Vorwort der Herausgeber

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Vorwort der Herausgeber Das Praxishandbuch erscheint in der 2. vollständig überarbeiteten und ergänzten Auflage. Es enthält den Wissens- und Erfahrung...

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Vorwort der Herausgeber Das Praxishandbuch erscheint in der 2. vollständig überarbeiteten und ergänzten Auflage. Es enthält den Wissens- und Erfahrungszugewinn im praktisch-therapeutischen, sozialen und politischen Umgang mit Migranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden aus den vergangenen Jahren im deutschsprachigen Raum. Eine Mitautorin brachte es auf den Punkt: „Wir haben noch nie so viel über Migration gelernt, wie in den letzten drei Jahren!“ Dem können wir vorbehaltlos zustimmen. Das neue für die Alltagspraxis nützliche Erfahrungswissen haben die Autoren in verdichteter Form in die vielen neu verfassten und überarbeiteten Beiträge eingebracht. Allen Autoren ist es gemeinsam gelungen, praxisnah nachvollziehbar zu machen, wie Zuwanderern und Flüchtlingen geholfen werden kann, ihre psychische Gesundheit zu erhalten oder zu verbessern und damit ihre Chancen bei der Integration in die Aufnahmegesellschaften zu stärken. Die Beiträge bieten einen lebendigen, aber auch beunruhigenden Einblick in die Ressourcen, Sorgen und Nöte der Migranten und Flüchtlinge und in die Zugangsbarrieren zu den nationalen Gesundheitssystemen, denen sie sich gegenüber sehen. Das Handbuch möchte zur Qualitätsverbesserung ihrer Versorgung, zu größerer kultureller Kompetenz im Umgang und zu einer auf empirischen Fakten basierenden Versachlichung der zuweilen von Vorurteilen geprägten Fachdiskussionen und gesellschaftlichen Diskurse beitragen. Es ist dem therapeutischen Anspruch verpflichtet, Menschen aus anderen Ländern und kulturellen Kontexten mit denselben hohen fachlichen Standards zu behandeln wie die einheimischen Mitbürger. Die Struktur des Buches, gegliedert in die Abschnitte I–VIII, spiegelt die Erfordernisse der Alltagsarbeit mit Migranten in unserem Fach wider. Es bildet die Kernthemen ab, die unsere Behandlungskompetenz wirkungsvoll bereichern können. Das Buch beginnt mit einem Blick über den eigenen Horizont hinaus auf bewährte Verständnismodelle zur Migration, um daraus Impulse für die eigene Arbeit und Reflexionsanreize zu gewinnen. Im Abschnitt I

„Theoretische Aspekte“ werden dazu mehrere Dimensionen des Verstehens aufgetan: die philoso­ phische (› Kap. 1), die ethnologische (› Kap. 2) und die interkulturelle psychiatrische Perspektive (› Kap. 3) mit einer engagierten Pro-und-ContraDebatte (› Exkurs im Internet). In den folgenden Kapiteln wird aufgezeigt, wie sich ein vertiefter ­Zugang zu Migrationsprozessen (› Kap. 4), kultu­ rellen Differenzen (› Kap. 5), hybriden Identitäten (› Kap. 6), psychologischen Belastungen und Ressourcen (› Kap. 7) und zum Stress derAkkultura­ tion (› Kap. 8) gewinnen lässt. Aber die gesellschaftlichen Hindernisse, die sich durch Diskriminierung (› Kap. 9) und Rassismen (› Kap. 10) auftun, bedürfen der Neutralisierung und Entkräftung. Nicht unthematisiert darf in diesem Kontext die wichtige Rolle der Kulturgrenzen überschreitenden Religiosität bleiben (› Kap. 11). Der Abschnitt schließt mit einem Überblick über die globalen Mi­ gra­tions­be­we­gun­gen (› Kap. 12). Welche sind die Bedingungen, die die großen Gruppen der Zugewanderten in unserem Land bei der Begegnung mit den Einheimischen vorfinden und wie reagieren sie darauf? Zu diesen Fragen nehmen im Abschnitt II „Rahmenbedingungen für die Migrantenversorgung“ Experten aus Deutschland und aus unterschiedlichen Kulturen mit Migrationserfahrungen im deutschsprachigen Raum Stellung: Türken (› Kap. 13.1), Aussiedler (› Kap. 13.2), Juden aus Russland (› Kap. 13.3), Polen (› Kap. 13.4) und Syrer (› Kap. 13.5). Aus Fernost sind es Vietnamesen (› Kap. 13.7) und Chinesen (› Kap. 13.6), abschließend Afghanen (› Kap. 13.8) und Westafrikaner (› Kap. 13.9). Welche Rahmenbedingungen bieten Zuwanderern die politischen Administrationen und das Gesundheitssystem, zumal das psychiatrisch-psychotherapeutische? Mit Empfehlungen zur Öffnung der Institutionen anhand der aktualisierten „Sonnenberger Leitlinien“ (› Kap. 14) werden die Behandlungserfordernisse für unser Fach skizziert und weiter vertieft durch Beiträge zur  Sprachmittlung (› Kap. 15), mehrkulturellen Team­entwicklung (› Kap. 16) und dem interkultu-

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rellen Kompetenzerwerb (› Kap. 17). Die politisch umstrittenen rechtlichen Rahmenbedingungen für die Aufenthaltserteilung von Ausländern und vor allem von Asylsuchenden (Asylpaket) (› Kap. 18) werden eingehend erläutert. Der „Diagnostik und Epidemiologie psychischer Störungen“ in Abschnitt III wird in unserem Buch aus drei verschiedenen Perspektiven nachgegangen: die klinisch-psychiatrische Exploration und Untersuchung unter Einbezug kultur- und migrations­ spezifischer Aspekte (› Kap. 19), die objektivie­ rende interkulturelle psychologische Testdiagnostik (› Kap. 20) und ein Wissen über die psychischen Vulnerabilitäten und Erkrankungsrisiken von Menschen mit Migrationserfahrung und aus anderen kulturellen Kontexten (› Kap. 21). Eine sorgfältige Anamneseerhebung mit Fragen zum kulturellen Herkunftskontext unter Berücksichtigung der Migrationserlebnisse, Akkulturationsstrategien und Integrationserfolge ist die Voraussetzung für eine exakte Diagnosestellung und die Entwicklung eines „maßgeschneiderten“ Therapieplans (› Kap. 19). Ergänzt wird diese interaktions- und beobachtungsgestützte Psychodiagnostik durch kultursensitive und kulturfaire psychologische Testverfahren als „objektivierende“ Methode (› Kap. 20). Da es derzeit keinen Konsens bezüglich einer die kulturellen Grenzen überschreitenden Diagnostik gibt, die interkulturellen Vergleichen Stand hält – eine für epidemiologische Erhebungen psychischer Störungen unabdingbare Voraussetzung – werden die Bezugspunkte für die Entstehung einer erhöhten Vulnerabilität und die aktuelle psychische Morbidität bei Menschen mit Migrationshintergrund kritisch hinterfragt (› Kap. 21). Die Versorgung von „Geflüchteten und Asylsuchenden“ im neuen Abschnitt IV ist derzeit ein vorrangiges Praxis- und Forschungsanliegen in unserem Fach. Für die Behandlungen hat sich das aktuell akkumulierte Erfahrungswissen bei der Erprobung von Konzepten zu ihrer Akutversorgung als äußerst hilfreich erwiesen (› Kap. 22). Die besonderen Versorgungsbedürfnisse der vulnerablen Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UmF) (› Kap. 23) sind empirisch gut fundiert. Die therapeutischen Methoden zur differenzierten Behandlung verschiedener Gruppen von Traumatisierten sind vielfältig. Beispielhaft werden die Narrative Ex-

positionstherapie (› Kap. 24) und das Projekt der Behandlung traumatisierter Jesidinnen in Deutschland erläutert (› Kap. 25). Eine gute Orien­tierung vermitteln die Standards für die Behandlung von Flüchtlingen und Asylsuchenden (› Kap. 26) in Mitteleuropa und der Beitrag zur Technik und Pro­ blematik ihrer Begutachtung (› Kap. 27). Ein besonderes Anliegen war es uns, im Abschnitt V einführend einen Überblick über die ak­ tuelle Migrations- und Flüchtlingspolitik zu geben (› Kap. 28) um vor diesem Hintergrund die „Mi­ gran­ten­grup­pen mit besonderen Problemlagen“ in den Blick zu nehmen. Dabei geht es um diejenigen, die häufig nicht gesehen werden, aber der psychia­ trisch-psychotherapeutischen Hilfe besonders bedürfen. Das gilt für ganz unterschiedliche Gruppen: jugendliche Migranten (› Kap. 29), bei denen den sozialen Lebenswelten oft eine höhere Bedeutung zukommt als dem Migrationshintergrund. Wichtig für diese Gruppen ist die sprachliche Kommunika­ tionsförderung (› Kap. 24): Weitere Gruppen sind z.B. Frauen und Mädchen (› Kap. 30), welche die Migrationssituation offenbar sehr viel besser für ein selbstbestimmtes Leben nutzen können als gemeinhin angenommen wird. Sie verstehen es, „viele Welten zu leben“. Anders ist es bei Opfern von Menschenhandel, Freiheitsberaubung und sexualisierter Gewalt (› Kap. 31) – überwiegend Frauen aus Mittel- und Osteuropa. Durch die Präsentation körper­ licher Beschwerden entgehen sie häufig der psychia­ trisch-psychotherapeutischen Wahrnehmung, Dia­ gnostik und Behandlung. Sie gehören meistens zur Gruppe der „Irregulären (illegalen, nicht dokumentierten) Migranten“ (› Kap. 32), die wegen der hohen rechtlichen Hürden, der Angst vor Entdeckung und Abschiebung zu selten als spezifische Zielgruppe psychiatrisch-psychotherapeutischer Tätigkeit beachtet wurden. Abschließend wird in diesem Abschnitt mit „Migranten im Alter“ (› Kap. 33) ein Zukunftsthema angesprochen: Ihr Anteil wird in den kommenden Jahrzehnten eine versorgungsrelevante Größe annehmen. In dem großen Abschnitt VI „Krankheitsbilder“ wird am deutlichsten, dass in diesem Buch inhaltlich sowohl die Psychiatrie im Kulturvergleich als auch eine migrationssensible Psychiatrie und Psychotherapie dargestellt wird und im klinischen Alltag Berücksichtigung finden muss. Die Kapitel zu den u. g.

Vorwort der Herausgeber Krankheitsbildern fokussieren auch in der Neuauflage auf diagnostische und therapeutische Besonderheiten bei Patienten aus anderen Kulturen und ihre Integration in im deutschsprachigen Raum angewandte Therapiekonzepte. Viele instruktive Fallbeispiele veranschaulichen dabei die damit verbundenen Herausforderungen im klinischen Alltag und geben vielfältige Denkanstöße zur Überprüfung auch des eigenen Handelns. In den einzelnen Kapiteln werden beispielhaft die kulturell und migra­ tions­spe­zi­fisch geprägten psychopathologischen Symptomkonstellationen für die wichtigsten Krankheitsbilder, wie psychotische Störungen (› Kap. 34), Angststörungen (› Kap. 35), PTBS (› Kap. 36), Depressionen (› Kap. 37), Anpassungsstörungen (› Kap. 38), Somatisierung und somatoforme Störungen (› Kap. 39), Persönlichkeitsstörungen (›  Kap. 40) sowie Abhängigkeit und Sucht (› Kap. 41) erläutert. Für die aktualisierte 2. Auflage dieses Buchs wurden hier alle wesentlichen Neuerungen eingearbeitet, die sich durch die Einführung des DSM-5 ergeben. Die Neuerungen im DSM-5 spiegeln nicht nur die Veränderbarkeit der Bewertung und Zuordnung einzelner Symptome zu psychiatrischen „Krankheitsentitäten“ wider. Sie lassen auch erkennen, dass der Einfluss, der kulturellen und migrationsspezifischen Aspekte für die Symptomatik und Diagnostik einzelner psychischer Störungen, einem zeitlichen Wandel unterliegt. Dies betrifft auch und besonders die sogenannten kulturellen Syndrome und kulturell gebundenen Leidenskonzepte (› Kap. 42) sowie das abschließende Kapitel zu Trance und Besessenheit (› Kap. 43). Was muss bei psychotherapeutischen Behandlungen von Patienten aus anderen Kulturen beachtet werden? Abschnitt VII „Kulturelle und transkul­ turelle Psychotherapie“ behandelt eine zweifache Per­spek­tive, einerseits die der Psychotherapie mit Mi­gran­ten, geschildert im Kapitel „Merkmale und Methoden interkultureller Psychotherapie“ (› Kap. 44), und andererseits den Vergleich psychotherapeutischer Methoden und deren Wirksamkeit über Kulturgrenzen hinweg im Kapitel „Schamanismus und Psychotherapie“ (›  Kap. 47). Die inter­ kulturelle Psychotherapie hat ihre Techniken in den vergangenen Jahren klar herausgearbeitet und die Bedeutung von therapeutischen Haltungen und Übertragungen, von Widerstandsbearbeitung und

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Interventionen sowohl aus tiefenpsychologischer (› Kap. 44.1), verhaltenstherapeutischer (› Kap. 44.2) und systemischer Sicht (› Kap. 44.3) genauer bestimmt. Ihre Methoden finden in der Rehabilita­ tion erfolgreich Anwendung (› Kap. 46); Super­ vision der Behandlerteams gilt als wichtiges Erfordernis (› Kap. 45). Der Dialog zwischen Therapiemethoden aus verschiedenen Kulturen wird dann fruchtbar, wenn eigene Ansätze relativiert und die den Verfahren inhärenten transkulturellen Wirkfaktoren analysiert und offen gelegt werden (› Kap. 47.1). Die Bereicherung verschiedenster therapeutischer Verfahren durch Impulse aus anderen Kulturen (› Kap. 47.2, › Kap. 47.3) bleibt dann nicht nur eine bloße Vision, sondern kann bei weiterer Evidenzbasierung zur Option mit vielfältigen Anwendungsfeldern in der interkulturellen klinischen Praxis werden. Der Bereitstellung kultursensibler und -kompetenter „Behandlungs- und Versorgungsstrategien“ für Migranten gelten im psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungssystem derzeit wohl die intensivsten Bemühungen sowohl in struktureller Hinsicht als auch im Hinblick auf den Kompetenzerwerb aller in der Psychiatrie tätigen Berufsgruppen. Deshalb werden im Abschnitt VIII zentrale Behandlungs- und Versorgungsstrategien bei Migranten angesprochen, wie z.B. die Inanspruchnahme von Notfallambulanzen (› Kap. 48), Aspekte der Konsiliarpsychiatrie (› Kap. 49) und der Pharmakotherapie von Migranten (› Kap. 50), ambulante und stationäre Behandlungen (› Kap. 51), forensische Behandlung (› Kap. 52), gemeindepsychiatrische Versorgung (› Kap. 53) sowie die Prävention bei Migranten (› Kap. 56). Nachhaltige und inte­ gra­ti­ve Versorgungs- und Behandlungskonzepte in der Psychiatrie sind generell und entsprechend bei der psychosozialen Versorgung von Migranten ­multiprofessionell auszurichten. Die einzelnen Berufsgruppen und Behandlungsteams sind deshalb auch interkulturell kompetent weiterzuentwickeln. › Kapitel 54 stellt die Anforderungen an interkulturelle Kompetenz in der sozialen Arbeit und das nachfolgende Kapitel wichtige Aspekte einer kultursensiblen Pflege (› Kap. 55) in den Mittelpunkt. Grundsätzlich sollten interkulturelle Kompetenzen aber bereits in der Aus- und Weiterbildung in Gesundheitsberufen einen selbstverständlichen Platz

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erhalten. Beispielhaft wurden für angehende psychologische Psychotherapeuten Leitlinien zur Implementierung inter-/transkultureller Kompetenztrainings in der Ausbildung formuliert (› Kap. 58). Wie sich Krankenhäuser und therapeutische Einrichtungen in Richtung einer Klientenzentrierung auf Migranten in der Praxis weiterentwickeln können, veranschaulichen in › Kapitel 57 konkrete Beispiele für „Good Practice“. Dieses Praxishandbuch ist ein Lesebuch und ein Nachschlagewerk zugleich. Für den Beginn der Lektüre eignen sich die Beiträge des Abschnitts II „Rahmenbedingungen“ gut, denn dort kommen die Mi­ gran­ten in › Kapitel 13.1–9 selber zu Wort. Es ließe sich dann fortfahren mit Abschnitt III „Diagnostik“ und VI „Geflüchtete und Asylsuchende“. Die vielfältigen Beiträge können denen eine Hilfe sein, die ihren therapeutischen Umgang mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturen auf dem Gebiet der Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie durch inter-

kulturelle Kompetenz bereichern und vertiefen ­wollen. Es wendet sich an alle in diesen Bereichen tätigen Berufsgruppen wie Psychiater, Psychotherapeuten, Psychologen, Allgemeinmediziner, Sozialpädagogen, Kunst- und Ergotherapeuten, Krankenpflegepersonal und andere im Bereich der psychologischen Medizin und Nervenheilkunde Tätigen wie Soziologen, Ethnologen, Sprach- und Kulturmittler, Administratoren u.a. Wir wünschen allen Lesern viel Freude und Gewinn bei der Lektüre. Der besondere Dank der Herausgeber gilt den Mitarbeiterinnen des Elsevier Verlages Frau Uschi Jahn, Frau Cornelia von Saint Paul, Frau Susanne C. Bogner und Frau Sonja Hinte für die Ausstattung des Buches, das Lektorat und die gute Zusammenarbeit. Hannover und Berlin, im Januar 2018 Wielant Machleidt, Ulrike Kluge, Marcel G. Sieberer und Andreas Heinz