderakzeptanz sowohl auf Patienten-, als auch auf Arztebene erhoben. Im September 2014 wurde eine Patientenbefragung zur Nutzung des Patientenzugangs zum AMK durchgeführt. Dazu wurden alle 870 teilnehmenden Patienten angeschrieben. Die Response lag bei 45% des ,,Baseline Samples‘‘ (n = 390). 35% der Befragten gaben an, den Web-Zugang zum Arzneimittelkonto zu nutzen. Wiederum 35% davon gaben an, den Zugang via Smartphone-App zu verwenden. 8% der Personen, die angaben, den Web-Zugang zum AMK-NRW zu nutzen, trugen auch aktiv Daten ein. Insgesamt 12 Patienten haben 43 Einträge (z. B. OTC-Medikation) ins AMK über einen direkten Zugang vorgenommen. Zudem wurden 18
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Tabelle 3 Quartalsweise Umsteuerungsquoten auf kontoinduzierte AMTS-Warnmeldungen (innerhalb des kompletten Samples). Q4 2013
Q1 2014
Q2 2014
Q3 2014
Q4 2014
Q1 2015
∅
Interaktionen Meldungen Verordnungen Umsteuerungsquote
102 8 92,2%
399 27 93,2%
541 80 85,2%
579 113 80,5%
754 135 82,1%
804 119 85,2%
84,8%
Doppelverordnungen Meldungen Verordnungen Umsteuerungsquote
68 5 92,7%
257 6 97,7%
368 88 76,1%
491 176 64,2%
554 210 62,1%
631 237 62,4%
69,5%
PRISCUS-Verordnungen Meldungen Verordnungen Umsteuerungsquote
49 17 65,3%
99 29 70,7%
52 43 17,3%
53 44 17,0%
69 61 11,6%
73 62 15,1%
35,8%
Kontraindikationen Meldungen Verordnungen Umsteuerungsquote
97 32 67,0%
199 51 74,4%
213 171 19,7%
234 223 4,7%
276 255 7,6%
294 272 7,5%
23,5%
Ressourcen-Erfassungsbögen von 9 Patienten ausgefüllt. Aufgrund des geringen Rücklaufes wurde auf eine weitere Auswertung dieser Daten verzichtet. Die technikbezogene Akzeptanzerhebung der Leistungserbringer lieferte aufgrund einer zu geringen Response ebenfalls keine verwertbaren Ergebnisse.
Diskussion und Fazit Ziel der Studie war es, den Effekt der Einführung eines zentralen, technischen und verordnungssynchronen Unterstützungssystems innerhalb eines AIS auf die Prävalenz von PRISCUS-Verordnungen sowie Veränderungen des Verordnungsvolumens im Zeitverlauf zu überprüfen. Darüber hinaus sollte geklärt werden, ob durch das System die Häufigkeit von Fehlmedikationen (Kontraindikationen, Interaktionen) bzw. Doppelverordnungen verhindert werden kann. Die PIM-Prävalenz ist innerhalb des Beobachtungszeitraumes rückläufig, jedoch nicht auf statistisch signifikantem Niveau. Das kumulierte Verordnungsvolumen nach Einführung des Arzneimittelkontos liegt im Beobachtungszeitraum statistisch signifikant unterhalb der Menge verordneter Medikamente vor Einführung des Arzneimittelkontos, wobei bereits im Quartal vor Interventionsstart eine deutliche, signifikante Reduktion feststellbar ist. Dies spiegelt sich auch in insgesamt 11,3% geringeren Brutto-Kosten wieder. Zudem zeigen sich unterschiedliche Umsteuerungsquoten auf Warnmeldungen des Arzneimittelkontos. Sensitivitätsanalysen zu geschlechtsspezifischen Ergebnisvariationen zeigten keine nennenswerten Ergebnisse. Eine vollständige Umsteuerung auf AMTS-Warnmeldungen war dabei nicht zu erwarten. So können zum Beispiel pharmakologisch-therapeutische Erklärungen für die nicht vollständige Umsteuerung herangezogen werden. Die Ergebnisse unterliegen aufgrund des Studiendesigns einigen Limitationen. Die Auswertungen zum Verlauf des Verordnungsvolumens betrachten patientenübergreifend keinen kalendarisch vergleichbaren Zeitraum, was hinsichtlich potenzieller saisonaler Einflusseffekte einschränkend zu berücksichtigen ist. Hierin könnte etwa eine mögliche Erklärung für die beobachtete Reduktion des Verordnungsvolumens in Quartal 4 vor Interventionsstart liegen. Durch das einfache Paneldesign liegt zudem keine vergleichende Kontrollgruppe vor, weshalb Paneleffekte sowie deren Stärke nicht abzuschätzen sind. Darüber hinaus war die Panelmortalität nicht beobachtbar. Patienten, die durch Todesfall oder Umzug aus der Studie ausscheiden, sind nicht unterscheidbar von Patienten, die aufgrund von mangelnder Notwendigkeit keine Arztkontakte und damit keine zu zählenden Verordnungen mehr
haben. Zudem entfielen 87,9% der AMTS-Einträge bzw. 50,6% der Medikationsverordnungen auf zwei ,,high-usage Ärzte‘‘ der insgesamt 15 produktiven Ärzte, wodurch eine Extrapolation der Ergebnisse weiter eingeschränkt wird. In diesem Zusammenhang hätte durchgeführte Akzeptanzbefragung wichtige weiterführende Erkenntnisse zur Erklärung des Nutzungsverhaltens liefern können. Dies war jedoch aufgrund der mangelhaften Response nicht möglich. Über Ursachen der im Vergleich zum bundesweiten Durchschnitt geringe PIM-Verschreibungsquoten in der vorliegenden Studienkohorte kann nur spekuliert werden. Denkbar wäre etwa ein durch die Studienteilnahme per se verändertes Verschreibungsverhalten der teilnehmenden Ärzte. Wahrscheinlicher erscheint jedoch eine Positivselektion im Rahmen der Ärzterekrutierung. So ist anzunehmen, dass die Teilnahmebereitschaft bei solchen Ärzten höher liegt, die sich auch unabhängig von bestimmten AMTS-assoziierten Interventionsformen bereits bewusst mit einer PIM-gerechten Arzneimittelversorgung auseinandergesetzt haben. Hinsichtlich des starken zeitlichen Gradienten in der Umsteuerung auf AMTS-Warnmeldungen kommen mehrere Erklärungsansätze infrage. Einerseits könnte das als ,,alert fatigue‘‘ bekannte Phänomen der abnehmenden Sensibilität auf elektronische Warnmeldungen ursächlich für die im Zeitverlauf sinkenden Umsteuerungsquoten sein [32]. Hier ist jedoch anzumerken, dass wiederholte Warnmeldungen zum gleichen Prüfgegenstand als Einflussfaktor ausgeschlossen werden können. Der zeitliche Gradient könnte vielmehr durch ein abnehmendes Umsteuerungspotenzial bei PRISCUS-Medikationen erklärt werden. Eine Verordnung von PIM ist zudem trotz PRISCUS-Liste im Alter nicht immer zu vermeiden. So sind beispielsweise PIM-Verschreibungen ohne Umstellungsalternative möglich [33]. Die Komplexität des Morbiditätsspektrums macht eine individuelle Entscheidung des Arztes notwendig, welche ggf. wissentlich nicht immer konform zu Leitlinien oder Empfehlungen wie der PRISCUS-Liste ist. Die geringere Anzahl berücksichtigter PRISCUS-Medikationen zur Berechnung der Umsteuerungsquoten im Vergleich zur Prävalenzauswertung ist wiederum auf die Nicht-Berücksichtigung von Dauermedikationen zurückzuführen. Insgesamt hätten auch bei der Bewertung der Umsteuerungsquoten Ergebnisse der qualitativen Befragung zum besseren Verständnis beitragen können. Es wäre darüber hinaus denkbar, dass der beobachtete Einsparungseffekt weniger durch kontoinduzierte Änderungen im Verschreibungsverhalten als durch insgesamt sinkende Arzneimittelpreise zumindest teilweise überlagert wird. Da die
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durchschnittlichen Bruttokosten einer Verschreibung im Beobachtungszeitraum vor Einführung des Arzneimittelkontos bei 29,40 D und im Zeitraum danach bei 30,34 D lagen, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die beobachteten Kosteneinsparungen im Wesentlichen auf Mengeneffekte zurückzuführen sind. Des Weiteren kann nicht ausgeschlossen werden, dass aufgrund einer fehlenden Internetverbindung zum Zeitpunkt der in der Praxis durchgeführten AMTS-Prüfung nicht alle relevanten Daten in das Arzneimittelkonto übertragen werden. Allerdings bekommt der verordnende Arzt in dieser Situation einen Warnhinweis, dass die AMTS-Prüfung aufgrund einer fehlenden Internetverbindung zurzeit nur lokal, also nur basierend auf den im praxiseigenen AIS gespeicherten Patientendaten, durchgeführt werden kann. Inwiefern diese Hinweismeldung zu einer Nachsteuerung von Daten geführt hat, konnte nicht beurteilt werden. Die Verwendung ambulanter Diagnosedaten zur Bestätigung des Interventionseffektes des Arzneimittelkontos innerhalb der berechneten GLM-Modelle muss aufgrund der in der Literatur berichteten schlechten Reportqualität von ambulanten Diagnosen in Folge einer fehlenden Abrechnungsrelevanz ebenfalls einschränkend berücksichtigt werden [34]. Auch ist zu beachten, dass keine Daten über Effekte auf patientenrelevante Endpunkte wie z. B. eine reduzierte Hospitalisierungsquote erfasst wurden. AMTS ist ein komplexes Problemfeld der Gesundheitsversorgung und angesichts der erwartbaren demografischen Entwicklungen bei gleichzeitiger Zunahme medikamentöser Therapiemöglichkeiten von zunehmender Relevanz. Verschiedene systematische Übersichtsarbeiten haben zuletzt darauf hingewiesen, dass IT-basierte Assistenzsysteme die Möglichkeit bieten, die Sicherheit der medikamentösen Therapie zu steigern [35,36] und mittelfristig Kosten zu senken [37]. Insbesondere für den deutschen Versorgungskontext fehlt es jedoch noch an belastbarer Evidenz, inwieweit verordnungssynchrone Assistenzsysteme auch über unmittelbare Verordnungsparameter hinaus quantifizierbaren Nutzen, z.B. in Form vermiedener Krankenhausaufenthalte, generieren. Neben dem Arzneimittelkonto NRW sind zum Beispiel von den Modellprojekten ARMIN (die Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen) oder dem im Rahmen des Innovationsfonds geförderten Projektes AdAM (Anwendung digital-gestütztes Arzneimitteltherapie- und Versorgungs-Management) interventionsbezogene Daten zur Verbesserung der AMTS zu erwarten. Die vorliegenden Evaluationsergebnisse tragen zur Schließung der bestehenden Evidenzlücke bei. So liegen mit dem Arzneimittelkonto NRW nun erstmals versorgungsreale Erfahrungen aus einem zu einer Intervention zur verordnungssynchronen Arzneimitteltherapiesicherheitsprüfung im deutschen Versorgungskontext vor. Trotz der bestehenden Limitationen zeigt die vorliegende Pilotstudie die grundsätzliche Anwendbarkeit der Intervention im Versorgungsalltag. Insgesamt zeigen die Erfahrungen dieser Studie, insbesondere die starke Varianz im Nutzungsverhalten, den hohen Stellenwert einer engen qualitativen Begleitung zukünftiger Projekte auf. So hängt die Chance einer flächendeckenden Etablierung digitaler Interventionen maßgeblich von der Anwenderfreundlichkeit und Nutzerakzeptanz ab, welche es im Detail zu evaluieren und bei der Weiterentwicklung einer Intervention zu berücksichtigen gilt. Entscheidend für den weiteren Ausbau der Versorgungsrelevanz der hier untersuchten Intervention ist zudem die Ausweitung der Arzneimittelkontoanwendung auf weitere Leistungsbereiche (Apotheken, Pflegeheime, Krankenhäuser) sowie die elektronische Einbindung des BMP. In diesem Zusammenhang sollte zukünftig auch evaluiert werden, inwiefern durch anwenderoder sektorenübergreifende Interventionskonzepte weitere Potentiale zur Verbesserung der AMTS gehoben werden können. Mit dem im Frühjahr 2016 begonnenen Projekt ,,Multidisziplinäre
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Arzneimittelversorgung und Arzneimitteltherapiesicherheit für ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger‘‘ (Arzneimittelkonto NRW 2) soll im Laufe der kommenden Jahre erstmalig für den deutschen Versorgungskontext die Verknüpfung ambulant-ärztlicher und apothekenbasierter AMTS-Prüfungen erprobt und hinsichtlich patientenrelevanter Aspekte evaluiert werden. Förderung Das Projekt wurde Teilfinanziert durch EU-EFRE-Fördergelder des Landes NRW. Interessenkonflikt Keine. Literatur [1] Scheidt-Nave C, Richter S, Fuchs J, Kuhlmey A. Challenges to health research for aging populations using the example of ,,multimorbidity. ‘‘Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz; 2010;53(5): 441–50. [2] Fulton MM, Allen ER. Polypharmacy in the elderly: a literature review. J Am Acad Nurse Pract; 2005;17(4):123–32. [3] Frazier SC. Health outcomes and polypharmacy in elderly individuals: an integrated literature review. J Gerontol Nurs; 2005;31(9):4–11. [4] Thürmann P, Selke G. Arzneimittelversorgung älterer Patienten. In: Klauber J, Günster C, Gerste B, Robra BP, Schmacke N, editors. Versorgungs-Report 2013/2014: Depression. Stuttgart: Schattauer; 2014. p. 185–208. [5] Braun B. Polypharmazie. Eine Analyse mit hkk-Routinedaten URL: 2017. https://www.hkk.de/-/media/files/website/infomaterial/ gesundheitsreport/2017 gesundheitsreport polypharmazie.ashx?la = de(accessed de&hash = 7663A02F76FD93D1086CF8D2902BAA50C3A8F25D 23.04.18). [6] Reason J. Human error: models and management. BMJ; 2000;320:768–70. [7] Hughes RG, Ortiz E. Medication errors: Why they happen, and how they can be prevented. Am J Nurs; 2005;28:14–24. [8] Schmitt NM, Kirch W. Besonderheiten der Pharmakotherapie bei Frauen im Altern. Gynäkologe; 2006;39:367–72. [9] Treudler R, Walther F, Ahnert P, Simon JC. Unerwünschte Arzneimittelreaktionen beim älteren Menschen. Hautarzt; 2017;68:5–11. [10] Dormann H, Criegee-Rieck M, Neubert A, Egger T, Geise A, Krebs S, Schneider T, Levy M, Hahn E, Brune K. Lack of awareness of community-acquired adverse drug reactions upon hospital admission: dimensions and consequences of a dilemma. Drug Saf; 2003;26:353–62. [11] Dormann H, Neubert A, Criegee-Rieck M, Egger T, Radespiel-Tröger M, AzazLivshits T, Levy M, Brune K, Hahn EG. Readmissions and adverse drug reactions in internal medicine: the economic impact. J Int Med; 2004;255:653–63. [12] Eckhardt R, Steinhagen-Thiessen E, Kämpfe S, Buchmann N. Polypharmazie und Arzneimitteltherapiesicherheit im Alter. Z Gerontol Geriatr; 2014;47:293–301. [13] Holt S, Schmiedl S, Thürmann P. Potentially inappropriate medications in the elderly: the PRISCUS list. Dtsch Arztebl Int; 2010;107(31–32):543–51. [14] Beers MH, Ouslander JG. Risk factors in geriatric drug prescribing. Drugs; 1989;37(1):105–12. [15] Wehling M. Multimorbidity and polypharmacy: how to reduce the harmful drug load and yet add needed drugs in the elderly? Proposal of a new drug classification: fit for the aged. J Am Geriatr Soc; 2009;57(3):560–1. [16] Gallagher P, Ryan C, Byrne S, Kennedy J, O’Mahony D. STOPP (screening tool of older person’s prescriptions) and START (screening tool to alert doctors to right treatment). Consensus validation. Int J Clin Pharmacol Ther; 2008;46(2):72–83. [17] Chang CB, Chen JH, Wen CJ, Kuo HK, Lu IS, Chiu LS, Wu SC, Chan DC. Potentially inappropriate medications in geriatric outpatients with polypharmacy: application of six sets of published explicit criteria. Br J Clin Pharmacol; 2011;72(3):482–9. [18] Zimmermann T, Kaduszkiewicz H, van den Bussche H, Schön G, Brettschneider C, König HH, Wiese B, Bickel H, Mösch E, Luppa M, Riedel-Heller S, Werle J, Weyerer S, Fuchs A, Pentzek M, Hänisch B, Maler W, Scherer M, Jessen F, AgeCoDe-Study Group, 2013. Potentially inappropriate medication in elderly primary care patients: a retrospective, longitudinal analysis. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz; 56 (7): 941–949. [19] Linder R, Schneider U, Köthemann M, Verheyen F. Ärztliches Verordnungsverhalten von potenziell inadäquaten Medikamenten für ältere Menschen. Eine Potenzialanalyse anhand der PRISCUS-Liste auf Basis von TK-Routinedaten. Dtsch Med Wochenschrift; 2014;139:983–9. [20] Endres HG, Kaufmann-Kolle P, Steeb V, Bauer E, Böttner C, Thürmann P. Association between potentially inappropriate medication (PIM) use and risk of hospitalization in older adults: an observational study based on routine data comparing PIM use with use of PIM alternatives. PLoS ONE; 2016;11(2):e0146811.
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Please cite this article in press as: Witte J, et al. Wirksamkeit technischer Unterstützungssysteme zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit – Evaluationsergebnisse des Arzneimittelkontos NRW. Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2019), https://doi.org/10.1016/j.zefq.2019.10.002