Zur medizinischen psychologie und philosophischen anthropologie

Zur medizinischen psychologie und philosophischen anthropologie

ZUR MEDIZINISCHEN PSYCHOLOGIE UND PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE VON ADH]~MAR GELB Professor an die Universitat Halle a.S. VORWOR'r Durch die Vertiffe...

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ZUR MEDIZINISCHEN PSYCHOLOGIE UND PHILOSOPHISCHEN ANTHROPOLOGIE VON ADH]~MAR GELB Professor an die Universitat Halle a.S.

VORWOR'r Durch die Vertiffentl~chtmg der vorliegenden Arbeit woUen wir nicht nur unseren Iriih verstorbenen Kollegen und Freund A.DH~MAR GELB ehren, sondern unserem Leserkreis in einfacher und klarer Darstellung jene Probleme darbieten, iiir die sich Gelb mit seiner ganzen geistigen Kraft und seinem Verantwortungsgefiihl einsetzte. Es handelt sich bier nicht um Mitteilung yon neuem Forschungsmaterial, sondern urn eine phflosophisch begriindete Zusammenfassung der psychopathologischen Forschungen, die Gelb in jahrelanger gemeinsarner Arbei~ mit K. Goldstein im ,,Institut zur Eriorschung der Folgeerscheinungen yon Himvedetzungen" in Frankfurt a.M. ausgefiihrt hat. Als Gast der Universit~it Lund hatte Gelb irn Jahre 1935 Gelegenheit, seine Forschungsergebtfisse und theoretischen Anschauungen, die fiir die Anerkenmmg des gestalttheoretischen Gesichtspunktes in der allgemeinen und medizinischen Psychologie mitbestimmend waren, vor einem Kreise yon Mediziner~, Psychologen und Philosophen vorzutragen. Sein Ziel war nicht aUein darauf gerichtet, eine FiiUe hirnpathologischer Beobachtungen zu zeigen, sondern zugleich die innere Verbindung zwischen Medizin, Psychologie und Philosophie klarzulegen, die Unhaltbarkeit der Aullassung beziiglich der Trennbarkeit yon Beobachtung und Theorie, yon Empirie und Problematik auizuweisen. Wohl in keiner seiner Arbeiten kommen Gelbs wissenschaftlicher 193 Acta Psyehologica III

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Chzrakter, sein Ernst und seine Gewissenhaftigkeit, gepaart mit um_~assender Bildung und Darstellungsgabe so deutlich zum Ausdruck, wie gerade in diesen Vortr~gen. Gelb geht~rte zu den wer.~igen Forschern, die die konkretesten Fragen der Wahrnehmungspsychologie yon einem philosophischen Standpunkte aus zu sehen wissen. Die Art seiner Darste~ung, der durchsichtige Aufbau seiner Gedanken, die klare Beweisftihrung seiner Ansichten geben seinen Ausftihrungen ein Gepr~ge, das wit selten in unserer Wissenschaft wiederfinden. Sein Schaffensdrang entsprang aus einem gesteigerten Wahrheitsdrang, seine Darstellung aus der Einheit von Idee und Form. Diese Harmonie stand in voller ~bereinstimmung mit seiner Hingabe und Liebe zur Wissenschaft, flit die er eine beinahe mystische Verehrung hegte. Wir glauben u ~ r e Pflicht gegentiber dieser Wissenschaft zu tun, wenn wir Gelbs Vorlesungen fiber die Ergebnisse seiner Forschung in die Acta psychologica aufnelnnen und dadurch seinen Freunden, wie alten und jungen Kollegen seine weit fiber den Rahmen der experimentellen Forschung hinau~ehenden Ansche.uungen in ihrer letzten und endgtiltigen Form darbieten.

SVEN INGVAR

Prof. der inneren Medizin Universit~t Lund G. lt~.v~sz Prof. der Psychologie Universit~t Amsterdam EI~AR TE¢,E~

Prof. der Philosophie Hochschule Stockholm W. HOCHHSIMER

Psychologe am Kaiser-Wilhehn-Institut f~r Hirnforschung Berlin-Buch.

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Der Kanzler der KSnigin Elisabeth von England, Francis Bacon, war ein seltsamer und philosophisch bedeutender Kopf. Die Historiker der Philosophie setzen ihn gem an den Anfang der modernen Wissenschaft, weft dieser Francis Bacon als Logiker der Empirie die grosse Bedcutung der Erfahrung fiir die Erkennthis betont hat. Unter anderem hat Bacon in einer seiner Schriften (De Augmentis, 1623) von sc,genannten ,,normalen Bildungen" und von sogenannten ,,abnormen Bildimgen" gesprochen. Die normalen Bildungen nannte er die ,,generationes" und die abnoren die ,,praetergenerationes", wobei er die Forderung aufsteUte, man miisse, ,wenn man die normalen Bildungen verstehen wolle, auch die abnormen Bildungen in ihrer eigentiimlichen Struktur erfassen. Im Sinne dieser Bacon'schen Forderung gestatte man mir, bier vom kranken Menschen auszugehen, vom Menschen, der in einer bestimmten Weise ver~indert ist. Die Einsicht in die Art der Veriinderungen sou uns dem Verst~indnis des gesunden Menschen niiher bringen. Was ,,Krankheit" ist, darfiber ist viel gedacht und geschrieben worden. Dass Krankheit nicht nur ein medizinischer oder gar klinischer Begriff ist, ergibt sich schon aus dem, was ich eben gesagt habe. Ich will nicht auf die verschiedenen Definitimen von Krankheit eingehen, auch nick t weiter untersuchen, in welchem Sinne zwischen dem Begriff des ,,Abnormen" und dem Begriff des ,,Kranken" em Unterschied besteht. AUe diese Fragen und Unterfragen sollen uns hier nicht beschii~tigen. Im iibrigen ist zu sagen: wenn eine Definition fruchtbar seiin soll, dann gehtirt sie an den Schluss und nicht an den Anfang,. da aus einer Definition sachlich nichts folgt; ,,ex definitione nihil sequitur". Aber eins m6chte ich auf alle F~ille betonen: Krankheit bedroht die Existenz eines Lebewesens. Das wollte wohl auch der Pathologe Aschoff zum Ausdruck bringen, wenn er er~:l~te, dass Krankheit die ,,biologische" Existenz bedrohe. Aber warum heisst es

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da, die ,,biolo~sc~e" Existenz? Welche Seite des Menschen ist denn dabei nicht bedroht? D/e ,,nicht biologische" Seite? Was aber .sou man sich hierunter denken? Wir wollen ruhig sagen: Krankheit hat es beim Menschen mit der Bedrohung der menschlichen Existenz zu tun. Wit haben es eben mit kranken Menschen, nicht mit Tieren zu tun. Wit gehen also vom Menschen aus, dessen Existenz mehr oder weniger gef~hrdet ist. Man gestatte mir, eine pers~nliche Erfahrung anzufiihren. Als ich !915 im Kriege vor die Aufgabe gestellt wurde, die Hirngesch~digten zu untersuchen und diesen Menschen zu ,,helfen", da musste ich bald eine grosse Entt~iuschung erleben. Unser erster Wunsch war, diese ungliickJjchen Menschen wieder bis zu einem gewissen Grade zu ,vollen", zu ,,iriiheren" Menschen zu machen; da abet kam eine Entt~iuschung nach der anderen, bis ~fir schliesslich einsehen lernten, da~ss wit yon ganz falschen Voraussetzungen ausgegangen waren. Wir lernten n~nlich, dass wit in erster Linie jenes Milieu aufzusuchen haben, in dem sich der H~xnverletzte mi~glichst konfliktlos l~,wegen kann. H~itten wit yon vornherein nach diet~sm Milieu gesucht, dann h~itten wir tmsererseits viele M/ihe erspart und vielleicht den Kranken manche Aufregung. Dass wir nicht yon vornherein diesen Weg geg~mgen sind und gar nicht gehen konnten, lag daran, dass wit damals noch nicht gewusst haben, was fiir eine merkwiirdige Ver'~nderung diese Kranken eigentlich erfahren hatten. l~an kann im Grossen und G~mzen unter den Hirngesch~idigten zwei Typen unterscheiden: die einen klagen zwar zuweilen fiber ~iusserliche k~rperliche Leiden wie Sch~indel, Schlatlosigkeit usw., aber nicht fiber das, was sie an spezifisch menschlichen Leistungen eingebiisst haben. Die Vertreter des and'eren Typus dagegen geben zu verstehen, wie schwer sie damnter leiden, dass sie z.B. nicht gel~iufig sprechen, nicht mehr lesen und schreiben k~nnen. Und gerade bei diesem zweiten Typus von Hirngeschadigten fiihlt man immer, dass man es mit Kranken zu tun hat, die zwar zu bedauem sind, die aber im Grunde genommen das Menschliche bewahrt haben. Kranke yore ersten Typus klagen nicht, dass sie kein Wort lesen oder nicht rechnen k6nnen. Sie leben immer ruhig und konfliktlos, solange man sie fiir sich ihre eig~nen Wege gehen l~st. $ie werden nur dann unruhig, wenn man sie untersucht, und wenn man sie vor Auigaben steilt, mit denen sie nicht mehr fertig werden k~nnen. W~ihrend der Unter-

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suchungen kommt es zu Erregungszust~nden und Unfreundlichkeiten ~ yon Menschen, die sonst sehr an uns gehangen haben. Oder man geht etwa mit solchen Menschen fiber die Strasse, den gewohnten ~Veg; dann ist aUes gut. Sagt man abet: , W i t woUen diese Strasse gehen, die fiihrt aueh zum Lazarett", so kommt es zu Unfreundlichkeiten, denn diese Kranken laufen jetzt Gefahr, sich volkommen zu verlieren. Dies sind die beiden Typen, die ,,Klagenden" und die ,,Nichtklagenden". Die ,,Nichtklagenden" werden gewisserrna.c~en erst unter der Situation der Untersuehung zu ,,Kranken", sonst aber sind sie zwar anders als Gesunde, aber nicht direkt als Kranke anzusprecken. Wie ist das zu verstehen ? Diese Frage wird uns immer wieder beschiiftigen. Heute will ich, um yon vornherein ein bestimmtes Prinzip klar zu machen, das uns in allen 10 Vortriigen be~hiiftigen wird~ yon einer St~rung ausgehen, die Ihnen Allen bekannt ist: yon jener Halbblindheit, die man als H e m i a n o p s i e a) bezeichnet. Ich will ganz kurz andeuten, wie eine solche Halbblindheit zustande kommt. Unsere Netzhaut ist nichts anderes als die halbkugelfSrrnige Ausbreitung des Sehnervs:. Das menschliche Auge ist nun so gebaut, dass die beiden rechten Netzhauth~ilften ihre Sehnervenfasern zur rechten Hiilfte des Gehirns, die beiden linken Netzhauth~ilften aber ihre Sehnervenfasern nach der linken Hiilfte des Gehirns ~nden. Der linke ,,tractus" enth~ilt also Sehnervenfasern sowohl vom rechten als auch vom ]iinken Auge; ebenso der rechte ,,tractus" Sehnervenfasern vom linken und vom rechten Auge. Wenn eine Verletzung eines tractu,; entsteht, wenn zB. eine SchrapneUkugel die Schiideldecke durchschliigt und im rechten tractus stecken bleibt, dann miissen beide Augen verletzt sein, so verletzt, dass in diesem Falle die beiden rechten Netzhauth~lften untiichtigwerden. Eine Halbblindheit bekommt man, wenn entweder ein tractus oder ~ in dessen Fortsetzung zum Occipitalpol des Gehirns ~ die ,,Sehstrahhmg" oder die ,,Sehsphere" verletzt ist. Eine rechtsseitige Hemianopsie bedeutet n'an also folgendes: Wenn ich hier mit einem Kreuzchen einen Pttnkt F andeute, einen Punkt, auf den ieh beide Augen einstelle, urn. ihn mOglichst t) Vgl. zum folg.: W. Fuehs, in Gelb-Goldstein, Psychologische Analysen hirnpathologiseher FJille, Barth, Leipzig 1929, Bd. I, S. 251 f., 419 f. Ferner: A. Gelb u. K. Goldstein, Psychol. Forsehg. 6, S. 187 f.

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deutlich zu sehen, da~-m bildet sich dieser Punkt F auf meinen foveae ab: denn ich stelle meine beiden Augen so ein, dass sich der Punkt F auf der fovea des linken und auf der fovea des rechten Auges abbildet. Wenn nun ein Kranker auf den Punkt F blickt und dabei alle Gegenst~ude, die rechts vom Punkt F sind, nicht sieht, so ist er ein rechtsseitiger Hemianopiker. Alle Gegenst~inde nun, die rechts vom angenommenen Punkt F liegen, bilden sich auf den linken Netzhauth~ilften der Augen ab. Eine rechtsseitige Hemianopsie liegt also vor, wenn die linke Netzhauth~fte untiichtig ist. Ich sagte vorhin: es gibt unter den Hirnverletzten ,,klagende" und ,,nic~tklagende"..Selbst bei einer relativ so ,,~iusseren" Verletzung wie bei der Hemianopsie beobachten ~Sr des Entsprechende: es gibt Hemianopiker, die gar nicht ahnen, dass sie hemianopisch sind, und es gibt unter ihnen solche, die wirklich wissen, dass sie hemianopisch sind. Diejenigen, die ein Wissen um ihre Krankheit haben und dariiber klagen, geh0ren zum einen Typ, die anderen ztun zweiten. Man unterscheidet eine Hemianopsie mit ,,vision noLre" yon einer Hemianopsie mit ,,vision nulle". Wenn ich mir einen Hemianopiker denke, der unseren angenommenen Punkt F fixiert und etwa rechts yon diesem Punkt dauernd Dunkelheit sieht, wie wit sie etwa in einem stockfinsteren Keller sehen, so liegt eine ,,vision noire" vor. Der andere Typ der Hemianopiker mit der ,,vision nulle" sieht nichts Dunkles, er sieht im kranken Gesichtsfeld schlechthin nichts und weiss iiberhaupt nicht, dass er hemianopisch ist. Dieser zweite Typ ldagt also im Allgemeinen nicht. Woher kommt nun die ,,vision noire"? Diejenigen, die in der physiologischen Optik bewandert sind, werden wissen, dass ,,vision noire" durch nutritive Vorgiinge des Gehirns entsteht. Diese nutritiven Prozesse schaffen ~en~ dunkle Grau, welches wir empfind,m, wenn wit z.B. in einen stockdunlden Keller hineLukommen und die Augen 5ffnen. Wir sehen dann keine Gegenst~in~le, sondern nur ein raumhaftes, nebelhaftes Dunkel. Dieses Dunkel ist eine positive Empfindung, ist die Empfindung des ,endogenen" Grau. Wenn nun eine Verletzung im tractus oder in der Sehstrahlung vorliegt, kSnnen im Sehzentrum unseres Gehirns immer noch nutritive Prozesse vor sich gehen, und die meisten Hemianopiker, die ihre Verletzung im tractus haben, haben dazu eine ,,vision noire". Sie haben im Grunde ein ,,normales", kom-

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plettes Sehfeld: sie haben eine linke und eine rechte Sehfeldhglfte von einer Mitre a u s , nur mit dem Unterschied gegeniiber dem Gesund~m, dass entweder die linke ~ier die rechte H/ilfte dunkel ist. Die Mediziner unter ]]men wissen, man untersucht Hemianopiker mit einem ,,Perimeter". Das ist ein Apparat, der uns erlaubt, das ,,Gesichtsfeld" des Menschen aufzunehmen, die Netzh~iute gleichsam abzutasten. Wir haben dabei ein Schema, in das wir das gemessene C~sichtsfeld zaldenm~issig eintragen. Wenn wir zahlenm~sig etwas festlegen, muss es sich um etwas Objektives handeln, und das ,Gesichtsfeld" ist in der Tat ein Stiick Aussenraum, das wir festlegen. Wenn ich dabei einen markierten Punkt fixiere und nun bspw. die Kreide yon der Aussenseite heranfiihre his an die Stelle, an der ich sie eben sehe, dann bestimme ich einen Ort draussen, im objektiven, messbaren Raum. Ich betone das besonders, weft viele Untersucher den Begriff des Gesichtsfeldes nicht streng verwenden. Der perimetrische Befund lehrt nun beim Hemianopiker nicht, welcher Typ vorliegt, er lehrt auch nicht, wie sich der Betreffende in der Welt optisch orientiert. Wenn der perimetrische Befund anzeigt, dass entweder die linke oder die rechte H~lfte des Gesichtsfeldes. fehlt", so wissen wir immer noch nicht, wie der Hemianopiker mit seiner iibrig gebliebenen rechten oder linken Gesichtsfeldhglfte die Welt optisch r/iumlich erlebt. Ein Links k6nnen wir nur haben, wenn wit ein Rechts haben. ,,Links" und ,Rechts" gehen yon einem bestimmten ,,Geradeaus", yon einer bestimmten ,Mitte" aus. Soilen wir uns also auf Grund des perimetrischen Befundes denken, dass die Hemianopiker gewissermassen bloss ein ,,links" oder bloss ein ,,rechts" erleben ? Bei der ,,vision noire" liegt ja ein ,rechts" oder ein ,,links" vor, aber wie steht es bei der ,,vision nulle"? Der Perimeterbefund kann uns fiber die Erlebnisse, fiber die Eindriicke des Hemianopikers mit ,vision nulle" nichts lehren. Hier kann nut eine psychologisch-experimentelle Untersuchung weiter fiihren. Wir kniipfen dazu am besten an bestimmte Erfahrungen der Kliniker an. Die Kliniker wissen seit Jahrzehnten, dass Hemianopiker oft grosse Fehler im Umgang mit Gebrauchsgegenst~aden machen. Diese Kranken greifen oft vorbei, und zwar zu weit nach aursen; der Rechtshemianopiker zu weit nach rechts, der Linkshemianopiker zu weit nach links. Man hat ferner beobaclhtet, dass solche

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Kranken n~tunter glauben, bloss das eine Auge sei krank; sie erschliessen das, weft sie z.B. auf der Strasse oft auf einer Seite Menschen anstossen. Iudessen wurden solche Erfahrungen nicht ganz ernst genommen. Man hat gesagt, das sind Menschen, die noch nicht gelemt haben, sich gut zu beobachten, die nicht gut ,aufpassen" k0nnen. Das ist aber eine Annahme, die erst dann zu mac.hen erlaubt ist,wenn man eine griindlicheUntersuchung vorgenommen hat. Wenn ich einen Menschen, ein Lebewesen iiberhaupt untersuche, weiss ich nicht schon von vomherein, was an Symptomen wichtig ist, und was nicht. Ich muss jedes Symptom ernst nehmen, so auch beim Hemianopiker das Vorbeigreifen oder sein ,,Nichtwissen" um die St6rung. Wenn man sich mit einem Hemi~nopiker unterh~ilt und ihm sagt: ,,Gucken Sie mir auf die Nase", dann bemerkt man oft, dass er an der Nase vorbeisieht. Das licgt daran, dass die Hemianopiker mit ,,vision nulle" zwar ein halbes ,Gcsichtsfeld" haben, abet ein ,,Sehfeld", das ganz analog strukturiert ist wie das normale. Auch sie haben ein Links und ,~in Re~hts. Wenn ich jetzt als gesunder Mensch frage, wie unser Sehfeld organisiert sei, so wird man sagen miissen: wenn ich einen Gegenstand anblicke, z.B. diese Kreide, dann ist diese Kreide ,,geradeaus" vor mir. Was geradeaus ist, kann man nicht definieren. Das ist ein Begriff, den man nut deiktisch ldarmachen, nur aufzeigen kann. Man kann nur sagen: ,,Sieh hin, guck auf diese Kreidespitze mit beiden Augen; was Du dabei erlebst in Bezug atd Richtung, das nennen wir,, geradeaus"". Und das ge':adeaus Gesehene bildet fiir gew6hnlich den ,,Kempunkt" des :~chfeldes. Dieser Kempunkt hat noch eLne Merkwiirdigkeit: alles, was in ihm liegt, sehen wir am deutlichsten, weil das, was im Kernpunkt liegt, mit den foveae angeblickt wird. Dcr Hemianopiker beh'alt nut die H~fte yon den Netzh~iuten, aber diese beiden H~ilften erfahren eine Urnorganisation derart, dass sie gleichsam ein ganzes, vollst~ldiges Sehfeld schaffen. Was muss das flit Konsequenzen haben? Zun~ichst, dass das Erlebnis des ,Geradeaus" nun nicht mehr yon der anatomischen fovea ausgeht, sondern yon einer Netzh:utstelle, die mehr oder weniger paracentral, also abseits yon der fovea in der gesunden H~fte liegt. Es bildet sich eine neue f u n k t i o n e 11e fovea 1) aus, die die Aufgabe fibemimmt, das Geradeaus-erlebnis zu vermitteln. Jetzt ist es kein Wunder mehr, dass der Hemianopiker vorbeii) Vgl. W. Fuchs, Psychol. Forschg. I, S. 157L

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guckt, wenn ich ihm sage: ,,Guck mir auf die Nase". Er stellt n~imlich seine neue fovea anf meine Nasenspitze ein, und ich rnu~s dabei den Eindruck bekomrnen, dass tier Hemianopiker an n~r vorb~i blickt. Das hat weiter die Konsequenz, class die neue f,tmktionelle fovea eine bessere Sehsch[irfe bekommt als die urspriingliche. Die Stelle des deutlichsten Sehens ist ja die Stelle, an der unter den lichtempfindlichen Elementen im Bau die sogenannten Zapfen vorherrschen, und zwar haben wir mitten in der fovea nut Zapfen, gar keine St[ibchen. Die Zapfen sind diejenigen lichtempf;ndlichen Elemente, die uns ein Maximum a.n Sehsch~irfe errn~glichen. Diese fovea, anatomisch so ausgezeichnet und begiinstigt, wird bei einern Hernianopiker mit ,,vision nuUe" zu einer NetzhantsteUe, die in Bezug auf Sehsch~irfe geringer, minderwertiger wird als eine paracentrale SteUe, die, anatomisch betrachtet, weniger giinstig ausgestattet ist. Was das f~r eine Konseqnenz hat in Bezug au~ die Frage nach dern Bau und nach der Funktion des centralen Sehapparates, wollen wir heute noch nicht diskutieren. Wir wollen uns aber noch einige andere Konsequenzen vergegenw~/rfigen. Die funktionelle neue fovea wechselt ihren Ort im nerv6~m Augenapparat je nach der Aufgabe, die der Sehapparat als Ganzes bekommt. Darum ist die neue fovea keine anatomisch und ~rtlich festgelegte; man kann nicht ein fiir alle Mal sagen, wie weir entfernt sie yon der urspriinglichen anatomisch ausgezeichneten fovea liegt. Mitunter liegt sie 2°, mitunter 5 °, mitunter '/,? davon entfemt. Der Gradwert richtet sich nach der jeweiligen Aufgabe. Ich habe z.B. ein Wort geschrieben: ,,Lund". Wir nehrnen einen Kranken 2 rn entfernt yon diesem Schn,~tbild an und lassen ihn das L fixieren. Wenn ich jetzt den Kranken frage: ,,Was siehst Du am deutlichsten ?", dann nennt er nicht L, sondem n, u, oder eine Stelle zwischen u und n. Das L ist ihm links vorn Geradeaus. Wenn ich ihrn dagegen eine andere Aufgabe steUe, z.B. irgend eine Figur biete, dann kann es vorkommen, class eine SteUe des Aussenraurues, die bei der ,,Lund"-Aufgabe undeutlich erschien, jetzt deutlich wird, oder urngekehrt; ein Beweis dafiir, class die neue iovea nicht anatornisch-6rtlich festgelegt, sondem funktioneUer Natur ist. Einen absolut eindeutigenBeleg fiir die rein funktlonelIeNatur der neuen fovea bflden fo]gende Versuche: der Hemianopikermit ,,vision nulle" hat irgend ein Wort, z.B. das Wort ,,Lund" in zwei verschiedenen Entfemungen zu lesen, zunSchst etwa in 1 ,n Ent-

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fernung, dann in 10 m. Um die Abbildungsverh~iltnisse auf der Netzhaut bei beiden Entfernungen konstant zu halten, muss man natiirlich beim Versuch in 10 m Entfernung die Buchstaben des Wortes ,,Lund" linear 10 m~l so gross w~hhlen. Man sollte also jetzt erwarten, dass, wenn der Kranke das ,,L" in ,,Lund" fixiert, er in beiden Versuchen das gleiche Resultat liefert in Bezug auf die am deutlichsten gesehene Stelle. Das ist aber nicht der Fall! Bei dem Versuch in 10 m Entfernung glaubt der Hemianopiker genau wie wir m das Wort viel gr~sser zu sehen als bei der ldeinen Entfernung. Infolgedessen rutsc2ht sein ,,Geradeaus" bei der grossen Entfernung weniger nach der Seite als bei der kleinen Entferrmng. Es kommt also j edesmal auf die Aufgabe an, die an den Sehapparat gestellt wird. Wit verstehen jetzt, warum die Hemianopiker mit ,,vision n'ulle" vielfach gar nicht wissen, dass sie hemianopisch sind. Nicht daran liegt es, dass sie ,schlecht aufpassen", wie man geg h u b t hat, sondern daran, dass bei den Hemianopikem mit ,,vision nulle" ein Sehfeld~zustande kommt, das zwar kleiner ist als das des Gesunden, das~ber die analoge normale Struktur besitzt. Bei der Hemianopsie mlt °" ,,vision nulle" findet also eine Umformung, eine Umbildun~ des optisehen Sysl~.emsstatt. Diese funktionelle Umformung igt immer nur dann zu ly.~bachten, wenn wirklich ein vollstiindiger Ausfall der Sehfunktion der erkrankten NetzhanthYften vorliegt. Eleiben dagegen auch nut Reste von Sehflmktion erhalten, dann sieht der K r a n k e - ohne Umformung - - nur schlecht mit den ungeniigend funktionierenden H~lften. Ein Organismus oder ein Organ sucht immer sein Le~tes herzugeben, solange auch nut noch ein Rest von Funktionsmi~glichkeit vorhanden ist. Jetzt diirfte klar sein, warum ein Hemianopiker mit ,,vision nulle" weniger leidet als ein Hemianopiker wit ,,vision noire". Die ,,s~ision noire" st6rt die Orientierung auf Schritt und Tritt; wo der Kranke auch hinblickt, iiberalthin wrfolgt ihn seine ,,dunkle" Sehfeldb~ifte; er muss sich krank fiilden. Bei der ,,vision nulle" dagegen ist der Kranke ein objektiv abnorm sehender Menseh, aber ein subjektives Krankheitsgefiihl hat er nicht; er erlebt beim Sehen unvergleichlich weniger Konflikte mit seiner Umwelt. Der Physiologe Bethe amputierte einem kleinen Wassertiere 6-Fiissler m ein Bein. Im Moment, in dem die Amputation erfolgte, geschah es, dass aus dem Sechsfiissler ein Fiinffiissler

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wurde, d.h. die fiinf Beine disuses Tierchens arbeiteten jetzt so, wie sie friiher im Sechserverband noch niemals geax'beitet hatten. Dieser neue Fiinffiissler ist vergleichsweise kein ,,krankes", sondern nur ein ,,abnormes" Tier; er leistet eben das, was von einem so!chen Wesen gelordert werden kann. Wenn man aber eins der sechs Beinchen nicht amp,ltieren, sondern nur vefletzen wiirde, dann wiirde aus dem Tiere ein kranker Sechsfiissler, der eben wie ein krankes Tier sich nicht geordnet fortzubewegen wiisste. Bei der Amputation kam es also zur Umformung der Apparates - - in Analogie zur vision nulle --, bei der blossen Verletzung zur Schiidigung der urspriinglichen Funktion - - in Analogie zur vision noire. Im Laufe dieser Vortr~ige werden wir sehen, dass es auch auf dem ,,hSchsten" seelischen und inteUektueUen Gebiete Umformungen bestimmter Leistungen gibt. Doch kommt es zu solchen Umformungen immer erst dann, wenn alle M6glichkeiten der urspriinglichen Leistungen fortgefallen sind. Bevor wir uns indessen weitere theoretisehe Fragen vorlegen, woUen wir durch streng methodische Versuche erst das Material schaffen, es immer wieder yon neuen Seiten beleuchten, so dass die Theorie aus der Sache selbst herausspringt.

II Ich habe mit dem Problem der Hemianopsie begonnen: nicht deshalb, weil uns die Hemianopsie als solche besonders interessiert, sondern weft man an ihr bestimmte grund~tzliche Fragen leichter und fasslicher behandeln kann als an anderen St6rungen. Diejenigen Kranken, die keine Vorstellung von ihrem Zustande haben, kennen auch licht eine Fiille yon Aufgaben, die dem gemnden Menschen des gleichen Kulturkreises gel[iufig siad. Darauf mtichte ich Ihre Aufmerksamkeit ganz besonders lenken: wenn durch Krankheit, z.B. Gehirnschiidigung, eine solche We.,~nsveriinderung des Menschen eingetreten, ist, dass er Aufgaben, die dem Normalen leicht zug~inglich sind, nicht mehr verstehen kann, dann sind diese Aufgaben ausserhalb der Urnwelt die.,~s Kranken. Wit h~ben yon der eigentiimlichen Umformung des optischen Systems geh6rt, die bei Hemianopikern mit ,,vision nulle" zu

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erfolgen pflegt: das Halbgesichtsfeld iibernimmt die RoUe eines ganzen Gesichtsfeldes, denn dieses Halbgesichtsfeld gliedert, forint und gestaltet sich in analoger Weise wie das Gesichtsfeld des normalen Menschen. Genane Messungen, die ein Mitarbeiter 1) durchfiihrte, zeigten, dass die ,neue", funktionelle fovea mitunter um 33% bessere Sehsch~irfe haben kann als die urspriingliche, anatomisch ausgezeichnete fovea. Die neue fovea ist m wie wir ~hon h6rten - - nicht an eine bestimmte paracentrale NetzhantsteUe gebunden, sondern ihr Ort wechselt mit der Aufgabe, die an den Sehapparat als Ganzes gesteUt wird. Daraus folgt weiter, dass such die Leistung der einzelnen par~entralen NetzhautsteUe von der jeweiligen Aufgabe mitbestimmt wird. Versuchen Sie, dem Gedanken zu folgen, wenn ich sage, dass die Aufgabe hier die Leistung mitbestimmt. Es ist nicht so, dass da drsussen eine Welt physikalischer Reize vorl~ge, die auf einen Organism,s eindringen, und auf der anderen Seite ein Organismus nat seinen einzelnen Organen, die mit Apparaten ausgestattet sin& Sondern- was die Leistung eines m in unserem FaUe--optischen Einzelorgans betrifft, so w§chst diese und nimmt ab, so gestaltet sie sich mit je nach der Aufgabe, die im Augenblick an den Organisnms als Ganzes herantritt. Die Aufgabe bedingt nun die Leistung mit - - wahrscheinlich im Sinne des kleinsten Energieaufwandes seitens des Organismus. Diesen Gedanken m vom ,,Minimum des Energieaufwandes" - - hat zuerst der Physiker Ernst Macb susgesprochen in seiner Schrift ,,Die Analyse der Empfindungen". Ernst Mach Sprach als Physiker seiner Zeit, d.h. er benutzte Begriffe, die damals vorherr~:hend waren. Ich m6chte lieber nicht sagen ,mit kleinstem Aufwande an Kraft" - das stimmt ~war, sber es ist zu wenig. Man muss noch dazu sagen ,,ira Sinne mt~glichster Pr~gnanz", wie es Max Wertheimer nennt. Darauf kommt es an! Was bedeutet dieses ,,Pr~gnanzgesetz" ? Wenn ich Sie auffordere, sich einen rechten Winkel vorzustellen, so wird das jeder von Ihnen k6nnen. Ob Sie sich das mit Tusche auf weissem Pspier oder rrfit Kreide auf einer Tsfel oder mit Spinnwebf~iden in der Luft wJrsteUen, ist gleic~giiltig. Das Rechtwinklige am Winkel werden Sie irgendwie fassen k6nnen. Wenn ich Sie welter auffordere, sici~ einen Winkel yon 45 ° ~ also einen h~dbrechten Winkel ~ vorzustellen, dann werden Sie such ~) W. Fuch$, Psychol. Forschg. I, l.c.

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dvs einigermassen gut k6nnen. SteUen Sie sich aber r;un einen dritten Winkel von 93 ° vor, oder einen von 87°! Sie aRe spiiren den Unterschied: die letzte ist eine qualitativ andere Aufgabe. Mit dem rechten Winkel gelingt es uns, mit dem halbrechten auch, aber mit 87 ° oder 93 ° u das geht nicht ohne weiteres. Wir steUen uns dabei etwa erst den rechten Winkel vor und gehen dann ,,ein bisschen nach der Seite", ,,nach rechts" oder ,,links." Die unpr/ignanten F/iRe, 87 ° und 93 °, woRen uns in der Vorstellung nicht recht gelingen. Dieses ,,Pr/ignanzgesetz" beherrscht nit-ht allein unser Vorstellungsverm6gen, sondern ebenso unser Wahrnehmungsleben und unser Denken auf Schritt und Tritt. Im Sinne dieses Pr/ignan~4gesetzes also formt sich das Gesichtsfeld des Hemianopikers. Die Mediziner unter Ihnen haben vom Begriff der ,,vikariierenden Funktion" gehSrt. Man miisste hiernach folgendes ~Lnnehmen: bei der Hemianopsie iibernimmt eine excentrische NeLzhautstelle die Funktion der Fc,veastelle, iIch glaube nicht recht an eine solche Deutung. Es handelt sich vielmehr um folgendes: Bei der Umformung des optischen Systems, wie wir sie bei der Eiemianopsie kennen lernten, C,~rnimmt nicht irgend eine Einzelstelle die Funktion einer anderen EinzelsteRe, sondern are Einzelstellen werden jetzt Glieder eines neuen Systems, und eben als Glieder eines neuen Systems arbeitet jede Einzelstelle im Sinue der Gesetzlichkeit dieses neuen Systems. Die Ver~inderungen gehen also nicht ,stiickhaft" vor sich, sondern die Stiicke ~nde:m sich, weil sich das System ge~ndert hat. Das ist eine ganz andere Theorie, als der Gedanke yon der ,,~kariierenden Funktion". Helmholtz hat uns in der physiolo~schen Optik immer wieder klarzumachen versucht, man mfisse die Funktion der einzelnen Nervenfaser zuerst kennen, um die Funktion des gesamten Apparates zu verstehen. Eine solche ,,stiickhafte" Theorie ist eben hier aufgegeben und durch eine andere Theorie - - die ,Gestalttheorie"-- ersetzt, die von dem entgegengesetzten Standpunkte ausgeht: ich muss erst das System verstehen, um die Funktion der einzelnen Nervenfaser im System richtig zu sehen. Daher iibernimmt die paracentrale SteRe nicht die Funktion der fovea. Es iibernimmt iiberhaupt keine Einzelstere die Funkti~n einer anderen, sondern das neue System bedingt die Funktion del Einzelstellen ~). 1) Vgl. wieder A. Gelb u. K. Goldstein, Psy¢hol. Forschg. 6, S. ! 87 f.

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Wit erkenner~ in der F~thologie manche Gesetzlichkeit besser als ~:eim Gesunden. Wa~ kier nur annghemd oder vie1 weniger deutlich ist, erscheint unter pathologischen Verh~tnissen wie ~nter eine:~: Lupe. Ein Beispiel v~m Normalen: ich fixiere jetzt meinen v~chten Zeigefinger und lenke dabei meine Auf. merksamkeit egwa auf dieses Perimetermodell. Die Augen sind also auf den Finger gerichtet, mein innerer Mensch abet auf das Perimeter. Wenn ich ein paar Minuten in dieser Haltung bleibe was nicht leicht i s t - dar:n weiss ich allmglflich nicht mehr, was geradeaus ist, der Finger ~xier das Perimeter. Diese Verlagerung der ,Aufmerksamkeit" an eine andere SteRe als die fixierte sucht schon meinen optischen Apparat herumzureissen. Derartige Beobachtungen hat bereits vor vielen Jahren zuerst E. R. Jaensch angestellt. Eine neue Frage: ist eine Hemianopsie ,Blindheit" im gewi~hn~ h e n Sinne oder nicht? Was fiir eine BJi~dheit liegt hier vor ~ Vergegenwfirtigen wir uns eine rechtsseitige Hemianopsie, also e.ine solche, k~.eider die linke Netzhauth/iL¢~te nicht mchr tunktiordert. Dieses Nichtfunkt~onieren ist insolern eine B]indheit, als (tie linken Netzhauthglften nicht mehr reagieren, wenn sie fiir sich allein, ,stiickhaft isoliert" gereizt werden. Abet es gibt auch andere Fglle. Poppelreuter in Bonn hat zuerst einen Versuch angestellt, iiber den ich berichten m/Schte. Ich zeichne jetzt hier schematisch ein Gesichtsfeld. Ich nehme an, ich habe einen Rechtshemianopiker vor mir. Also alle Lichter, die von rechts kommen und die linken Netzhauthgliten treffen, wirken nicht. Der Hemianopiker soil den Punkt F fixieren. Ich nehme jetzt einen Kreis ~ nicht zu gro~ und nicht zu klein ~ . so dass der Mittelpunkt des Kreises mit dem Fixationspunkt F zusarn_menf~t. Diesen Kreis, d e r n u r zur H~Ifte die sehtiichtigen Netzhauth~]ften triift, zur anderen Hiilfte abet die nicht iunktionierenden, zeige ich dem Kranken 11so Sekunde fang ,tac_his~:oskopisch" (urn Augenbewegungen, die mindestens 2h0 5ek. dauern, auszuscldiessen). Ich frage nun den Kr~nken: ,,Was hast du gesehen ?" Antwort: ,,Einen Kreis, ja einen Kreis, vollst~indig". Warum sieht der Kranke denn abet nicht einen halben Kreis? Ich zeige jetzt dem Kranken unter sonst gleichen Bedingunge l einen halben Kreis, und der Kranke sieht wieder einen ganzen Kreis. Bei einem solchen Befunde h~itte man friiher gesagt: ,Das

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ist eine Blusion", da hat sich der Kranke etwas hinzugedacht. Es sei nicht sicher, dass er wirklich Gesehenes beschrieben habe. Indessen - - in tier Wisscnschaft muss man begriinden, nicht bloss behaupten. Warum gleich ,,Illusion"? Fiir den wirklichen Forscher entscheiden Experimente die Frage, ob Illusion oder nicht, und der niichste Versuch ist natiiflich der: ich biete den Kreis nicht so, d a ~ sein Mittelpunkt mit dem Fixationspunkt zusammenfiillt, sondem so, dass die sehtiichtigen Netzhauth~dften weniger Ms einen halben Kreis empfangen. Ich lege also etwa 3/4 des Kreises in die kranke Seite. Und da sagt der Hemianopiker: ,,es war so ein Bogen da". Jetzt hat also die kranke Seite nicht funktioniert. Nach einem solchen Experiment wird man schon vorsichtiger mit tier Annahme einer ,, Illusion". Wir machen nun weitere Versuche. Ich nehme start des Kreises eine stehende Ellipse und biete die H~ilfte der Ellipse tier sehtiichtigen Seite, die andere H/ilfte der anderen Seite, und nun finde ich, dass der Kranke yon dieser Ellipse nur einen Tell gesehen hat. Wenn ich abet von einer solchen stehenden Ellipse mehr als die Hiilfte der sehtiichtigen Seite biete, so sieht der Kranke wieder eine vollstiindige Figur, eine ganze Ellipse. Das ist ein typischer Beleg ftir das Pr~ignanzgesetz von Max Wertheimer, wogegen Poppelreuter von ,,Illusion",, ,,Ergiinzung aus der Erfahrung", und ~iJanlichen Erkl~,amgen sprach. Hier liegt eben etwas ganz anderes vor als Illusion od. dergl., niimlich ein neues Gesetz, das ,,Gesetz der Liicke". Ist von einem Ganzen ein Tell so geformt, dass er Sinn und Form des Ganzen bereits in sich tr'dgt, dann kommt es zur Ausffillung der Liicke, d.h. dann 1/iuft der Gesamtprozess ab. Der Halbkreis in unserem Versuch 10st in seiner optischen Form bereits den Gesamtprozess aus, der ganze Kreis ist hier schon mitgegeben. Nehme ich dagegen weniger als die Hiilfte, dann wird eine ganz beliebige FortSetzung der Kurve anschaulich m6glich, und der Kreisprozess bleibt aus. Anders bei der Ellipse: wenn ich da die H/ilfte nehme, ist die ganze Ellipse noch nicht mitgegeben, daraus kann auch eine Parabel werden! Erst dann kommt es zwh~gend zur Ellipse, wenn ich der gesunden Seite mehr als die H~ilfte biete. Der Hemiariopiker sieht also ira tachistoskopischen Versuch ganze Figuten, wenn die sichtbaxen Teile, d.h. die, welche auf die gesunde Seite fallen, Sinn und Gesetz des Ganzen bereits enthalten. Ein letztes Experiment: ieh biete eine gerade Linie! Wird der

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Kranke nut ein Stiick yon ihr sehe~, oder das Ganze ? Natiirlich nut ein Stiick, und zwar dasjenige, welches aui der gesunden Seite iiegt. Bei der geraden Linie kommt es auf Gemdheit an, nicht aber darauf, ob sie l~nger e ter kiirzer ist, d~Lsist fiir die Geradheit unwich~ig. Das sind Beispiele ffir naturwissenschaftliche Gesetze, biologische Gesetze. Aber es shad zugleich auch Sinngesetze. Namentlich Mediziner neigen dazu, zu glauben, dass solche Begtiffe wie ,,Sinn" in irgend eh, er ,,hiSheren" Sph/ire waken und mit der ,,vitalen" Sphere nichts zu tun haben. Gerade das ist ,,Philosophie', aber eine schlechte und darum eine gef/ihrliche! Wir haben die Tatsache hinzunehmm~, class bestimmte Formstficke, wie z.B. ein halber Kreis, im Sehzentrmn de,.; Hemianopikers einen Prozess auslb'sen, der genau so abl/iuit, wie wenn ein ganzer Kreis geboten w~ire. Wenn ich dem Hemianopiker nun schliesslich nur eine Kreish~ilfte auf der gesunden Seite biete, was wirO er dann sehen ? Natiirlich wieder einen ganzen Kreis! Ich brauchte also nut die Hglfte zu bieten. ARes Gesagte gilt aber nut fiir den tachistoskopischen Versuch, bei kiirzester Exposition. Sie wissen a21e: wenn ich z.B. eine rote Kreisfigur l~ingere Zeit mit unbewegtem Auge angeschaut habe, dann die Augen schliesse oder auf eine weisse Wand richte, dann sehe ich bald wieder eine Kreisfigur, aber nicht rot, sondern griin, als sogenanntes ,,negatives Nac!.lbild". Hemianopiker verhalten sich bei solchen Versuchen ent'~prechend wie beim tachistoskopischen Versuch: die Vervollst~zadigungen der Figuren (Kreis, Ellipse, etc.) erfolgen auch im negativen Nachbilde. Damit Sie immer wieder sehen, dass es sich bei allem, was ich vorbringe, nicht um Willkiir, nicht um beliebige Theorien handelt, sondern um solche, die die Tatsachen aufzwingen, noch einen wirklich letzten Versuch. Man sprach friiher so gem von ,,Eriahrung", und anch heute spricht man bei derBe~stimmung der Sehsch~irfe noch gem vom Einflusse der Erfahrung anf unser Sehen und I-I6ren. Natiirlich spielt die Erfahrtmg eine grosse Rolle im Leben des blenschen; es fragt sich nur, in welchem Sinne. Wenn jemand sagt, der Hemianopiker vervollst/indigt einen halben Kreis zu einem ganzen deshalb, weil er yon der Hglfte des Kreises erwartet ~ aus ,,eigener Erfahrung" ~ , es kOnnte ein ganzer Kreis sein, dann ist diese Theorie falsch. Zum Beweise nehmen wir nun Buchstaben anstelle yon Kreisen oder Ellipsen.

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Ich nehme etwa den Buchstaben A und exponiere lhn so, dass der Mittelpunkt des A mit dem Mittelpunkt des Fixationspunktes zusammentrifft. Was haben w i r im Leben ~fter gesehen, Buchstaben oder Kreise ? Als Europ~.er diirften wir Buchstaben viel h~ufiger gesehe~ haben als Kreise. Wo sehen wir denn schon Kreise? Wenn ich etwa auf meine Uhr blicke oder beim Essen auf den Teller, dann sehe ich nicht die Uhr, den Teller so an, dass sie sich anf der Netzhaut als Kreise abbilden. Buchstaben verschiedener Art aber sehen wit alle sehr oft. Bei dem Buchstabenversuch nun wird kein einziger Buchstabe, der zur H~ilfte in der sehenden, zur anderen H~lfte in der blinden Seite Iiegt, vom Hemianopiker vervoUst~ndigt. Das Lesen ist eine erworbene F~higkeit, und die Buchstaben sind nicht so strukturiert, dass ihre Teile das Gesetz der gesamten Form enthielten (Gesetz der Liicke). Zuf~llig kann der Buchstabe so geschrieben sein, dass er vervollst~ndigt wird. Dann handelt es sich aber nicht mehr um Buchstaben, sond e r n u m Formen wie Kreis oder Ellipse. Sie sehen also, dass das, was der Hemianopiker viel 6fter in seinem Leben gesehen hat als Kreise, im tachistoskopischen Versuch nicht ve ~,oUsc~indigt wird zur ,totalen Gestalt". Man muss also mit dem Begriff der ,,Erfahrung" sehr vorsichtig sein. Mit dem bisher Vorgebrachten sollten bestimmte GestMtgesetze klar gemacht werden. Hier in Schweden hat der weltbekannte Anatom Henschen fiber die gesamte Sehbahn viel gearbeitet. Die Erfahrungen an Gehirnverletzten haben die Befunde Henschen's oft best~tigt, aber die Anatomie allein kl~rt uns noch nicht die Frage nach der Funktion. Ich kann ja den anatomischen Befund erst wirklich verstehen, wenn ich die Funktion erforscht und begriffen habe. Was ich damit meine, kann ich hier nicht ausffihrlich begriinden, will es abet an einem einfachen Beispiel veranschanlichen. Fdinger, der beriihmte Forscher auf dem Gebiete der vergleichenden Anatomie des Zentraluervensystems erz~flte mir einmal, dass er im Nervensystem eines Fisches, den er lebend hie gesehen hatte, ungeheuer stark ausgebildete, mit der T~tigkeit tier Flossen zussmmenh~ngendeKerne gefunden habe. Er konnte sich jedoch die ungew~hnliche Gri6sse der Kerne gar nicht erkl~en. Das ~nderte sich aber in dem Augenblick, als Edinger ein Exemplar dieser Fischart auf der zoologischen Station in Neapel in lebendem Zustande beobachten konnte. Zu Edinger's Erstaunen ging dieses Tier auf flachen WassersteUen Acta Psychologica III

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mit seinev Flossen spazievm, was ja andere Fischarten bekanntlich nicht zu tun pflegen. Im selben Augenblick wurde £1dinger auch die ~usserordentliche Gr'6sse der Kerne verstiindlich. Sie sehen: der anatomische Befund (Grbsse der Keme) musste so lange unklar bleiben, als das Verhalten des Tieres,die Funktion, nicht beobachtet war.

IIl Die Hemianopsie der ,,vision nulle" hat uns eine charakteristische Umformtmg des nervSsen optischen Systems gelehrt. Sie hat uns gezeigt, wie ein geschiidigter Apparat die StSrung in einero gewissen Sinne unwirksam werden lassen kann. Diese interessante ,,Restitution" bedeutet aber nicht ,,so werden wie frtiher". Eine solche Restitution (WiederhersteUung des Frtiheren) diirfte es tiberhaupt nicht geben; eine derartige Vorstellung beruht auf f~dschen allgemeinen Voranssetzungen fiber lebendiges Geschehen. Die ,,Restitution", die wir sahen, bedeutet vielmehr, dass der R~st, dass der ungesch~digt verbliebene nerv~se Apparat als Ganzes wie ein kleiner gewcrdenes gesundes Organ zu funktionieren strcbt. Aut weitere interes.~nte Einzelheiten des Hemianopsie-Prc:blems kSnnen wir hier nicht mehr eingehen. Was wir bei der Hemianopsie an einem mehr um~hriebenen Teile des Organismus, am optischen System, kennen lernten, l~isst sich, gewissermassen in vergr6ssertem Masstabe, als Umformung, oder besse r gesagt, ads Wesensver'dnderung des ganzen Menschen beobachtea. Schon im ersten Vortrage sprach ich yon den ,klagenden" und den ,,nicht ldagenden" Hirngeschiidigten, und die ,,nicht ,kla~genden'' brachten wir bereits in Parallelle mit den Verh~Itnissen, wie sie bei der Hemianopsie der ,,vision nulle" vorliegen. Bei der Hemianopsie eine Umformung im [Jeinen, hier eine Wesensver~nderung des ganzen Menschen in bestimmter Richtung. Bevor wir nun diejenigen Tatsachen ins Auge fassen, die ein Ausdruck der Wesensver~derung des ganzen Menschen sind, wollen wir als Uebergang yon der Hemianopsie zum ,,ganzen Menschen" ein Problem behandeln, das gleich~Lm in der Mitte liegt, d.h. ein Problem, bei dem die Urnformung bereits tiefere, zentralere Eigenschaf~en des Menschen betrifft. Es ist das das Pro-

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blem der sog. S e e I e n b I i n d h e i t 1) oder der optischen Agnosie. $o interessant es w~e, das Problem der Seelenblindheit historisch zu entwickeln und etwa aui die beriihmt gewordenen Tierversuche eines Munk, eines Rothmann u.a. einzugehen, so sehe ich reich vielmehr gen~tigt, hier den systematischen Gesichtspunkt in den Vordergrund zu riicken. Was ist eine Seelenbhndheit? Wann dtirfen wir iiberhaupt davon sprechen? Gew6hnlich beantwortet man diese Frage so: ,,es gibt kranke Menschen, die ,,sehen" und doch nicht ,,erkennen .... . Diese Antwort ist durchaus nicht falsch, nur muss man wissen, was dabei ,,sehen" und was ,erkennen" bedeutet. Ich will zuniichst eine bestimmte unzutreffende theoretische Annahme ins Auge fas~n schon deshalb, weft sie in den weitesten medizinischen und psychologisch-philosophischen Kreisen noch heute verbreitet ist. Jene theoretische Annahme besagt, dass bei der Seelenblindheit bestimmte ,einfache" Sehfunktionen erhalten sind, und dass sogenannte ,h6here" Prozesse ~ das eigentliche ,,Erkennen" ~ gest6rt stud. Diese Trennung in ,,einfache" und ,,hiShere", in ,,primitive" und ,,kompliziertere" Funktionen braucht zwar auch durchaus nicht falsch zu sein, aber in der Form, in der diese Trennung gew~hnlich gemeint ist, ist sie falsch. So hat der Neurologe Lissauer, der 1890 als erster seinen beriihmten und sorgfiiltig unterstlchten Fall von Seelenblindheit vertiffentlichte, die Forderung aufgestellt, man miisse sich immer erst vergewissern, ob die Sehschiirfe eines Kranken intakt geblieben sei, ehe man die Diagnose ,Seelenbhndheit" stellen k6nne. ,,Intakte Sehschiirfe" und dabei doch kein ,,optisches Erkennen", das meinte mar,t, wenn man sagte: ,,es t6bt Menschen, die sehen und doch nicht erkennen". Ist aber, meinte Lissauer, die Sehsch~fe bei einem Kranke:~ herabgesetzt, dann k6nnte ja das gest6rte Erkennen eben dutch mangelhafte Sehschiirfe und nicht durch ein besonderes Krankheitsbild der Seelenblindheit verursacht sein. In diesem Sinne versuchte auch der Neurologe Siemerling durch Vo'rsetzen stiirkerer Konkavgliiser(die dazu noch gelblich gef~bt waxen) seine eigene Sehsch~xfe zu beeintriichtigen in der Annalune, auf diese Weise ein ~ihnliches Sehen wie bei der Seelenblindheit bei sich hervorzurufen. Diese ganze Vorstellung, dass bei der Seelenblindheit die Sehsch~xfe, mit gew6hnlichen klinischen Methoden gepriift, intakt bleibe, ist v{~lhg unhaltbar. 1) Vgl. zum tolg. besonders: Gelb-Goldstein, Bd. I, I.e., S. I f; 157 l~,

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In dieser Form lassen sich ,,sehen" (Sehsch~de) und ,erkennen" (h0here Prozesse) nicht trennen. Die gaImen Voraussetzungen fiir diese Aunahme s~Jad unhaltbar, und ich hatte meine Freude, als ich den seelenbl~aden Kranken, iiber den ich Ihnen berichten will, zur Bestimmung seiner Sehsch~rfe in 3 verschiedene Augenkliniken schickte: aui der einen erld~irte man ~ine Sehsch~irfe fiir normal, auf der zweiten for herabgesetzt, auf der dritten flit 1/~0, d.h. man erkl~irte jetzt den Kranken fiir praktisch blind. Abet d ~ war er doch gar nicht, denn er gJ~g ohne Begleitung im Freien, auch in verkehrsreichen Gegenden he.'~m! Freilich derselbe Kranke konnte nicht einen einzi~en Buchstaben optisch erkennen weder aus der Feme noch aus der N~he; also doch schlechte Sehsch~irfe ? Um das Ganze zu verstehen, muss man einen anderen Ausgangspunkt wfihlen als die Trennung yon ,Sehsch~rfe" ur, d ,,Erkennen". Lassen wir fi.~,r einen Augenblick die Patholo@ie beiseite; sehen wir uns im Leben des Gesunden um ! Kommt es nicht beim Gesunden auch vor, dass er zuweilen sieht und doch nicht erkennt ? Aber ganz gewiss! Da stehe ich vor dem Schreibtische und suche verzweiielt nach meiner Brille, die in Wirklichkeit direkt vor mir liegt, und the ich trotzdem nicht zu ,,entdecken" vermag. Dann geschieht ein Umschlag: die Brille wird pl0tzl~ch sichtbar, und ich staune, dass ich sie nicht liingst entdeckt hatte. Wer hat nicht solche und ~ihnliche Ffille kennen gelemt~ ]st in solchen F ~ e n die Sehsch~irfe zeitweise herabgesetzt gewasen? Eine solche Annahme wfire absurd! Aber ebenso seltsam w~re die Behauptung, dass die Sehsch~rie intakt war, denn wie soil ich das in Bezug auf die Brille nachpriilen ? Sie sehen, man kv~an befelts in solchen F~iUen des gew0hnlichen Lebens ,,Sehschfirie" und ,,Erkennen" nicht in jener aUgemein angenommenen Form trenhen. Der Sachverhalt ist vielmehr der: wfihrend ich die Brille beim Suchen nicht sah, war sie offenbar so zu einer geschlossenen Einheit mit anderen Gegenst/inden verwachsen und ging so in dieser Einheit aui, class ich sie nicht ,,lossehen" konnte. Im Augenblick aber, in dem die BriUe sichtbar wird, erlebt der aufmerksame Beobachter eine charakteristische Urnorganisation auf dem Schreibtische. Was eben noch zu einer unl0sbaren Einheit verscbrnolzen war, erscheint jetzt getrennt, abgesetzt von einander und anders gegliedert ~ s zuvor. Es ist schwer, eine solche Umorganisation zu beschreiben. Aber ich glaube, Sie wissen: was ich

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meine. Nehmen wit ein anderes Beispiel! Ich erwache plStzlich aus tiefem Schlale und suche mich optiscb zu vrientieren. Were ist es nicht schon vorgekommen, dass er im ersten Augenblick nicht wusste, wie sich die Gegenst~inde seines Zimmers im einzelnen voneinander absetzen? Wo ist die Grenze des Tiirpfostens? Und wo die Kontur des Schrankes ? Man ist verwirrt, weil das optische Feld desorganisiert ist. P15tzlich erfolgt ein Umschlag, an Stelle des Wirrnisses ,,sieht" man wieder deutliche Gliederung, und Hand in Hand damit geht ein tdares Erkennen der einzelnen Gegenst~inde. Um schliesslich noch ein weiteres Beispiel anzuliihren: wer kennt nicht Vexierbilder (Scherzbilder), die gerade so gehalten sind, dass man auf sie hinguckt und doch nicht das ,,erkennt", worauf es ankommt ? Man sucht vergeblich z.B. nach dem ,,J~iger" oder nach der ,,Katze"; die gesuchten Gestalten tauchen in der Anordung der Formen und Striche unter. Das Gesuchte bleibt so lange versteckt, bis es plStzlich, wie mit einem Ruck ,,herausspringt". Das Erlebnis des ,,Aha" pflegt die LSsung zu begleiten. Was wit eben beim Suchen der Brfile, beim Aufwachen aus tiefem Schlaie, beim LSsen des Vexierbildes kennen lernten, ist zwar im Leben des Gesunden nur gelegentliche Ausnahme, ist aber theoretisch trotzdem von grSsster Bedeutung. Wie w ~ e uns zumute, wenn unsere Umwelt plStzlich dauei~ud den Charakter eines Vexierbfldes annehmen wfirde, wenn wir pl6tzlich einzelne Gegenst~izlde nicht mehr ,,heraussehen", nicht mehr ,,lossehen" kSnnten ? Erst dutch Kran~'~eit kann der Mensch so ver~indert werden, dass das, was beim Gesunden gelegentlich vorkommt, jetzt zu dauemdem Zl~stande wird. Und so miissen wir das Krankheitsbild der optischen Agnosie oder der Seelenblindheit (wenigstens yon einer wichtigen Seite aus) verstehen. Bevor wit aber zur Pathologie zuriickkehren, woUen wir noch ein Problem behandeln, das fiir das Verst~ndnis der Seelenblindheit wichtig ist. Nebenstehende bedeutungslose Figur (nach Rubin) kann ich auf zweierlei Weise sehen: ich kann das schwarze Feld als ,,Figur" und das weisse als ,,Grund" (Hinte:'grund) auffassen. In rig. 1. diesem FaUe ist die Grenzlinie zwischen weissem und schwarzem Felde formbfldend fiir das schwarze Feld; ich sehe dieses gleichsam als ,,Vorhang" und das weisse Feld als

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,,Loch", Ms ,Nichts". Ich kann aber auch umgekehrt das weisse Feld als Figur erlebe~: dann ist die Grenzlinie formbildend flit das weisse Feld, und dann sehe ich gewissermassen ,,weisseBerggipfel", und das schwarze Feld wird jetzt zurn ,,Nichts", zum ,Loch". Wenn man den ,,schwar~n Vorhang" sieht, verliert man die ,,weissen Berggipfel" aus dem Selffeld; und es verschwindet der ,schwarze Vorhang", wenn man die .weissen Berggipfel" erlebt. Objektiv bleibt die Zeichnung bei beiden Auffassungen unver/indert, dennoch ist das Erlebnis ein sehr verschiedenes. Das bier vorliegende Problem bezeichnet man als ,Figur-Gnmd-Problem". Seine grosse Bedeutung hat zuerst Rubin (Kopenhagen) erkannt. Fiir uns ist dieses Problem insofern yon Wichtigkeit, als es zum Verst/izldnis der Seelenblindheit unentbe.hrlich ist. Denken Sie sich den Fall, @ass ,Figur" und ,,Grund" sich nicht deutlich voneinander absetzten oder dauernd wechselten - - wie kiSnnten wir uns dann noch optisch zurechtiinden ? Kehren wit jetzt zur Pathologie zuriickl Ich berichte Ihnen tiber einen sehr interessanten Fall, den ich 1915 bei tachis~:oskopischen Versuchen entdeckt babe. Als ich diesem Kranken Worte und Buchstaben fiir lh0 Sekunde darlmt, erki/irte er mir, das kiSnne man nicht lesen, das w/ire ,,alles wie Stenographie". (Beachten Sie bier, dass ein Gestmder, auch schon ein 7--8 j~hriges Kind, tacbistoskopisch jedes Wort lesen kann !) Als ich dem Kranken Bflder yon einfachen Gegenstiinden tachistoskopisch darbot, erkl~rte er, es w/ire ,alles so durcheinander", es k/Snnten ,,geographische Karten" sein. Das Verhalten des Kranken wich bei diesem Versuch so stark yore normalen Verhalten ab, class man sofort eine ganz merkwiirdige ,Ausfallserscheinung" vermuten musste. In der Tat, der Patient war v/511ig ,,wortblind"; darum laser nicht im tachistoskopischen Versuch. Was heisst nun Wortblindheit oder optische Alexie ? Nun, ganz einfach die Tatsache, dass Kranke nicht mehr lesen k/Snnen. Von unserem Patienten kann man gewiss sagen, dass er stockwortblind war, denn er konnte optisch auch nicht den einfachsten Buchstaben erkennen. Und doch vermochte dieser Kranke auf eine merkwiirdige Art zu ,lesen", wenn man ihm geniigend Zeit liess! Man konnte dabei bemerken, dass der Patient eigenttimliche Kopfbewegungen machte: er fuhr die m bspw. schwarzen ~ Linien mit dem Kopie nach, er ,,schrieb" gewissermassen die Buchstaben mit dem Kopfe ab; und auf diese nachschreibende oder nachfahrende

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Art konnte er finden, welche Buchstaben oder Worte vor ihm standen. Also ein motorisches Le~en! Sobald man aber den Kranken verhinderte, die nachfahrenden Bewegungen auszufiihren (durch Festhalten des Kopfes oder durch ganz kurze Darbietungszeit, w~trend der ein Nachfahren unm6glich war), hSrte jedes Lesen auf. Auf die Frage, wie dieses motorische Nachfahren im Einzelnen vor sich ging, kann ich hier nicht n~iher eingehen. Wir haben ausfiihrlich dartiber verSffentlicht und dabei auch einige Missverst~indnisse widerlegt, die in der Literatur aufgetaucht waren. An sich ist die Frage nach der Motorik sehr interessant: der Patient muss doch ,sehen", um nachfahren zu k6nnen ! Ein Blinder oder ein sehr Schwachsichtiger kann das nicht[ Und doch ist ein optisches Lesen bei unserem Patienten aufgehoben! Bei der Kiirze der zur Verfiigung stehenden Zeit miissen wir uns hier mit der Feststellung begnfigen, dass das Material, welches der Patient bei semem nachfahrenden, schreibenden Lesen verwendet, motorische Schreibbilder sind, nicht aber optische Gebilde. Ich will Ihnen diese Behauptung durch wenige Versuche best~itigen. Gelegentlich einer Untersuchung schrieb ich einmM zuf~illig zwei verschiedene K's an die Tafel: (l~ 3.~). Der Patient machte 1

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nachschreibende Kopfbewegungen und erkl~irte, das zweite w~ire ein , K " , was das erste w~ire, w~dsste er nicht, jedenfaUs kein Buchstabe. Diese Aussage erkl~irt sich daraus, dass der Kranke den Buchstaben K nur so wie mein zweites K (¢7~') zu schreiben pflegte; deshalb liess nut dieses zweite K beim motorischen Nachfahren das gewohnte Schreibbild im Patienten auftauchen. Denn beachten Sie: die beiden verschieden ge~hriebenen K's haben zwar optisch Aehnlichkeit, in Bezug auf das motorische Schreibbild aber weit weniger. So kam es, dass das erste K dem Kranken nichts zu bedeuten vermochte. Ein weiterer Versuch: Ich schrieb dem Patienten ein Wort an die Tafel, und rwar seinen eigenen Namen; dieses Wort durchstrich ich mlt einigen wenigen senkrechten, diinnen Kreidestrichen, j~doch so, dass das Wort yon jedem Gesunden sofort miihelos erkannt wurde. Fiir den Kranken war die Aufgabe, seinen Namen zu lesen, jetzt unlSsbar. Er ring wieder an, nachzufahren, entgleiste aber dabei immer wieder yon den Buchstaben auf die Durchstreichungen, so dass kein geliiufiges motorisches Schreibbild zustande kommen konnte. Wold aber wuxde dem Patienten ,sein motorisch-nach-

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fahrendes Lesen wieder m0glich, sobald man tfir die Buchstaben und Durchstreichungen verschiedene Farben, z.B. Rot und Blau w~hlte. Sagte man dem Kranken: ,,Lesen Sie nur das Rote", dann gelang das. Diese letzten Versuche ffihren uns wesentlich weiter. Warum entgleist der Patient beim Nachfahren im Versuch mit den Durcl~streichungen ? Offenbar deshalb, weft sich fiir ihn - - i m Gegensatz zum Gesunden ~ die Linien der Durchstreichungen yon den Linien der Buchstabenformen optisch nicht trennen. Der Kranke steht bier wie vor einem Vexierbilde, in dem sein eigener Name versteckt ist, den er bei der Vielialt der Striche und Livien nicht ,en,tdecken" k~mn. Wir Gesunde k6nnten im Vexierbilde das versteckte Bild auch nicht nachiahren, solange wir dieses nicht entdeckt haben; auch ~w~rwiirden dann entgleisen. Liegt nicht jetzt die Annahme nahe, dass alle Buchstaben und Worte, aber auch Figuren und Zeichnungen, fiir den Kranken lauter optisch unaufgelSste Vexierbflder sind ? Wir werden sehen, d,lss es tats~chlich so ist. Der Kranke ,,sieht", abet die charakteristische Struktur der Gebilde ist ihm verloren gegangen. Zwei Probleme sind es also, die tins bei diesem Kranken zun~ichst besch~iftigen; ein optisches: wie ist die Sehwelt bei diesere Kranken beschaifen ?; ein motorisches: wie weit ntitzt die Motorik dem Kranken, und was ist ihr Sinn ? Mit die.sen beiden F ~ g e n werden wir uns im tolgenden wesentlich zu besch~ifligen haben. IV Wir hatten ein Krankheitsbild zu besprechen tegonnen, das in der Pathologie "e.ls optische Agnosie oder ,,Seelenblindheit" bezeichnet wird. V(ir sprachen dabei auch vom Verhalten des no~malen Menschen und iassten eine Frage ins Auge, die man in d~~r Wahrnehmungspsychologie ~1~ die Frage von ,,Figur" mid ,,Grund" bezeichnet. Ganz allgemein kann man sagen, dass m ~ rdemals ~gend eine Figur oder eine Sache sehen kann, die sich nicht v o n d e r Umgebung so absetzt, so abhebt, dass die Kontur tormbfldend tfir die Sache selbst wird. Es handelt sich hier nicht urn eine blosse Nachbarschaft, urn eine blosses Nebeneinander zweier Felder. Wenn es sich nut um ein Nebeneinander handeln wiirde, dann k6nnten Sic niemals die Ueberraschung erleben, die

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$ie tiberkommt, wenn Sie an Stelle der weissen ,,Berggipfer' 1) pl6tzlich den schwarzen ,,Vorhang" entdecken, oder umgekehrt. Es gibt niemals eine ,,Figur" ohne ,,Grund" und niemals einen ,,Grund" ohne irgend eine ,,Figur". Es sei bier besonders vor einem Begriffe gewarnt, mit dem man oft gerade in der medizinischen Psycholo~e sebr viel Unklarheit geschaffen hat: dem der ,,Aufmerksamkeit". So kOnnte einer z.B. sagen, der Unterschied zwischen den ,,weissen Berggipfeln" und dem schwaxzen ,,Vorhang" bestehe d~rin, dass man einmal die ,,Aufmerksamkeit" dem weissen und das andere Mal dem schwarzen Felde zuwende. Bei die~m Aufmerksamkeitsbegriff glaubt man, dass die Aufmerksamkeit eine Art ,,Scheinwerfer" sei, ur,d dass dieses angebliche ,,Herausheben rrdt der Aufmerksamkeit" so verschiedene optische Gebilde und Erlebnisse hervorbringen kSnne wie die ,,weis~n Berge" und den ,,Vorhang". Nein - - dass es sich dabei nicht um einen solchen Aufmerksamkeitsprozess handelt, dafiir spricht gerade jene merkwiirdige Uberza~hung. Ich kazm ja meine Aufmerksamkeit etwa hier auf diese Stelle des Grundes projizieren, und der Hintergrund bleibt dabei doch Grand. Es ist experimenteU nachgewiesen, dass man mit einem solchen Begriff bier nichts au~richten kann (Rubin). Bevor ich meine Aufm~rksamkeit auf etwas lenke, muss doch ,,etwas da sein", lch kann meine Aufmerksamkeit auf eine Figur dchten, sie bleibt dabei Figur, und ich kann ebenso die Aufmerksamkeit auf den Hintergn=nd lenken, der bleibt dabei Hintergrund. Was dagegen hier vorliegt, ist ein Umschlag der Funktion der Grenzlinie zwischen dem weissen und dem yzhwarzen Felde. Es sei bier gleich eine sinnesphysiologische Tatsache erw/ihnt, damit Sie die Folgerungen sehen, zu denen wir kommen ~). Ich nehme z.B. rot aussehendesLicht, und mische mit H fife einer be~nderen Vorrichtung einer Stelle des schwarzen Feldes rotes ].icht zu. Das mache ich so lange, bis ~ch diese Stelle gerade eben rStlich werden sehe. tdan nennt das die Bestimmung einer ,,spezifischen FarbenschweUe". Nun kann ich diese spezifische Farben~hwelle hier auf zweierlei Weisen iinden. Ich gebe dem Beobachter einmal die Instruktion, dieses schwarze Feld als ,,Figur", und das andere Mal, dasselbe Feld als ,,Hintergrmld" zu sehen, und in beiden F/fllen bestimme ich meine spezifische Farbenschwelle. ])as Re~) Vgl. oben S. 213. ~) Vgl. hierzu: A. Gelb u. R. Granit, Z. Psychol. 93, S. 83 £

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sultat ist, dass die Farbenschwetle in beiden F~i/len deutlich und einwandfrei verschieden a~tsf~illttrotz des objektiv unver'gnderten Feldes. Die FarbenschweUe zeigt sich feiner, wenn das schwarze Feld als Hintergrund erlebt wird. Wird diese.s abet als Figur gesehen, dann wird die Farbenschwelle gr6ber. Die Figur bildet einen Widerstand gegen das Auitreten des roten Fleckes; daher der Unterschied zwischen einer Farbenschwelle aui der ,,Figur" und einer Farbenschwelle auf dem ,,Grund" bei physikalisch unvergnderten Bedingungen. Bei Farbenschwachen,beiMenschen, die nicht ganz farbenttichtig sind, ist der Unterschied zwischen den beiden Farbenschwellen noch viel extremer als beim gesund~i:nMenschen. ,,Figur" und ,Grund" gibt es nun nicht nut im Optischen. Auch wenn ich z.B. einen bestimmten Klang oder ein Ger~iusch h6re - - sei es in einem stillen Zimmer oder im Strassenl/irm - m u ~ sich dieses Ger/iusch in charakteristischer Weise ,absetzen" von seinem nichtsbesagenden akustischen Hintergrund. In pathologischen F ~ e n , bei Hirnsch~idigung, kann das FigmGrundsehen in Unordnung geraten. Die Folge ist dann, dass solche Kranken nicht mehr in der Lage shad, geordnete, festgefiigte Gebilde zu seb~n, sondern dass sie mehr oder weniger chaotisch sehen, wie ich es das vorige Mal an jenem Kranken mit optischer Agnosie zu erldgren versuchte. Was wiirde aus mir wetden, wenn mich jemand verzauberte, und ich beim Eintritt in diesen HiSrsaal pl/Stzlieh alle Konturen nicht mehr als formbildend fiir ]hre KOrper sehen wiirde, sondem als formbildend fiir den Zwischenraum ? Ich wiirde merkwiirdige Luftgebilde sehen, abet nicht ,,bienschen". Wenn aber nicht eine solche Verzauberung stattfindet, sondem wenn - - infolge eines pathologischen Prozesses - - kein geordneter Figur-Grundprozess zustande kommt, dann haben Sie eine bestimmte Form optischer Agnosie 1) vor sich. Ein Beispiel: ich zeichne schematisch einen Vogel, einen Hahn; das ist der Kopf, hier der Riicken, hier die Beine, hier tier Schwartz. Als ich jenem Kranken, von dem ich sprach, eine solch~e Zeichnung vorlegte, schwarz auf weissem Grunde, da sagte mir der Kranke0 das w/ire ,;wahrscheinlich eine Zunge". Ich verstand ilm nicht; es klang ,ideenfiiichtig'. Man muss jedoch nicht zu schnell erkl~ren wollen. Die n/ihere Analyse kl/irte die merkwiirdige Antwort auf: der Kranke hatte den ,Grund" oberhalb des Riickens des Vogels als ,Figur" aufgefasst, und dieser ~) Vgl. zum folg. wieder: Gelb-Goldstein~ I.o. Bd. I,S. I f.; 157f.

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hat tats~clflich die Form einer Zunge. Dieses Nicht-fest-Sein von Figur und Grund, diese Labilitiit, dieses nicht richtige Sichabsetzen einer ph~inomenalen Einheit von ihrer Umgebung, das ist ein wichtiges Symptom bei optischer Agnosie. Indessen, die Wortblindheit unseres Kranken zeigt, dass bei ihm die St6rung besonders tiefgreifend ist. Bei diesem Kranken kommen optisch ilberhaupt keine festgegliederten Gebilde zustande. Zwei Problerne fielen uns dabei auf: ein optisches und ein motorisches. Sie erinnern sich ja, dass dieser Kranke sich motorisch zu helfen wusste, indem er z.B. Buchstaben mit dem Kopfe nachfuhr und so ,schreibend" las. Ich beginne mit dem optischen Problem. Was sieht denn der Patient tats~chlich ? Wie sollen wir uns die Art seines Sehens veranschaulichen, wie uns eine Vorstellung yon seiner Sehwelt bilden ? Es liisst sich zuniichst negativ sagen: der Kranke sieht nicht j ene festgefiigten und durchgestalteten Gebilde, die uns Gesunden entgegentreten, wenn wir uns in unserer gew0hnlichen Umwelt umsehen. Positiv k6nnte man sagen: an Stelle der festgegliederten Gebilde der Gesunden sieht der Kranke mehr fleckartige Gebilde von wirrnisartigem, chaotischem Charakter. Vielleicht wird manchem von Ihnen die Sehweise des Kranken deutlic~her, wenn i ch eine Parallele aus dem akustischen Gebiete ziehe. Wenn ein extrem Unmusikalischer ins Konzert geht, was mag er da h6ren ? Gewiss nicht festgefiigte Melodien - - diese hOrt der Musikalische - - , sondem Klangwirrnisse, ein chaotisches Durcheinander von Kl~lgen verschiedener Klangfarbe. Dass so extreme Unmusikalit~it wirklich vorkommt, wissen wir; aber wir rechnen sie nicht zu pathologischen F~illen, weft Musik, so lebenswichtig sie manchem sein mag, doch ,Luxus" ist. Kommt in der Sehwelt des Menschen - bildhaft gesprochen w eine solche ,,Unmus~kalit~it" zustande, dann ist dieser Mensch darum so besonders schwer pathol~,~sch verimdert, weft eben unsere menschliche Umwelt in erster Linie eine Sehwelt ist. Die Parallele aus der Akustik mag Ihnen ~luch dies noch ldar machen: der Musikalische kann sich schwer eine Vorstellung yon dem Klangwirrn~ des Unmusikalischen bilden, und wit Gesunden k6nnen entsprechend scbwer die wirrnisartige Sel~welt unseres Kranken r,acherieben. Ich will noch bemelken, d a ~ ein musi~alischer Mensch melodietaub werden karat, er kann unter U m s t ~ d e n die F~figkeit e~,lbfissen, Melodien zu hSren (wie es der Wiener Arzt Alt beschrieben hat). ~}lauben Sie

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nicht, wie das so oft zu lesen ist, dass die betreffenden Menschen statt Melodien gewissermassen eine ,,Summe" von T0nen hSren! Eine ,,Summe" kann man iiberhaupt nicht h0ren! Der Gegensatz besteht vielmehr darin: Wirrnis auf der einen Seite, Melodie auf der aaderen. Gepriift mit einzelnen T0nen, hOlt der Melodietaube die einzelnen TOne und Kl~nge gut. Ob Sie ibm ein Cis oder Fis oder F anschlagen, er h0rt es ,richtig", er kann es auch nachsingen. Aber sobald Sie ihm Melodien spielen, hOrt er 7.'onwirrnis und keine Melodie. Am klarsten kam der wirrnisartige Charakter der Sehwelt nnseres Kranken heraus, als ich mit ihm Versuche mit ,,negativen Nachbildern" anstellte. Sie wissen, was ein negatives Nachbild ist. Wenn man ein rotes Q11adrat oder eine rote Scheibe liingere Zeit fixiert und dann die Vorlage entfernt, so sieht man ein griin aussehendes Quadrat oder eine griine Scheibe. ich fragte den Kranken, ob er Quadrat und Scheibe im negativen Nachbilde unterscheiden k0nnte. Er war dazu nicht in der Lage, solange die Scheibe anniihernd die gleiche Gr'osse hatte wie das Quadrat. Wenn man aber den Kranken ein ganz spitzes Dreieck fixieren und ein negatives Nachbild entwickeln liess, damn konnte er sagen: ,,es scheint so was Litngliches zu sein, oben vielleicht schmal, unten breiter". Aber das spezifisch Dreieckige am Dreieck hat er genau so wenig gesehen wie das Kreisartige am Kreis. Bei Versuchen mit negativen Nachbildern vet~mochte ja der Kranke nicht Koptbewegungen zu Hilfe zu nehmen, um die Formbeschatienheit motorisch testzustellen. Bei jedem Versuch, eine nachtahrende K~ptbeweglmg zu rnachen, ve~chwand das Nachbild; dieses sieht man ja nur bei fixiertem Blicke. Hier war unser Patient eben auf seine Optik allein angewiesen, und darum versagte er beim Erkennen. Aus dem gleichen Grunde versagte der Kranke im tachisto~kopischen Versuche: die Darbietungszeit ist hier zu kurz, um Buchstaben oder Figuren mot.ofisch nachtahrbar werden zu lassen. Wenden wir uns iietzt dem motorischen Problem zu! Niemand hat den Kranken gelehrt, ,schreibend" zu lesen. Das ist bei ihm yon selbst entstanden. Die ,,Giite der Natur" ist ihm entgegengekommen und hat eine solche Umtormung des Menschen - - fiir den Betreffenden lmbew~sst ~ vollbracht. Selbstverst~ndlich musste der Ertolg immer ausbleiben, wenn ilgend ein zu kompliziertes Gebilde dargeboten wurde. Der Kranke h~itte jetzt zu

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viel nachfahren, er h~itte immer wieder absetzen und neu beginhen mfissen; das h~tte ihn nat~[irlich verwirrt. Der motorische Weg musste selbstverst~indlich auch tiberall dort versagen, woes sich um perspektivische Zeichnungen handelte. Denn das motorische Nachfahren kann nur zu bekannten motorischen Bildern innerhalb der beiden ersten Dimensionen fiihren; efile Perspektive kann das motorische Nachfahren niemals vermitteln. Im grossen und ganzen jedoch konnte der Kranke auf motorischem Wege sehr vieles erfassen, was ihm sonst ganz verschlossen geblieben w~e. Dieser Kranke ging nun ohne Begleitung dutch die Strassen Frankfurts, er fuhr auch aUein mit der Strassenbahn. Wie machte er das eigentlich ? Jeder, der den Kranken bei uns gesehen, jeder, der die Schriften fiber ihn gelesen hat, kam irnmer wieder mit dieset Frage zu uns: ,,Wie ist es m0glich, dass ein Mensch ganz al!ein spazieren geht, der nicht einmal die einfachste Form optisch erkennen kann ?" Diese Frage geht von einer falschen Voraussetzung aus. Wenn wit Gesunden spazieren gehen, ktimmem wir uns dann etwa um die speziellen Formen der Dinge ? Wenn wir in Gedanken versunken sind, genfigen ffir unsere pmktische Or,.'entierung -,dlgemeine, vage, fleckartige Gebilde. Und wenn man den Patienten fragt, wie er sich im Freien orientiert, gibt er sehr klare Auskunft. Er sagt: ,,Auf dem Biirgersteig, da ist alles diinn, das sind Menschen; und in der Mitte der Strasse, da ist alies sehr laut, dick und hoch, und das k6nnen Trambalmen, Autos sein, alles M6gliche". Und wie unterscheidet der Patient die Trambahn vom Auto? Nun - - das eine hupt, und die Trambahn macht ein anderes Ger~iusch. Wenn er zur Arbeitsst~itte crier zum Lazarett woUte, so hat er immer die richtige Strassenbab~nlinie genommen. Er ging an eineu ganz bestimmten Platz und wusste, hier ist die Haltestelle. Kamen nun zwei bestimmte weisse Lichter (die einzelnen Linien sind in Frankfurt durch bestimmte Kombinationen farbiger Lampen unterschieden), wusste er, das ist ,Nr. 3", und mit dieser ,.3" wusste er sich an Hand bestimmter ~iusserer Merkmale welter zurechtzufinden. Natiirlich gentigte dies alles nur zur groben praktischen Orientierung im gew6hnlichen Leben, nicht fiir feinere Raumorientierung. Der Kranke hatte sogar eine ganz betr~chtliche St0rung in der Wahrnehmung des Raumes, aber eine St6rung, die die praktische Orientierung nicht wesentlich bee.intr~ichtigte. Wie der Kranke sich auf der Strasse zu-

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rec~tfinden konnte, so such in geschlossenen R~umen. Es war zwar immer leicht, diesen Mann in Verwimmg zu bringen; man brauchte ilur eine etwas ausse~gew6hnliche Situation zu schaffen, u n d e r versagte. Als ich einmal l~dm Spaziergang meinen Hut auf den Rasen gelegt hatte und den Kranken fragte: ,,Was ist denn das dort ?", sagte er: ,,Nun, was mag das schon sein, ein Stein oder ein Ameisenhaufen ?" Ein Hut wird selbstverst~indlich nicht sift dem Rasen vermutet! Aber wenn dieser gleiche Hut in der Garderobe h~ingt, wird wohl der Kranke s ~ e n : ,,Was mag das schori sein ? Was so hoch liegt, wahrschei~nlich ein Hut". Man muss dabei beachten, wie dieser Kranke sprach ! Er sagte nie: ,,Das ist ein Ameisenhaufen", ,das ist ein Hut", sondern: ,,Das wird wohl ein Hut sein", , k a n n ein Hut sein", usw. Man muss gerade auf solche Spracheigentiimlichkeiten achten. Wie charakteristisch sind sie in diesem Falle such fiir die Sehwelt des Patienten! Ich mSchte Hmen jetzt ein Scherzbild 1) zeigen: eine Karrikatur yon Mussolini, die eine charakteristische Haltung dieses Staatsmannes wiedergibt. Dieses Bfld be~eht aus lauter Buchstaben, und zwar aus denen, die den Vcr- und Nachnamen Mussolinis ausmachen. Ich frageden Patienten: ,,Was ist wold das hier ?" Antwort: ,,Also, oben hier ist ein e, hies" ist ein Oval, ein B, ein A (alles motorisch nachfahrend), hier ein S, e, O, A, B, sonst g~bts nichts". Ich frage welter: ,,Was mag das ganze nun bedeuten?" Antwort: ,Das sind Buchstaben, und Buchstaben so durcheinander, das k6nnte ein Buchstabenr~tsel sein". Der Patient ,,weiss", es gibt Fig. 2. so e,~waswie Buchstabenriitsel, aber er kann das Charakteristische am t=;ildenicht sehen. Die Buchstaben stehen fiir ihn ohne Zu~mmnenh~g. ,,Solche R~itsel fallen mir schwer, weil ich die Zusammensetzung nicht weiss", erkl~-te der Kranke selbst. Es ist natiirlich, class der Kranke immer wieder versucht, mit den Kopfbewegungen die einzelnen Formen herauszubekommen; abet er stiickt Buchstaben zusammen ohne Zus~-nrnenhang, und es ist ihm ganz unm~glich, die charakteristi~he Haltung des Mussolini zu erkennen. Alles Charakteristisch-Physi(,gnomische ist aus der Sehwelt dieses Kranken verschwunden, darum hat der Patient s) Aus W. Hochheimer, Psycho]. Forsch~ 16, S. 44.

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auch keinen Sinn flit menschliche Gesichtsausdriicke. Er unterscheidet die Menschen wesentlich nach ihren Stimmen und andeten ~iusseren Merkmalen, z.B. ~ lachen Sie nicht! --- nach der Glatze ! Der Kranke kann, gerade weft er alas Ausdrucksmiissige, das Physiognomische nicht hat, in unserem Beispiel iiberhaupt nicht etwa zu der Angabe kommen: ,,Das ist ein Kopf", ,,eine M e n s c h e n d a r s t e U u n g " , usw., sondern er kommt auf seine Weise bestenfalls zu bestimmten Buchstaben. Beachten Sie das besonders, well tier motorische Umweg, den dieser Mensch geht, ein anscheinend sehr kluger ist. Dieses Motorische ist in der Tat schlau und doch so wenig brauchbar, ja geradezu blind fiir das Wesentliche des Bildes, fiir das unmittelbar ~hysiognomi,~:chedes Kopfes. Wk" Gesunden aber sehen hier primiir das Physiognomische und nicht die Buchstaben. Von hier aus werden wir einen Zugang linden zu den merkwiirdigen Sprachleistungen unseres Kranken; doch zuvor muss ich noch andere FiiUe von Seelenblindheit besprechen, um Ihnen zu zeigen, class die Symptome sehr verschieden sein kiSnnen. Dutch diese Verschiedenheit daft man sich abet nicht irre leiten lassen und wom6glich gleich neue Krankd',eitsbilder zu entdecken vermeinen. V Vielleicht werden Sie erstaunt sein, dass ich so viel Zeit einem einzigen pathologi.~,chen Falle widme und nicht zugleich viele Kranke bespreche. Es ist ja vielfach die Meinung vertreten wo,:den, dass die Sicherheit eines Ergebnisses vonder Anzahl der untersuchten Fiille abhinge. Je mehr Fiille, sagte man, um so sicherer das Resultat. Das ist bisweilen, z.B. bei Fragen statistischer Natur, richtig. Aber bei der Wesensanalyse einer StSrung muss man im allgemeinen mit diesem Satze vorsichtig sein. Ein Sprichwort sagt: ,, 100 graue Pferde machen noch keinen Schimmel aus". Wenn man ein weisses Pferd sucht, niitzen einem die 100 grauen nichtsl Ich kann bei dieser Gelegenheit nicht umhin, ein Gespr/ich zwischen Eckermann und Goethe wiederzugeben. Eckermann fragte, was Goethe unter einem Gesetz verstehe, worauf Goethe sagte: ,,Den einzelnen Fall, und die Ausnahmen - - das sind die Minionen anderer F~ille". Was meinte Goethe damit ? Eben den einzelnen Fall, an dem eine Theorie herausspringt und

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demonstrierbar wird, w~ihrend Millionen anderer F~lle vorkommen kOnnen, mit denen man theoretisch nichts anfangen kann. Das, was Goethe hier in etwas zugespitzter Form ausgedriickt hat, das hat in verwandtem Sinne Francis Bacon mit der Lehre von den sogenannten ,pr~rogativen Instanzen" gemeint. Mit anderen Worten: 100 untersuchte IC~nke, die bestimmte Symptome in einer unpr'~nanten Form zeigen, sind theoretisch belanglos im Vergleich zu einem pr~gnanten Fall, der, griindlich untersucht und wirklich verstanden, viel mehr Stoif und viel mehr Gesichtspunkte fiir eine fruchtbare Theorie gibt als diese anderen 100 Kranken. Seitdem der Physiologe Munk einem Hunde ~ e Hinterhauptssph~ire opemtiv entfemt und zugesehen hatte, wie ein solcher Hund sich benahm, - - ~ i t jener Zeit ~rde oft behauptet, die optische Agnosie, die Seel~nblindheit l~ . ".thedaratJ, dass die optischen Erinnerungsbilder (Engramme) verloren gegangen seien. Die seelenblinden Menschen ,,s~ihen" zwar, ,erkiinntev." abet deshalb nicht, weft ihnen diese ,Bilder" an friiher Gesehenes ieblten. Das ist eigentlich die Feld- und Wiesen-Theorie, wie sic namentlich in FraI~reich und in Deutschland ausgeb~ldet wurde. Ich glaube abet, dass diese ,klassisch" gewordene Theorie yon der Einbusse des ErinnerungsvermSgens oder d~s VorstellungsvermSgens ganz trod gar unzutreffend ist. Freilich, unser Patient konnte nicht mehr Vorstellungsbilder innerlich erwecken. Wie oft versuchte ich vergeblich, ilm dutch Experiment und Gespr~ich dazu zu bringen! Wit miissen uns abet hiiten, Ursache und Wirktmg miteinander zu verwechseln. Dieser Kranke ist nicht .~..~enblind, weft er, wie jene Theorie meint, Vorstel!un~en (Engramme) eingebiisst hat, sondem er hat keine VorsteUung~:n mehr, weil er seelenblind ist, weft er chaotisch sieht! Wirrn~sartige Gebilde lassen sich innerlich nicht reproduzieren, nicht vorstellen; Gestaltetes abet kann u~LserKranker erst recht weder vorsteUen noch ~hen. Auch wit k6nnen uns ein akustisches Wirmis innerlich nicht ~meder hervorruten. Versuchen $ie einmal, ein Musikstiick, Sic nicht edasst haben, aus der Erinnerung zu reproduzieren ! Wir k~nnen eben nur solche Melodien reproduzieren, die wit als Melodie geh6rt haben. Wenn man abet melodietaub ist, wie sol]~n dann Erinnemngsbilder an Melodien mOglich sein ? Und ebenso verh~t es sich im Optischen ! Warum kSnnen wir uns nicht einen Winkel yon 93 °,von 67° innerlich vorsteUen ? Weil wir in unseren

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inneren Vorstellungen nm' Pr'dgnantes vorsteUen kiSnnen. Es gibt sogar ein Gesetz, das zeigt, dass wir Menschen ira Bereich des Vorstelb~Lngslebens die Gebilde noch pr'dgnanter zu machen versuchen, als sie in Wirklichkeit sind. Wir k6nnen zwar Unpr'ggnantes sehen, hOren, usw., aber uns vorsteRen k6nnen wir immer nur Pr'ggnantes. Wie soil nun unser Kranker, der an SteRe von festgefiigten Gebilden Flecke und Fleckkomplexe sieht, wie soR dieser Kranke zu Vorstelltmgen kommen ? Also noch einmal: man biisst zwar VorsteUungen ein infolge yon Seelenblindheit, aber ein ,Verlust von VorsteRungen" ist nicht Ursache der Seelenblindheit. Auch wiedererkennen kiSnnen wir nur solche Gebilde, die bereits in ihrer inneren Komposition (Gestakung) erkannt, durchschaut wurden. Chaotisches k6nnen wir nicht wiedererkennen. Wenn ich z.B. am Klavier irgendwelche TSne und Akkorde in beliebigem, ungestaltetem Zusammen anschlage und Sie morgen bei Wiederholung des gleichen frage: ,Ist das dasselbe wie gestern ?", so kiSnnen Sie gewiss keine positive Antwort geben. Sie haben zweimal ein ,,Durcheinander" yon Klaviert6nen geh6rt, heute und gestern. Aber Sie kiSnnen das nicht unterscheiden. Bestenfalls kiSnnten Sie vielleicht merke~, dass es heute mit einem hohen Akkord angefangen hat und gestern mit einem tiefen; aber in diesem Falle haben Sie wenigstens bestimmte Teile des Ga/~en gestalthaft aufgefasst. Zwiscl~en einem v6Rigen W~rrnis und einem anderen v611igen Wirrn~s kOnnen wir keine 13nterschiede feststeUen. Unser Kranker bildet dafiir ein klares B,~ispiel. Er ist nur imstande, auf Umwegen, an Hand bestimmter gusserer Anhaltspunkte festzustellen, ob eine Situation schon da war oder nicht. Oder, wenn es sich um Buchstaben oder einfache Figuren handelt, dann f/ihrt er sie motorisch nach und kann so das motorische Bewegungsbild wiedererkennen. Aber dann ist das eben kein optisches Wiedererkennen I Noch einige Worte zum Problem der Sehsch/irfe bei solch,m Kranken! Ich sagte bereits im dritten Vortrage, dass die Sehsch~xfe unseres Patienten auf drei verschiedenen Kliniken v611ig verschieden bewertet wurdc. Wie soil man iiberhaupt an die Sehschgrfe eines solchen Men,hen herankommen ? Etwa mit den Snellen'schen Zeichen ? Dann kann doch unser Kranken nur mit nachfahrenden Kopfbewegungen die Zeichen erkennenI Das ist schon ein grosses Hindernis fiir die Sehsch~irfebestimmung ! Wenn das der untersuchende Ophthalmologe nicht kennt, miissen Acta Psychologica III

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schwere Irrtiimer entsteh6n. Priilen wir unseren Kranken also mit zwei ieinen lh_m~en oder z'cceifeinen Linien, priifen wit mit anderen Worten sein Distinktions- oder ,,Autl6sung~verm6gen!" Wit kilnnen bekanntlich zwei Punkte eben getrennt sehen, wenn sich der eine Punkt attf einem Netzhautzapfen, der andere auf einem anderen Zapfen abbildet und dazwischen ein nicht gereizterZapfen liegt. Nach diesem Prinzip (Gesichtswinkel von 1') sind die "~nischen SehschArfeproben konstruiert. Auch eine solche Prtifung ist bei unserem Kranken nicht m6glich! Wenn ich n/imlich zwei Punkte oder zwei feine Linien als eben getxennt wahmehme, dann sehe ich diese beiden Linien oder Punkte als Gruppen, als duo-inuno. Dieses Gruppensehen, das ein bestimmtes Gestaltsehen ist, ist aber dem Kranken gerade verseklossen. Er geht vielmehr stiiekhaft so vor: ,,Da ist was Schwarzes (ein Punkt), dann Weisses, dann wieder Schwarzes", er sieht aber nicht das ,,duo-in-uno". Bei diesem stiickhaften Vorgehen des Patier~ten ist jedoch das Dist:inktionsverm6gen sehr viel griSber als beim Sehen in ,,Gruppe" ! Also auch hier eine Schwierigkeit fiir die SehschArfebestimmung ! Was bleibt iibrig ? Priifen wir nun einfach mit einem einzelnen Pmxkt auf irgend einem Hintergrund! Das ist die sog. ,,PunktSeb~sch~irfe". (Wir gehen z.B. spazieren und sehen am Himmel hoch oben einen Vogel fliegen; wenn A das sieht und B nicht, so katm man sagen: A hat bessere ,,Punkt-SehschArfe" als B.) Wenn man die~.• Sehschiirfepriifung beim Patienten anwandte, dann erkielt m~m ein annghemd normales Resultat. Aber wie diirftig ist dieses Resultat ! Darum Vorsicht bei Sehschiirfepriifungen mit agnostischen Patienten ! ]Deshalb ist auch die Forderung Lissauer's, yon der ,'.ch schon sprach, man miisse sich bei einem Kranken vor einer etwaigen IXagnose auf Seelenblindheit erst fiberzeugen, ob nicht eine Beeintriichtigung der SehschArfe vorliege, falsch. Mit dieser Forderung w:rkennt man die Natur der Seelenblindheit. Weiter wird dabei vorausge.~tzt - - wie ich friit;er schon andeutete--, dass die SehschArfe eine ,,einfache" Sehleistung ware gegeniiber ,,l~6heren", ,,komplizierteren" Vorg/ingen. Hier sind die Begriffe ,,einfach" und ,,kompliziert" in einem abstrakten, starren, v611ig unbiologischen Sinne genommen, und darum sind sie unbrauchbar. Bringen Sic einen Neger aus Zentralafrika auf eine europ/iische Augenklinik und priifen Sie seine SehschLde mit einer fiir i~m v611iglebensiernen, man miSchte sagen, abstrakten Sehprobe.

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Der Neger wird dann gewiss eine schlechtere Sehschiirfe zeigeu als ein Europ~ier, weft das, was Sie von ihm vedangen, fiir ihn eine ,,sinnlose" Aufgabe ist. Abet gehen Sie mit ihm einmal aui die Jagd! Jetzt werden Sie ads Europiier die schlechtere Sehleistung aufzuweisen haben. Auf der J agd ist eben der Neger mit scinem Sehen in ~inem Element. Daher ist auch die oft diskutierte Frage, ob NaturvSlker feinere Sinnesle~stungen (also auch feinere Sehleisttmgen) haben, gar nicht aUgemein zu beantworten. Die Sehsch/irfe hiingt - - wie auch alle anderen Leistungen des Organismus - - yon der jeweiligen konkreten Situation und Aufgabe und yon der inneren Einstellung (,,Disposition") des Organismus wesentlich mit ab. Wa:s wit neulich yon den Miingeln der motorischen Auswege iestgestellt haben, gilt nun in verstiirktem Masse yon der e.igentiimlichen ,,Kombination" des Patienten, einer Kombination, die vielleicht auf den ersten Blick ads besondere ,,Intelligenz" imponieren kann, die aber in Wirldichkeit nur ein praktisches Clich,6 darsteUt und keinedei fruchtbare Ueberlegung. Wenn der Kranke z.B. vor einem farbigen Bilde steht, das er optisch nicht erkerLnt, f~ingt er etwa folgendermassen zu ,,kombinieren" an: ,,Ob¢n blau, hier unten grim: also vielleicht hier unten Wiese und oben der Himmel". Das ist ein Ausniitzen von schablonenhaften Knterien auf sprachlich, besser gesagt wortlich fixiex~tem Wege. Der Kranke versagte hier natiJrlich sofort, went. die Farben fiir Himmel und Wiese etwas aussergewShnliche x~,xren. Damit kommen wit zu der Sprache des Kranke::, mit der er wie mit einem toten Werkzeuge umgeht. Unser Kranker hat bspw. keinen Zahlbegrih mehr, und dennoch erzielt er iiusserc Effekte, die ein Rechnen vortiiuschen. Wenn man den }~ranker. fragt, was mehr ist, 7 oder 4, dann beginnt er die Zahle~reihe aufzusagen ,, l, 2, 3, 4" und sagt jetzt: ,,7 ist mehr, denn das kommt spiiter; bisher ist es noch nicht vorgekommen". Der Kranke kommt so zu einer faktisch richtigen Antwort ohne Einsicht in die GrSssenverh~iltnisse; diese richtige Antwort ist eine ,,blinde". Dem entspricht auch das Verhalter, des K.ranken b~.im Schiitzen anschaulicher Mengen. Legt man drei StreichhSlzer weir auseinander, und nicht weir davon zehn StreichhSlzer in dichtem Haufen, so sagt der Kranke ~ auf die 3 StreichhSlzer hinweisend ~ ,,hier ist mehr, dean man muss mehr herumgucken". Also auch hier wieder sachfremde Kriterien! Die niiaheren Untersuchungen eines

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u nserer Mitarbeiter I) haben gezeigt, dass der Kranke in der Tat iiberhaupt keine Zahlenvorsteilung hat und trotzdem schriftlich ,rechnen" kann, indem er wieder Worte und Sprache als Schablonen ausnutzt. Wie, kann hier leider nicht ausfiihrlich behandelt werden. Abet es ist wichtig, zu v~issen: man kann gute RechenEffekte erzielen, ohne einen Zahlenbegriff zu haben! Wenigstens ein Beispiel! Frage: ,Wieviel ist 6 und 3 zusammen? Addieren $ie mal". Der Patient z~dte nun an den Fingern ab ,, I, 2, 3, 4, 5, ~" m erster Summand; dieser wurde mit den Fingern auf dem T/sche festgehalten, darauf weitergez~,~dt an den Fingern, l, 2, 3", und auch das wieder auf dem Tic:he festgelegt. Jetzt z~.lte der Kranke vom Anfang seiner festgelegten Finger an dutch bis zurn 9ten Finger und karn .so zum Worte ,,neun". Das ist kein echtes Fingerrechnen! Hier l~iuft eine sprachliche 7~_lenre/he ab m I, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 - - , und rnit diesem $ich-Abspulen der sprach]ichen Reihe operiert dieser Mensch auch, welan er schriftlich zu multiplizieren oder zu addieren hat. Soll der Patient etwa eine vierste]iige Zahl mit einer anderen vierstelliger~ Zahl multiplizieren, so bringt er auf seine Weise eine $tund,.• und l~inger darnit zu. Abet bei seinem Wege ,,verrechnet" er sich fast nie; er ,verrechnet" sich nicht, well er gar nicht ,,rechnet". Ich mSchte sagen, er kann keine Fehler machen, weil er zu ~ehr gebunden ist an seinen Schab]onenweg. Diese Resultate miissen uns phi]osophisch-anthropologisch bedenldich stimmen, denn solche de~TL~usseren Effekte nach richtigen, abet sachlich mleinsichtigen Leistungen kennt nut der Mensch. Auch der Gesunde benutzt in F~il]en, wo Einsicht fehlt, oft sachfremde Kriterien; so bspw. vielfach Kinder in der Schule. Das sollten die P~idagogen mehr bezchten, und sie sol]ten psychoIogisch zu unterscheiden wissen, wo wirkliche Einsicht, und wo ein Vorgehen mit sachfremd~n Kriterien vorliegt. Ein Tier leistet gewiss unvergleicldich weniger als ein Mensch, abet weder ein diirftig, noch ein reicher organisiertes Tier ist jemals im Stande, sachfremde Kriterien fiir f~in Verhalten auszuniitzen. Dagegen mit welcher Selbstver~t~ndlichkeit oper~ert germ,de damit unser Kranker ! Wie dvs al]es m it der $prache des Men,:hen zusammenh~ingt, werden wit sp~iter noch genauer sehen. Hier wol]te ich nut Ihre Aufmerksamkeit auf das allgemeine Problem hinlenken: die ,,Krone der $ch~pfung" kann neben h0chster Einsicht auch ,~blin~) W. Benary, Psychol. Forschg. 2, S. 209 f.

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de" Resultate erzielen, lediglich ~iusserliche Effekte - - oft recht brauchbarer Art m auf technisch ,raffiniertem", aber einsichtslosem Wege. Die Konsequenzen fiir Erkenntnislehre und Metaphysik mtissen hier beiseite bleiben. Gehen wit welter! Weiss unser Kranker, was eine Analogie 1) ist ? Fragt man ihn z.B.' , K a n n man das sagen, die Lampe verh~lt sich zum Licht wie der Ofen zur Wiirme ?", so geht aus der Antwort des Kranken deutlich hervor, d ~ s ibm das Analogieverst~indnis v611ig fehlt. Und wie steht es mit den gew6hnlichen Schlussprozessen? Vermag der Kranke aus zwei vcrgegebenen S~itzen (einem sogenannten Obersatz und einem Untersatz, das sind die ,,Priimissen ~') einen dritten einsichtig zu folgern ? Etwa nach dem beriihmten Muster: Alle Menschen sind sterblich; Caius ist ein Mensch; also . . . . ? Nein, unser Kranker kennt den richtigen Schluss nicht; aber wieder kommt ihm ein bestimmter Sprachmechanismus zuweilen zu Hilfe, und daztn ,,rasselt" er nach dem Aussprechen der beiden Pfiimissen den Folgesatz mit herunter. Solche sprachmechanistischen ,,Briicken" sind natiirlich, wie Max Wertheimer gezeigt hat, streng zu tmterscheiden von wirklich einsichtsvoUem Sclfliessen. Das sprachmechanistische Moment ist ja wieder ein sachfremdes Moment, und wie leicht kann man mit der spracbmechanistischen ,,Briicke" zu einem komplett unsinnigen Schlussatze kommen! Ein Beispiel daftir: Was selten ist, ist teuer; Billige Pferde sind selten; Also . . . . ? (Also sind billige Pferde teuer?) Ohne dass ich weitere Einzelheiten bringe, merken Sie gewiss, dass unser Kranker eine Denkst6rung hat, denn es fehlt ihm der Zahlbegriff, er versteht keine Analogien und Schliisse. Wenn wir bei diesem Kranken nicht mit der Untersuchung der Optik, sondern mit der Untersuchung seiner Denkprozesse begonnen hiitten, so h~itten wir zweifellos in erster Linie von einer ,,Denkst6rung" gesprochen. Warum sagen wit denn, dass der Kranke ,,seelenblind", dass er optisch-agnostisch ist ? Er hat doch auch eine Denkst6rung! Nun, dass wir die Optik zuerst untersucht haben, s) Vgl. wieder: W. Benary, l.c.

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ist fast selbstverst~dlich, denn die optischen S~,~mptome waren bei ibm die ~iusserlich auffallendsten. Dass jemand nicht lesen kann, fdllt fiir gewOhnlich friiher auf, sis dass er kein Verst~indnis fiir Analogien usw. hat. Indessen, es ist doch nuc , , z u f ~ g " und ~iusserlich, was wir bei einera Kranken zuerst untersuchen! Tatsache ist, dass bei unserem Kranken hier keineswegs nur die Optik gest6rt ist; so wenig dieser irn Optisch-Anschauliehen festgefiigte Gebilde seh~.n kann, so wenig vermag er im Denkgebiet eine quasi-simultane Denkgestalt zu fassen. Fiir den Zahlbegriff, fiir die Analogien, fiir die Schliis~e und fiir noch manche andere Denkaufgaben ist aber gerade eine eigentf:mliche ,,Synopsis" im Sinne einer simultanen Denkgestalt unentbehrtich. Die St0rung im Denken hat also beim Pa~ienten die analoge Struktur wie die St6rung im Optisc~-Anschaulichen; noch mehr: der Kranke hat auch im Tastgebie~e eine St6rung, und zwar wiederum eine St6rung, die einen ga~z analogen Charakter hat. Auch darauf kann ;ch bier nicht weiter eingehen. Ich mOchte diesen Vortrag mit folgendem Hinweise schliessen. Unser Kranker hat eine Verletzung des Hinterhauptlappens, also eine Verletzung der sogenannten Sehsph~ire; und in der Tat sind die krankhaften Symptome im optisch-Anschaulichen ganz besonders stark ausgebildet. Nun zeigt es sich aber, dass der Kranke auf den verschiedensten Gebieten die strukturanaloge StOrung hat. Die auf den verschiedenen Gebieten zutage tretenden Symptome diirften also die Auswirkung ein und derselben GrundstOrung - - Mangel der Simultangestalt ~ sein. Und was bedeutet das in anatomisch-lokalisatorischer Hinsicht ? Mit aUer Reserve mSchte ich sagen: der Hinterhauptlappe~ hat nicht nut die Bedeutung, ,Sehsph~re" im engeren Sinne zu sere, sondern vermutlich in einem viel umfassenderen Sinne ,Synopsis" zu vermitteln. Eine festgefiigte Simultangestalt kann optisch im engeren Sinne sein, sie kann aber auch in Gebiete iibergreifen (Denken, Tasten), die stofflich anderer Natur shad. SimuRangestalten k~unen also in der engeren optischen Sph~e besonders deutlich zum Ausdruck kommen, aber sie sind nicht etwa auf die~ engere Sph~ire beschr'finkt. Dementsprechend diirfte das anatomi~che Gebiet, das als ,Sehsph~ire" gilt, nicht nur Sehsphere im engeren Sinne sein.

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VI Wit haben am Schlusse der letzten Vorlesung das Gebiet der Optik im engeren Sinne verlassen und tins allgemeineren Betrachtungen zugewandt. Wir wurden dabei auf die Frage gefiihrt, wie die optische Agnosie ira engeren Sinne zu dem sonstigen Verhalten und den sonstigen St0rungen unseres Kranken stehe. Wir rahen, dass bei dem Kranken nicht nur das optische Erkennen in charakteristischer Wei~ gest0rt war, sondern dass z.B. at~ch auf dem Gebiete des Denkens ganz strukturanaloge StOrungen vorlagen. Ueberall, wo ein ,In-Eins-Haben", (In- Eins-Schauen, In-EinsDenken) erforderlich war, dort versagte der Kranke. Wie wit uns im einzelnen diese Beeintdichtigung physiologisch vorzustellen haben, ist natfirlich zur Zeit kaum zu sagen. Ich k6nnte Ihnen zwar bestimmte Vorstellungen vermitteln, wie si6 Wolfgang K6hler in seinem Buche fiber ,,Physische G.estalten" durchzufi~hren versucht hat, aber ich halte das im Zusammenhange dieser Vortragsreihe ffir nicht angebracht; auch schon deshalb nicht, well wir dabei niemals fiber bloss Hypothetisches hinauskommen. Jede physiologische Theorie bleibt Hypothese, weil es sich hier um ein Gebiet handelt, welches uns nur mittelbar, nicht abet unmittelbar zuggnglich ist. Dagegen kann das, was wir am Kranken durch Analyse und Beschreibung der Tatsachen feststeUen, unmittelbar aufgewie~n und nachgeprfift werden. Wir hatten uns t:ereits eingehender mit der Tatsache beschgftigt, dass unser Kranker vieles fichtig macht und viele richtige Antwoi~en gibt, ohne sachliche Einsicht zu haben. Wenn etwa ffir den Kranken 1 Meter so viel bedeutet ~4e ,,zehn eigene aufeinandergelegte Fi/uste", dann handelt es sich bei ihm nicht etwa urn ein anschaulich praktisches Massystem, sondern es geht dabei um etwas lediglich durch Worte Fixiertes. Er hat auswendig gelemt ,,meine Faust ist l0 Centimeter s', usw., also wieder ein worthaftes Clich6 verwandt. Aehnlich sachblinde Clich6s waren ffir ihn die Lgnge seines Zeigefingers, seines klemen Fingers, u.a. mehr. Derartiges hat sich bei diesem Kranken kusgebildet, weft seine St6rung so radikal war. Hiitte er mehr an gestaltetem Sehen, Denken, Tasten, usw. behalten, ~ er h/itte wolff kaum so prompt seine Hills- und Auswege anzuwenden gew asst. Erfahrungen an anderen Kranken mit weniger radikalen St6rungen legen jedenfa;Is diese Annal~me sehr nahe; und Sie erinnern sich wohl, dass wir

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uns mit diesem Gedanken schon beim Hemianopsie-Problem beschgftigten. Gehen wir weiter ! Unser Kranker sprach viel, ja er sprach mitunter mehr als ein Gesunder, und man staunte zu Anfang, wie glgnzend diese ,,Sprache" erhalten war. Erst die genaue Analyse vermochte uns zu zeigen, dass hier eine SprachstiSrung vorlag. Denn diese ~iusserlich so ,gute" Sprache war nichts als ein unbewusster Ausweg, die Wirkung der gest6rten Funktionen zu verdecken und bis zu einem gewissen Grade unsch/idlich zu machen. Diese Sprache war ja einer der Hilfswege, und ohne sehle ,flotte" Sprache w/ire dieser Kranke im praktischen Leben sehr iibel daran gewesen. Hier einige Beispiele, die in fast erschiitternder Weise zeigen, wie wir Menschen im ~'otfalle mit der Sprache ,,hantieren", ,,agieren" kiSnnen, ohne Einsicht zu haben in Worte ~and S/itze, die sich abspulen wie in einem Trancezustand. Wenn man dem Kranken die Aufgabe stellte, z~ zeigen, wie man milita=isch griisst, so verstand er, der doch Soldat war, diese Aufgabe gar nicht. Er wiederholte nur mit ganz abwesendem Blicke die Worte ,,militLrisch griissen". Sobald man ihm aber das Wort ,,Ehrenbezeugung" nannte, was der Bedeutung nach dasselbe besagt wie ,mhitgrischer Gruss", dann 16ste dieses Wort unmittelbar die milit/irische Haltung beim Kranken aus, und die rechte Hand flog geradezu an die rechte Schl~ife. Er wiederholte das Wort ,Ehrenbezeugung", und im seiben Moment nahm er die Hacken zusammen, milit/irische Haltung an, und das Ganze lief nun ~iusserlich wie beim Gesunden ab. Gerade diese Exaktheit im Sinne eines Automatismus ist, wie Sie heute noch sehen werden, oft ein krankhaf~es Symptom. Unser Patient erweist in Wkklichkeit gar keine Ehrenbezeugung, sondern es rut sich in ihm, was ein besti,~mtes Wort, das Wort ,Ehrenbezeugung" ausl~Sst. Zufiillig kam man in der Unterhaltung auf die ,,Natur" zu sprechen 1), auf Fr/5.~che, und der Kranke wurde gefragt: ,,Was ist ein Frosch? Sie h~tben doch real einen Frosch gesehen?" Antwort: ,Frosch, ein Frosch, was ist ein Frosch? Frosch: quak, quak, der sprinT ' ' . Frage: ,,Nun, was frisst denn so ein Frosch ?" Antwort" ,,Das weiss ich nicht; der ist in Siimpfen, Wassern, an Ufern". Frage: ,Wie ist denn die Farbe?" Antwort: ,Frosch, Frosch . . . . sin Laubfrosch, ach Farbel Laub: griin[ Der Laubfrosch ist griin". /st Ihnen nicht schon bei diesem einfachsten I) Aus W. Hochheimer, Psychol. Forschg. 16, S. 12.

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Protokoll aufgefallen, dass der Kranke die eigentliche AufTabe verl/isst ? Man fragt: ,,Was ist ein Frosch", und durch die Wiederholung des Wortes ,,Frosch" rutscht tier Kranke in das .,Quak Quak" hinein. Das Wort Frosch l~Sst also automatisch die Worte ,,Quak Quak" aus, - - was gar nicht zur Aufgabe geh6rt; und nach der Farbe gefragt, sagt der Kranke nicht etwa: ,Der Frosch ist griin", sondern er findet alas Wort ,,g~in" auf dem Umweg tiber das Wort ,Laub". Ein weiteres Beispiel ! F rage: ,Woher kc~mmen die Wellen auf dem Wasser?" Pause. Dann sagt der Patient: ,,Wellen . . . . es murmeln die Wellen, es s~iuselt der Wind; vom Wind". Das aUes plappert der Kranke mit v6Llig leer~m Gesichtsausdruck herunter. Frage: ,,Ja, was ist d~nn das, es murmeln die WeUen ?" Nach ein~r Pause Antwort: ,Das muss ein Gedicht sein, das weiss ich jetzt selbst nicht, wie das gekommen ist. Ja, wie soU ich das erkl/iren ? Was ~311te ich sagen ? Wellen ! Von was kommen die Wellen. Dann kam: es murmeln die WeUen, es s~iuselt der Wind. Also: vom Wind". Beachten Sie auch hier dieses Abbiegen yon der Sache! Der Eranke geht mit seiner Sprache gewissermassen ,motorisch spaz~eren", und ist die Aufgabe so gestellt, dass dieses ,,motorische Spazierengehen" zum richtigen Effekt fiihrt, dann ist es gut. So knmen wir einmal auf das Wort Miihle zu sprechen. Da sagte der Kra~ake: ,,Es klappert die Miihle am rausmhenden Bach". Man sah immer wieder, wie der Patient bei etwas anf~ingt, bei etwas endet, u n d e r selbst am Schluss nicht weiss, wie er eigentlich zu Ende gekommen ist. Ein franzi~si~.~hes Sprichwort sagt" ,L'app6tit vient en mangeant". Iteinrich v. Kleist hat diesen Satz der Franzosen etwas ge~indert und gesagt: ,L'id6e vient en parlant". Das gibt es in der Tat! Wie oft bestgtigt sich das im menschlichen Leben, und was ffir dramatische Situationen kiSnnen sich hieraus ergeben! Aber bei unserem Kranken kommt keine ,Idee" beim Sprechen, sondern bei den gebrachten Beispielen handelt es sich urn ein automatisches Ablaufen yon S~itzen, und es ist vielfach dem Zufall iiberlassen, ob dieses motorische Sichabspulen der S/itze zu einem and dann nur/iusseren ~ Erfolge fiihrt. In diesem Zusammenhange m6chte ich bemerken, dass unser Kranker im Grunde nur ,antwortet" und nicht yon selbst ,fragt". Eine Frage im strengen Sinne des Wortes entsteht da, wo ein Problem vorliegt, wenn aueh ein noch so bescheidenes. Ein Tier fragt nicht, nur der Yensch ! Der Kranke ,,antwortet" nur; sei es,

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dass irgend ein Mitmensch ihn fragt, oder class irgend ei~e Situation an ihn ,,Fragen" stellt. Ein charakteristisches Bei~:pie]: Der Patient klagte einmal fiber Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Appetitlosigkeit, wie das so oft - - besonders bei schlechtem Wetter - - bei Hirngesch~idigten vorkorn_mt. Da mein Freund und Mita~:beiter nicht anwesend war, ginger zum Oberarzt. Ich fragte den Patienten sp~iter: ,,Nun, Herr S . . . . . was hat denn der Oberarzt gesagt?" Antwort: ,Gar nichts". Frage: ,Sie waren doch aber beim Arzt?" Antwort: ,Der Herr Oberarzt hat nichts gefragt, und da habe ich nichts gesagt". Er kam vom Arzt unverrichteter Dinge zuriick, da dieser ilm nicht nach seinem Befinden gefragt hatte. Ein Kranker, der nicht fragen kann, kann auch keme Antwort verschweigen ! Nur wer spontan fragen kann, kann auch in bestimmtern Sirme ,,schweigen". FOr den Kranken aber bedeutet die Frage eines Mitmenschen nichts anderes als einen ,,Reiz", der zwangsl~iufig eine Reaktion dieser oder jener Art ausl0st. Kranke die~r Art pflegen alles ernst zu nehmen. Daher versteht unser Patient auch nicht, Ernst und Scherz zu unterscheiden. Er vimrnt alles w0rtlich. Durch seine Art, die Sprache zu verwenden, rrdt ihr praktisch zu arbeiten, klebt er so am Wort, dass er iibe~ragene Bedeutungen nicht begreift; daher versteht er kaum Fabcln, M~irchen, Scherze, usw. Er kann auch manche ,,Schhnpfworte" nicht verstehen. Werm man sagt: ,,Dieser Mensch ist ein Schaf"~ so wird er antworten: ,,Ein Mensch kann doch kein ,,Schaf" sein". Indessen - - das Nichtverstehen yon Scherzfragen schliesst nicht aus, dass der Krauke mitunter besser als der Gesunde auf bestimmte Scherzfragen ~iusserlich richtig antwortet. Man hat in de~r neueren Literatur behauptet, dass Kinder Scherzfragen besser ,verstehen'" als Erwachsene. Wenn man nach dem ~iusseren Effekt geht, mag das richtig sein. Man muss aber erst wissen, ob das Kind auch wirldich die Aufgabe 10st, die man ihm steUt. Was ich damit meine, ist an unserem Patienten wieder a.usgezeichnet zu demonstrieren. Ich frage den Kranken: ,,Wer hat den gr6ssten Hut in der "Welt getragen?" Antwort: ,,Hut, grosset Hut, der gr0sste Hut, (Bewegungen wit H~inden am eigenen Kopfe), wer den gr0ssten Kopf gehabt hat". Die Antwort ist richtig, aber gerade deshalb, well der Kranke die Scherzfrage nicht als Scherzfrage, sondem als ernst gemeinte hingenommen hat. Sie werden wahrscheinlich angefangen haben, nach-

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zudenken, um eine ,,Pointe" zu linden. Der Kranke zerbricht sich nicht den Kopf; er macht bestimmte Bewegtmgen im An~h!uss ;!n ~ e Frage und erarbeitet sich so allm~ihlich, ohne ,,Pointen" zu suchen, die Antwort. Sie sehen, wie vorsichtig man bei der Bewertung von Antworten und iiberhanpt yon Ausserungen sein muss. Darum bin ich auch nicht sicher, ob Kinder wirklich Scherzfragen besser verstehen als Erwachsene. Man muss erst genau analysieren, wie sie dabei vorgehen. Der ~iussere Erfolg kann immer t~iuschen; das kann nicht oft genug wiederholt werden. Wie viele Protokolle in den Kr~mkengeschichten der Literatur sind v/511ig wertlos, weil nur ~iussere Effekte protokoUiert wurden, ohne Analyse, wie sie zustandekamen ! Sehen wir noch kurz einige andere F~ille von Agnosie an! Es gibt eine Form yon Seelenblindheit, die nicht durch Verletzung des Hinterhauptlappens entsteht, sondern durch Verletzung des Stirnhirns. Sie sieht den Symptomen nach mitunter ~ihnlich aus. Zun~ichst ein paar Beispiele, ohne vorher zu sagen, um was es sich handelt. Ich schreibe einen Buch~taben mitten auf die Tafel, z.B. ein deutsches R, und frage einen Kranken: ,,Was ist das ?" Er gibt mir keine Antwort; er steht davor und macht ver!ege_n_e I~ewegungen. Nun ziehe ich eine Horizontale unter das R, und der Kranke sagt prompt: ,,R". Nur das, was auf der Zeile, auf der Linie steht, nur das, was Boden hat, das wird von diesem Kranken erkannt. Ohne Linie, mitten auf der Tafel, verliert ein Gebilde Sinn und Bedeutung fiir ihn. Die Linie, die Zeile muss gebildet werden, entweder durch einen Strich oder im Notfalle auch durch die darunter gehaltene Hand. So wenig dieser Kranke ohne Linie Buchstaben lesen kann, so wenig erkennt er auch einen Buchstaben, wenn an diesem irgend etwas ver/indert wird; dann wird dieser dem Kranken sinn-und bedeutungslos. E twa ein ,,normales" M aus der Anfangsfibel, das ist dem Patienten ein ,,M". Ein M dagegen, das etwas schief geschrieben ist, oder dcm ein Schntirkel hinzugefiigt wird, oder an dem etwas fortgelassen wird, das i.st ,,kein M". Wir k6nnen verschiedenste Handschriften lesen, das kleine Kind schwer, der erwachsene Ungebildete auch nicht leicht. Wir haben eine Breite, eine ,,Gestaltbreite", innerhalb derer wir ein Gebilde erkennen; wir sehen bei den verschiedensten Kandschriften noeh das Grundgeriist, das Wesentliche der Buehstaben. Von den individueUen Abweichungen ,,sehen wir

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ab". Diese ,,Abstraktion" ermSglicht es uns, die verschiedensten Handschriiten zu lese.n. Weml aber ein Kranker ganz eingeengt ist, z.B. aui ein bestimmtes M, wom6glich das yon ihm selbst geschriebene, dann entsteht eine ,,Buchstaben- und Wortblindheit", die ein Ausdruck dafiir ist, dass jene Gestaltbreite weggefallen ist. Nun verstehen wir aueh, warum unser letzter Kranker nut auf Zeilen Buchstaben erkennen kann. Die konkrete Gesamtsituation muss vollst~indig sein, es d a d nichts fehlen, abet auch nichts UnnStiges dazukommen, m dann erst gelingt das konkrete Erkennen. Es vergingen etliche Jahre, ehe ich flit diese ,Kleinigkeiten" tiberhaupt einen Blick bekam. Schon wie ein Kranker das Papier zurechtlegt, wenn er etwas schreiben will, schon das ist yon Wichtigkeit. Wit beobachten Aehnliches auch im gew6hnlichen Leben. Wenn Sie etwa auf eine Beh6rde gehen und dort mit einem einfachen Manne zusammentreffen, haben Sie da nicht die Unterschiede gemerkt, wie Sie ]hren Namen unterschreiben, und wie jener Mann das tut ?Welch umsfiindliche Prozedm', angefangen mit dem Zurechtriicken des Stuhls, benStigt oft der einfache Mann! Das zeigt: Wenn ein Men~h eine gewisse Priraitivit~t hat, dann braucht er eine ganz bestimmte Situation fiir das konkrete Handeln. Und ~indem Sie etwas ~,JnMilieu oder an der Situation, dann wird versucht, die Situati~,n zurechtzulegen; sonst stockt die Handlung. Was nun bei unserem letzten Kranken vorliegt, ist etwas durchaus Aehnliches, nur in sehr verst~rktem Masse. Wieder kommen wir v o n d e r Pathologie aus dem Verst~indnis des Gesunden n ~ e r . Jetzt werden wir auch andere Eigenttimlichkeiten dieses Kranken leichter verstehen kSnnen. Kann der betrefiende Kranke ,,in der Luit" schreiben ? Wit kSnnen es; wir markieren das Schreiben in der Luft. Ftir den Kranken abet heisst schreiben nut: hier Bleis t i r nehmen, Papier zurecbt rticken, so eine Haltung einnehmen, usw.; dann erst gelingt das Schreiben. Unser letzter Kranker schreibt nicht, in der Luft; er kann nur schreiben, wenn er am Schreibtische sitzt, Papier und BleistiR hat, usw. Nun sage ich zu diesem Kranken: ,Nehrnen Sie diesen BleistiR und versuchen Sie jetzt, nicht direkt aui dem Papier, sondern etwv~ tiber dem Papier zu schreiben !" Der Kranke versagt ! Nut wenn die Bleistiftspitze das Papier direkt bertihrt, dann erst geht das Scbrciben, sonst nicht. Verlange ich weiter vom Patienten: ,,Klopfen Sie

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real an die Tfir !", dann geht er ~ h r gut hin und klopft; aber ich brauche ihn bloss kurz vor der Tiir festzuhalten, so dass zwischen Hand und Tiir ein ldeiner Zwischenraum bleibt, dann ist der Patient bereits nicht mehr imstande, die Klopfbewegung auszufW~ren; er muss die Tiir selbst unbedingt berfihren. Wir beobac~t~ten also. hier eine ganz analoge St6rung im Handeln. Dieser Kr;xnke schreibt nur, wenn er das Papier mit der Bleisfiftspitze beriihrt, er klopft nur, wenn er die Tfir anfassen kann. So sind wir ganz yon selbst yon opti~h-agnostischen Symptomen zu anderen gekommen. Kann ein Mensch bestimmte Handlungen nicht mehr ausfiihren, so liegt eine bestimmte ,,Apraxie" vor! Der Kranke kann in konkreten Situationen konkret handeln, aber er kann nicht Handlungen markieren. Er kaxm einen Bekannten begriissen, aber er vermag nicht, zu zeigen, wie man grfisst. Ez kann nicht das Griissen bloss vormachen, ,,bloss so tun, als ob". Das gilt besonders auch yon Ausdrucksbewegungen: der Kranke kann ,ieUeicht unter Umst~inden zomig werden, aber er kann nicht den Ausdruck des Zornes markieren. Solche Aufgaben sind ffir ihn einfach sinnlos. Er versteht nur konkrete situationsgebundene Aufgaben. Im fibrigen: Haben Sie jemals ein Tier gesehen, das Ihnen nur zeigt, wie man frisst? Haben Sie jemals einen Hund gesehen, der Ihnen nur zeigt, wie man fiber den Graben springt ? Sie haben gewiss viele Tiere fressen und viele Hunde fiber den Graben springen gesehen; aber bloss so tun, als ob man frisst, als ob man fiber den Graben springt, das kann kein Tier! Diese Welt des ,,Scheines" ist dem Tier verschlossen. Sie geht auch dem Menschen verloren, wenn er schwer krank wird. Selbst der prinfitive Gesunde kennt jene Welt des Scheines in nur beschdinktem Masse. Wir berfihren hier ein umfassendes philosophisches Problem: das der ,,Welt des Scheines", des ,,Spieles", und schliesslich der ,,Kunst". Das fiefsinnigste darfiber - - und auch empirisch gfiltige - - hat nach meiner Ansicn~ Schiller in seinen Briefen fiber ,,die ~isthetische Erziehung des l~i~ns,::hen'' gesagt. Aber darauf einzugehen, ist hier nicht der Ort. VII Wir sprachen davon, dass bestimmte tiimgesch~idigte nicht in der Lage sind, Buchstaben zu erkenn~n, wenn diese nicht auf einer

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Linie stehen. Ohne Linie erkennt ein solcher Kranker die Buchstaben nicht, wold aber mit der Linie. Das ist eine ,,Agnosie", ein Versagen des Erkennens, das dort auftritt, wo bei der Auf~abe selbst oder bei der Situation, in der die Aufgabe gelSst werden soil, etwas nicht ganz stimmt, irgend eine kleine Liicke often gelassen oder eine kleh.eAbweichung yon der gewohnten Situation vorhanden ist. Wenn ich z.B. beim Worte ,,Frankfurt" die beiden ersten Buchstaben rot schreibe, dann ist dem K~anken bereits ein Lesen nicht m~glich. Solche Symptome finden Sie gar nicht selten, besonders bei Stimhiml~ionen. Gelegentlich schrieb ich dem letztgenannten Kranken das deutsche ,,B" (L,) vor, aber rasch und unsorgf~ltig. Auf die Frage: ,,Was ist das ?" sagte der Kranke: ,Eine Gasla:npe". Tats~chlich, als ich jetzt igenauer hinguckte, hatte mein B (~P) einer ,Gaslampe" ~hnlicher gesehen Ms einem deutschen B. Wiederum haben wir hier nicht etwa ,Ideenflucht" vor uns, aber auch kein ,,Verkennen" im Sinne e~waiger ,iatscherDeutung" des Gesehenen. Darauf will ich noch besonders aufmerksam machen, denn mit dem Worte ,,verkennen" gehen wir oft leichtsinnig tun. Ich schreibe dem Kranken etwas unsorgi~ltig eine II auf, und frage: ,,Was ist das?" ArLtwort: ,,Eine Leiter". ,,Wieso denn Leiter?" ,,Ja", sagt der Krarlke, und dreht den Kopf urn 90°: ,Das Linddas sind die Sprossen', und zeigt auf die vertikalen langen Striche. Schreibe ich aber die r6mische II sorgffiltig hin, so erkennt sie der Patient sofort. Was bedeutet das theoretisch? Sorgt~ltig geschrieben, reiht sich das optische Gebilde der II fiir den Kranken in die Sph~ire der Schriftzeichenreihe ein; fliichtig hingeschrieben, kann die r~mische II aur erkannt werden, wenn man yon allen Unregelm~L~sigkeiten ,absieht" oder ,abstr,~ert". Man muss den ,,Kern" und die ,,Arabeske" zu trennen wissen, und gerade dieses ist dem Kranken unm~glich. Er kl,ebt an dem ,hicr", ,,jetzt" und ,,so", und kommt auf einen konkreten Gegenstand (Leiter, Gaslampe), wenn die Vorlage damit gr~ssere Aehnlichkeit hat Ms mit einem Buchstabcn oder einer Ziffer. So fasst der Kranke einen unsorgf[iltig gezeichneten Kreis als ,Schomsteiniegerring" auf, nut einen sorgfiiltig gezeichneten als Kreis. Ist das alles ein ,Nichterkennen" oder ,Verkennen" im Sinne etwaiger falscher Deutung ? Nein! Von dem Milieu, yon der Urnwelt dieses Kranken aus gesehen, ist es das konkreteste, unmittelbar an die Vorlage sich anschmiegende Erkennen, also ein

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Erkennen ohne ,,Gestaltbreite", wie ich friiher sagte. Dieser Kranke kann iiberhaupt nicht ,,verkennen"; derartige Patienten kfinnen war entweder sich verlieren, versagen und dabei aufgeregt werden, oder abet sie lfisen eine Sache so, wie es der Art und Struktur ihrer Umwelt entspricht. Die angefiihrtcn Beispiele waren derartige Lfsungen. Wir haben hier also kein Verkennen, sondern ein sehr konkretes Erkennen, wenn auch - - yon uns Gesunden aus gesehen u eine falsche Aussage vor uns. Wir gebrauchen das Wort ,,Verkennen" gem, wenn ein Resultat nicht mit dem iibereinstimmt, das wir erwarteten. So diirfen wir abernicht vorgehen, wenn wit das Verhalten bestimmter Kranker verstehen woUen, gleichviel ob es sich um das Erkennen, das Lesen handelt, um bestimmte Handlungen oder auch ganz andere Verhaltensseiten. Noch ein besonders charakteristisches Beispiel: Ich stelle vor unseren letzten Kranken ein leeres Trinkglas hin und sage: ,,ttier ist ein leeres Glas, nun zeigen Sie real, wie man trinkt ?" Der Patient macht die verschiedensten Verlegenheitsbewegungen mit dem Glase, aber die charakteristische Trinkbewegung kon~nt nicht zustande. Nun giesse ich etwas Wasser ins Glas - - ein paar Tropfen geniigen - - und sage: ,,Bitte, tdnken Sie doch!" Jetzt nimmt er das Glas und trinkt wie ein Gesunder! Schtitte ich unmittelbar darauf den Rest des Wassers aus und sage wieder: ,,Zeigen Sie, wie man trinkt ; Sie haben doch eben getrunken Y", so f~ingt er wieder das konfuse Bewegen des Glases an. Man kann das beliebig oft wiederholen; dasResultat wird nicht anders. Das ist das klinische Bild der sogenannten ,ideomotorischen Apraxie". Derart Kranke fiihren nur dann Handlungen richtig aus, wenn die Situation fiir sie ,,sinnvoll" ist, das heis~t, wenn die Situation die betr. Handlung unmittelbar erfordert. Ist z.B. der Kranke durstig, so nimmt er das Glas, giesst sich Wasser ein und trinkt. Dagegen ,,TI~inken" aus einem leeren Glase ist ja gar kein wirkliches Trinken, das ist ja nur ein ,Markieren", ein ,,Vormachen", als ob man tr~inke. Das aber geht~rt in die Welt der Vorstellung und des Scbeines, wie ich das vvrige Mal sagte, und nicht in die Welt der konkreten Wirklichkeit, in der diese Kranken infolge ihrer Himsch~idigung eben nur noch leben. Ich hatte Gelegenheit, einen Kr~,mken mit progressiver Paralyse kurz vor dem Tode zu sehen. Dieser Kranke konnte iiberhaupt nur trinken, wean er dursfig war. Selbst wenn Wasser im Glase war, er jedoch keinen Durst hatte, konnte er die Trinkbewegung nicht

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mekr ausfiihreu; Durst musste da sein. Der Kranke aber, den ich hier ztdetzt im Auge hatte, trinkt auch olme Durst; nur muss Wasser im Glase sein. Dieser ist also doch schon weniger,konluet" als jener Par-,dytiker. Eine weitere LosliSsung yore ,,Konkreten" wgre: zeigen k/~nnen, w/e man trinkt, roit einem leeren Glase. Ein weiteres ,,Sich-befreien" yon dem unmittelbaren Situationszwang: eine Trinkbewegung machen und ein leeres Glas nut an,~ehen. Und vollends" man mark/ert die Trinkbewegung m/t der Hand aus dem Stegreif. Sie sehen - - es gibt eine ganze Skala yon Verha]tenswe~qen zwi_schen dem v/511ig situationsgefesselten Zustand m Trinken miissen nut aus D u r s t - - und dem v611ig,freien" Markieren der Trinkbewegung, wie es jeder Gesunde kann. Nach allem Vorgebrachten ~!iirfte es wold klar sein, dass die ,,ideomotorische Apraxie" kein selbstgndiges Krankheitsbild ist, sondern nut eine Spezialauswirkung einer viel umhssenderen, allgemeineren Grund- und Wesensver'anderung des Menschen. Derartige Kranke sind, miSgen die Symptome im einzelnen verschiedene seki, situationsgefesselter als Gesunde, und zwar auf allen Gebieten. Am schwierigsten oder ganz unm0glich wird ilmen das Hinausgehen fiber die unmittelbare Gegenwart. Die Welt der lraagination, des ,,Bloss-M0glichen" - - im Gegensatz zu dem ,,Wirklich-Pr'~isenten" m ist ihnen verschlossen oder doch nur erschwert zugiinglich. Von hier aus kiSnnen wir eine wichtige Eigent~imlichkeit der Kranken verstehen, auf die ich noch einmal nachtr/iglich aufmerksam machen m ~ h t e . Versetzen Sie sich in die Lage von Menschen, die an die unmittelbar pfgsente Situation gebunden sind und nur aus ihr heraus, nieht aber aus eigener Initiative zu handeln imstande sind. Wie schwer, ja fast unertr'dglich muss es fiir solche Menschen sein, wenn sie mit irgend einer Aufgabe nicht fertig werden und versagen miissen ! Schon im erstenVo~rage sprach ich davon, dass die iiber ihr Leiden ,,nicht ldagenden" Hirngesch~idigten erst bei bestimmten Untersuchungen zu ~eiden beginnen in Form yon Unruhe und Erregtheit. Das ist, ~Se Sie wissen, nur dann der Fall, wenn die Kranken bei der Untersuehung vor Aufgaben gestellt werden, die nicht in ihre Umwelt hinein geh6ren. Versagen ist ja keine leiehte Angelegenheit ! Man muss, um dasVersagen zu ertragen, um sich niciLt zu verlieren, und um nicht Sklave tier dabei auftretenden Affekte, wie Scham usw. zu werden, sich den freien und offenen Blick fiber die gesamte Situ-

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ation erhalten. Es geh0rt also ein gewisser biut und eine gewisse Distanz zur Lage dazu. Wie soil eben diese Distanz yon einem Hirngesch~digten auigebracht werden, der doch gerade aus dem unmittelbar Gegenw~.rtigen nicht herauszutreten vermag, der keinen Abstand gewinnen kann ? Es bleiben fiir ihn also nur zwei M~glichkeiten iibrig, die ich bereits erw~ihnt babe: entweder sich zu verlieren und in Aufregung zu geraten; oder etwas zu tun, das in ibm selbst das Gefiild einer L6sung erweckt, w~hhrend es doch in Wirldichkeit nur ein Ausweichen ist. Ich m~chte ]]men daifir noch ein Beispiel anfiihren, das nicht nut fiir die Psychologie des Versagens, sondern auch fiir die Psychologie der Sprache, die wir gleich n~iher ins Auge fassen werden, nicht unwesentlich i:x. Ich frage z.B. jenen agnostischen Kranken, von dem ich ilmcn ausfiihrlich berichtet habe, ob er yon dem letzten Eisenbahnungliick geh~rt habe, und wie so etwas wotd zustande k~ime. Antwort: ,,Eisenbahnungliick . . . . sctdechte Weiche . . . . oder eine Schiene gelockert . . . . es gibt Eisenschienen und tIolzschienen . . . . Holzschwellen . . . . Schwellen: . . . . Eisenschwelfen haben sich ~w~h_rt . . . . Eisen ist dauerhafter". Wenn man so c'wa~ h~rt, staunt man fiber den WortschwaU, der doch mit der gestellten Frage wenig zu tun hat. Die n~ihere Ueberlegung und Analyse leh~ dies: hier arbeitet ein Sprachapparat, um die Frage los zu w e r d e n - natiirlich unbewusst! ~ , um nicht zu versagen. Das ,Getede" erweckt im Kranken das Gefiitd einer erledigenden Antwort: wir haben ja schon eine Reihe von Beispielen kennen gelernt, die ebenfalls hierher geh6ren. Da die Zeit dr~ingt, bin ich gen~tigt, unvermittelt zur Psychologie und Pathologie der S p r a c h e ~) tiberzugehen, und zwar m ~ h t e ich Sie auch hier nicht mit historischen und problemgeschichtlichen Fragen aufhalten, sondern davon ausgehen, was flit verschiedene Erscheinungsweisen und -forrnen der Sprachleistungen wir bereits im Alltage antreffen. Das ist zwar etwas grobe Empirie; aber auf dem Sprachgebiete scheint sie mir sogar einen besseren Ausgangspunkt abzugeben, als theoretische Er5rterungen. Jeder weiss aus Erfahrung, dass un~ das Sprechen zuweilen schwerer und zuweilen leichter f~llt. Ich denke dabei zun~ichst nicht an die Bedeutung des Gesprochenev, sondern an das Sprechen als somhes. Der Sprechapparat kommt bald 1) Vgl. zum folg. besonders: ~. Gelb, Journ. de Psychol. norm. et path gl. XXXe. Ann6e, p. 403. Acta Psychologica III

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leichter, bald schwerer in Gang. Auf welche Weise ist nun unser Sprechapparat am leichtesten in Gang zu bringen? Zweifellos-beim Lesen, beim lauten Vorlesent Wortbilder 10sen unseren Sprechapparat am leichtesten aus. Zwar ist das Lesen erlernt, erworben, doch trotzdem vermag ein Wortbild wie automatisch den sprechmotorischen Apparat in Bewegung zu setzen. Ich gehe z.B. in Gedanken versunken auf der Strasse, und pl~tzlich spreche ich ein Wort aus, ohne zu wissen, woher es mir kam. Dann drehe ich micb um und sehe, das Wort steht auf einem Schilde, an dem ich achtlos vorbeigegangen war. Am deutlichsten dafiir, dass Wortbilder das Sprechen am ehesten ausl/~sen, spricht die Tatsache, dass wir vorlesen k6nnen, sogar mit einem bestimmten Ausdruck, und dabei an etwas ganz anderes zu denken verm~gen. Natiirlich k6nnen wit dann nicht den Sinn, nicht die Bedeutung des Gelesenen verstehen, abet dass iiberhaupt das Sprechen dabei so glatt vor sich geht, ist bereits merkwiirdig genug. Das Lesen, di~e erworbene T~itigkeit, automatisiert sich bei uns in dem Masse, dass es sich losl/Sst von allem iibrigen Geschehen im Zentralnervensystem. Die Pathologie kennt Sprachgest6rte - - ich habe derer zwei in pr~ignanter Form gesehen - - , die von selbst iiberhanpt nicht sprechen k6nnen. Sie sagen nicht einmal ,,ja" und ,,nein", sie antworten auch nicht, aber wenn man ihnen ein Buch gibt, dann lesen sie laut wie Gesunde vor, natiirlich ohne zu verstehen, was sie gelesen haben. Derartige Kranke haben iiberhaupt nicht mehr die F'dhigkeit, von sich aus den motorischen Sprech.. apparat in Bewegung zu setzen; sie leiden gewissermassen an einer pathologischen Sprechfaulheit. Trotzdem die leichte Reaktion auf Wortbilder! Es geht hier um e'~~, Symptom der sog. transkortikalen motorischen Aphasie. Diese St,)rung kommt auch in leichteren Formen vor; man beobachtet sie bei Kranken, die mit dem Sprechen schwer beginnen, aber, in bestimmte S~itze hineingerutscht, ziemlich gel~iufig sprechen. Diese Kranken k6nhen z.B. nicht anfangen, zu z~ihlen. Aber wenn man ihnen fiber den Anfang hinweghilft, dann geht es. Aucb Affekte bringen mitunter den Sprechapparat leicht in Gang. Wenn ein Mensch flucht oder zornig ist, kommt es zum ungehemmten Aussprechen vou Worten oder S~itzen. Wir entladen dann Affekte mit der Sprache. Es ist infolgedessen zu erwarren, dass es Sprachgest0rte geben muss, die schwer sprechen k0nnen, aber im Affekt sogar einige S~itze ferti~ bringen. Die Er-

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iahrung best/itigt alas. Also Wortbilder und Affekte sind die leichtesten Anreger fiir den Sprechapparat. Einen stgrkeren Impuls erfordert bereits die sogenazmte ,,reaktive Sprache". Darunter versteht man die Sprachleistungen in Form von Antworten auf gew6hnliche Fragen, und iiberhaupt ein Operieren mit der Sprache in lebendigen Situationen. Von der reaktiven Sprache ist die sogenannte Spontansprache zu ~rennen, die eine wieder gri~ssere Initiative erfordert; aber eine scharfe Grenze gegeniiber der reaktiven Sprache ist oft kaum zu ziehen. Die Spontaneit~it kommt besonders beim Anfangen, beim Beginn eines Berichtes, einer Erz/ihlung usw. in Betracht. Noch ~ h r vie1 mehr Initiative und ,,Bewusstsein" abet verlangt das ,Nachspreclaen". GewiShnlich glaubt der Laie, class Nachsprechen leicht sei, leichter als ,,Spontansprache". Das ist ein Irrtum. Ein N'achsprechen im strengen Sinne ist sogar kaum m/Sglich, so schwer ist es; ich meine daa strenge Nachahmen, das ,,echte" Ko~,,ieren. Wenn ich Ihnen jetzt die Aufgabe stelle, den Laut ,,O' nachzusprechen, so wird jeder von Ihnen das O auf eigene Weise aussprechen, nicht mein O, sondem sein O. Das ist kein ,,Nachsprechen", sondem ein ,,Spontansprechen" auf eine bestimmte Aufforderung hinl Nur in ganz schweren pathologischen F~illen, z.B. bei tier Paralyse, gibt es etwas, was man in der Klinik ,Echolalie" gen~Lnnt hat. Dann spricht tier Kranke ohne Sinn das ,,nach", was sein Ohr hi~rt. Die Dialektunterschiede verschwinden fast, und der Kranke gibt wie ein ,,physikalischer Apparat", wie ein Phonograph das wieder, was er htirt. Wie gross die Anforderung ist, die das Nachsprechen an den Sprechapparat stellt, zeigt die Himpathologie wieder ausserordentlich deutlich. Es gibt SprachgestiSrte (,,Aphasische"), die in der lebendigen Konversation noch ganz gut sprechen k6nnen und dabei Worte benutzen, die sic isoliert, auf das Kommando hin, nachzusprechen, nicht herausbekommen. Ein bestimmter Kranker hat z.B. soeben dartiber berichtet, dass er auf dem Versorgungsamte war. Wenn man unmittelbar darauf den Kranken auffordert, das Wort ,,Versorgungsamt" jetzt fiir sich aUein nachzusprechen, so gelingt ihm das nicht. Er versucht.es zwar, aber es kommt ein verstiimmeltes Lautgebflde zustande, zuweilen sogar ein ,,Lautsalat'. Und dabei waren doch nur Bruchtefle einer Minute vergangen, seit er das,,gleiche" Wort im Zusammenhange seines Berichtes ohne Stocken ausgesprochen hatte! Auch wenn

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man bestimmte Apha.~sche nicht einzelne Worte, sondern ganze Siitze nachzusprechen auffordert, z.B." ,l'}raussen scheint die Sonne", so weichen sie gem der Auigabe des Nachsprechens aus. Sie sprechen dann nicht nach, sondern bestiitigen gegebenenfalls in Form yon Konversation gewissermassen den Sachverhalt, indem sie etwa sagen: ,,Ja, ja, es ist gutes Wetter heute'. Das abet ist reaktive Sprache! Sie sehen, wie schwer ein wirkliches Nachsprechen ist ! Handelt es sich doch dabei um einen Vorgang, der ohne bewusste Initiative unmSglich ist, w~ihrend die Reaktion des Sprechapparates auf Wortbilder, im Afiekt und in der reaktiven Sprache auch ohne aktueUe Ueberlegung glatt erfolgen kann. WomSglich noch mehr ,,Bewusstsein" und Impuls erfordert oft das sogenannte ,Bezeichnen" einzelner Gegenst~inde und Vorg~inge. Das ist eine der schwierigsten Spracldeistungen Oberhaupt. Und es gibt eine SprachstSrung, deren Hauptsymptom darin besteht, dass die Kranken nicht r~ehr bezeich,~en k5nnen. Bis vor kurzem existierten ganz unzutreffende theoretische Vo~tellungen yon dem Wesen dieser Krankheit. Es handelt sich hierbei n~m]ich nicht um einen EinzelausiaU, sondern urn eine St6rung, bei der eine tiefgreifende Ver~inderung des gesamten Menschen vorliegt. Ich will daher auf dieses Krankheitsbild erst sp~iter eingehen. Ebenso schwer wie das ,,Bezeichnen', oder gar noch schwerer fiir den Sprechapparat, sind absichtlich falsche und unsinnige Aussagen. Absichtlich Unsinn sprechen ist nicht leicht! So vermag kaum ein Aphasischer, der eine Liihmung seiner rechten Extremit~iten davongetragen hat, zu sagen: ,,Ich schreibe not der rechten Hand". Wold abet gelingt ibm derSatz: ,,Ich schreibe mit der linken Hand", weil das in der Tat so ist. Aehnlich verhYt es sich in den F~illen, in denen solche Kranke aufgefordert werden, etwa ein weisses StOck Papier als schwarz zu bezeichnen. Sie lehnen die Aufiorderung ab, mitunter sogar sehr energisch, weil sie der Sachverhalt irritiert. Auch das Vorsprechen de~ Falschen niitzt in solchen F'allen nichts: die Kranken sagen einiach ,,nein" und ziehen sich so vor der Aufgabe, das ,,Falsche" auszusprechen, zuriick. Die bewusste Wilikiir, etwas Falsches zu sagen, etwas zu behaupten, was im Widerspruch steht zu der gegebenen Umwelt, setzt ja Distanz zt~ dieser Umwelt voraus. Und Sie wis~n ja, dass gerade diese den schwerer Hirngesch~idigten fehlt. Wir haben also empirisch verschiedene Spracldeistungen nach

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dem Grade ihrer Schwierigkeit unterschieden. Begonnen mit der leichtesten Sprachreaktion ergibt sich folgende Reihe: Reaktion auf Wortbilder m Reaktion im Affekt - - reaktive Sprache - - sogenannte Spontanspmche - - Nachsprechen - - Bezeichnen - - absichtlich falsche Aussagen. Die Aphasielehre ist in Deutsctdand, in England und wohl auch in anderen Liindem im Umbau begriffen: man lemt, dass man ohne Besinnung auf das umfassende Problem ,,Sprache" nicht recht weiter kommt. Das grosse Werk von Henry Head (,,Aphasia") enthiilt recht viele anregende sprachphilosophische Ueberlegungen. Ich muss aber gestehen; dass mir die Schriften Herders und W. v. Humboldts fiber die Sprache den Zugang zum Verstiindnis der verschiedenen Aphasien mehr erleichtert haben, als die Mehrzalfl medizinisch-klinischer Schriften.

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Ich hatte das letzte Mal rein empirisch verschiedene Sprachleistungen besprochen und sie nach dem Grade der Schwierigkeit unterschieden, mit der der Sprechapparat in Gang gebracht wird. AUe diese Sprachleistungen, vom Lesen bis zu den falschen Aussagen, sind ,,erworben". Aber sie unterscheiden sich im konkreten Einzelfalle dadurch, dass z.B. die Affektsprache automatisch, ,,unbewusst" vor sich geht, dagegen ein wirkliches Nachsprechen und ein Bezeichnen nur mit Absicht, nut mit ,,Bewusstsein" vor sich gehen k6nnen. Und das ist ein wesen tlicher Unterschied. Bezeichnen kann ich nur mit ,,Reflexion". Ich schlage Ihnen zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes einen einfachen Versuch vor. Ich schreibe auf ein Blatt Papier eine ganze Reihe yon W6rtern, etwa 20: ]3riUe, Fenster, usw. Diese W6rtt.'r sind so rasch wie m6glich zu lesen! Auf einem zweiten Blatte befinden sich die Abbildungen yon den betreffenden Gegenstiinden (also eine Abbildung yon einer BriUe, einem Fenster, usw.). Hier sind nun die Abbildungen so rasch wie m6glich zu bezeichnen. Was geht schneUer vor sich ? Das Lesen der W6rter, oder das Benennen der Abbildungen ? Jeder, der die~n Versuch an~teUt, wird sofort merken, dass wir ganz rasch die W6r/er herunterlesen k6nnen, dass wir aber sehr viel mehr Zeit und Anstrengung ben6tigen, um die betreifenden Abbildungen zu bezeichnen.

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Wie soil ich nun bei der Kiirze der Zeit das ungeheuer reichhal. tige Material von Aphasien darsteilen ? Das ist unm~glich. Die in der Litemtur mitgeteilten F~ille sind z.T. sehr unvollkommen analysiert, so dass man kein ldares Bild von den betreffenden Kranken bekommt. Dazu kommt, dass die Theorien, die entwickelt wu~den, gar nicht in erster Linie yon der Empirie diktiert, sondern vielfach am Schreibtisch entstanden waren. Dem berifl~mten Wernicke-Lichtheim'schen Aphasieschema z.B. entspricht kat~m ein einziger ldinischer Fall; das ganze Schema ruht zudem auf Begriffen, die der heutigen Problemlage weder in der a!lgemeinen noch in der speziel!en Sprachpsychologie entsprechen. Und wer, glauben Sie, hat seinemeit rein theoretisch die verschiedenen ,,m~glichen" Aphasien abgeleitet ? Ein Mediziner ? Nein! Die friiheren Hauptabhandlungen dariiber stehen im ,,Archiv fiir systematische Philosophie" und stammen von d em Philosophen Benno Erdmann, der rein spekulativ die verschicdenen M6glichkeiten kombinatorisch erwog und so eine Reihe von ,Aphasien" postulierte, die in der Erfahrung kaum vorkommen. Der Mediziner hat es nicht leicht; er muss den Kranken, den er untersucht, in relativ kurzer Zeit velstehen. Wo soil er den dazu nStigen Begriffsapparat hernehmen ? Bei der Untersuchuvg kann er dcazh nicht, oder wenigstens nut in den seltensten F~en, zugleich Forscher sein, d.h. theoretisch erkennend vorgehen. Es i~t daher gew~hnlich so, dass namentlich auf den Grenzgebieten, wozu ganz gewiss auch die Sprachpathologie geh~rt, Begriffe verwendet werden, die vieliach gar nicht dem Untersuchungsmaterial selbst mugepasst sind. Die benutzten Begriffe entstammen vielmehr zeitgen~ssischen allgemeinen Vorstellungen und Thec~remen und werden einfach auf das Neuland iibertragen. So ist die klassische Aphasielehre nicht so sehr ein Produkt der Empirie als ein Erzeu~is der damaligen, heute als ganz unzutreffend erkannten Psychologie. Es ist aber nicht allein mit der Sprachpathologie so gewesen! Nicht wesent]ich anders ist es z.B Sigmund Freud bei seiner Theoriebildung ergangen. Ueberw~iltigt von den neuen intere~mnten Ph~uomenen und Befunden, presst Freud ihnen einen Begriifsapparat auf, der keineswegs von dem Material gefordert war, sondern ein recht wilder Niederschlag entwicldungsmechanistischer (darwinistischer), assoziationspsychologischer, Herbart'scher und anderer Gedankeng~ge ist. Damit

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war das wertvoUe Beobachtungsmaterial eigentlich get6tet; aber zum Gliick ist ja das WertvoUe an Freud nicht die Theorie, sondern das bedeutende intuitiv-psychologische K0nuen. Nun aber zum Material selbst! Ich gehe vonder bekannten, Ihnen fast selbstverst~indiichen Unterscheidung aus, dass es einreal St0rungen des Sprachverst~tdnisses gibt und ferner S t ~ rungen des Sprechens, des Sprechaktes. Man spricht in dem einen FaUe yon ,,sensorischer", im anderen von ,,motorischer Aphasie". Diese Trenmmg in ,,motorische" und ,sensorische" Sprachleistungen ist eine nur recht grobe. Ein Kranker mit einer echten ,,motorischen Aphasie" ist, wie die Erfahrung lehrt, in der fiberwiegenden Mehrzahl der F~lle nicht in der Lage, einem Vortrag zu folgen, oder einer l~/.ngerenUnterhaltung auch nur passiv rnitVerst~indnis zuzuh0ren. Der Kranke mit einer ,,echten", ,,motorischen Aphasie" hat also auch, wie Sie sehen, StSrungen ,,sensorischer" Natur. Es gibt bier nun scheinbare ,,Ausnahrnen"; von einer solchen mbchte ich jetzt ausgehen. " Ich habe einen Offizier als Patienten kennen gelemt, der im Kriege bereits 1914 linksseitig am Stirnhirn verwundet wurde. Er kam nach voUendeter chirurgischer Behandlung zu uns nach Frankfurt und konnte absolut nicht sprechen, ja er konnte nicht den einfachsten Laut ~iussem, selbstverst~indlich konnte er auC~ nicht laut lesen; seiu Sprechapparat war vollst~indig zerst6rt. Trot2dem laser - - er war Gymnasiallehrer, Altphilologe von Beruf-leise ffir sich die schwierigsten philosophischen Bficher mit sichtlichem Verst~indnis! Nach Verlauf von einigen Monaten fing der Kranke wieder an, die de':~sche Sprache zu ~,~rechen. Er erzielte das mit einer ungeheuren Anstrengung, und zwar, ~dem er einen merkwiirdigen Umweg dazu benutzte. Er hat die Muttersprache wiedererlernt fiber die lateinischeSprache und Grammatik! Was liegthiervor ? Ist das eine Sprachst6mng irnstrengen Wortsinne ? Das Wort ,,Sprache" ist im Deutschen vieldeutig, uns fehlt da eine sprachlogische Unterscheidung. Der Franzose unterscheidet zweierlei: ,!a langue" und ,,lelangage", und das logisch rait Recht. W a s bei unserem Gymnasiallehrer gest0rt ist,ist der/iussere motorische Sprechapparat; dagegen ist Sprache im Sinne von ,,langage" bei ihm erhalten. Dementsprechend b e m m m t sich dieser Mann wie ein vollwert~ger Mensch, der mit einer sehr aufreibenden St6rung zu k~impfen hat. Er gibt die ganze Zeit zu verstehen, wie er leidet, dass er nicht laut sprechen kann, liest

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aber dabei die schwierigste Literatur und lemt die eigene Sprache fiber das Lateinische ! Der periphere Sprechapparat war (lurch die Kopfverletzung schwer gesch/idigt. Um diesen wieder in Gang zu bringen, musste de:r Kranke zu einer besonderen Anregung~ zu einem besonderen :hnpuls greifen. Weiche Sprache aber diirfte einen mehr rationa2Len Charakter haben und damit einen energ/scheren Impuls abgeben, den i~dierten Apparat wieder in G~ng zu bringen, die Muttersprache, oder eine fremde, gar eine ,tote" Sprache ? Natiirlich eine fremde Sprache ! Denn die Muttersprache sprechen wir ,,automatisch", ohne ,Reflexion", und darum geniigt sie nicht fiir die Innervation des ]/idierten Apparates. Eine fremde Sprache dagegen, die ich wenig ,,beherr.sche", crier gar eine tot~.~ Sprache, wie das Lateinische ~ Sprachen also, d/e wir nur mit Ueberlegung und wiUentlich benutzen --- eine solche fremde Sprache liefert demzerstiSrtenApparst eine st~irkereAnregung. Jetztverstehen Sie, warum der Kranke diesen ungeheuren, aber auc:l erfolgreichela Umweg gegangen ist, auf dem er innerhalb yon 4-5 Monaten leidlich sprechen lernte, so dass er schliesslich ~inen Schuldienst wieder aufnehmen konnte. D:iese bier aufgebrachte ]Energie ist nattirlich mit seelischem Leid trod Kampf verbunden, aber wir haben eben in diesem Kranken einen voUwertigen Menschen vor uns, tier sich seiner St/3rung bewusst ist. Die anderen Hirnverletzten, die ihre St6rung rdcht kennen, w ~ e n radikal verloren, wenn sie zu ihrer GrundstSrtmg eine Sprachst6rung der eben geschilderten Art bekgraen. Diese Form ~iusserer Sprachst6rung, die auch ich nicht gem als ,,Aphasie" bezeichnen m ~ h t e , hat dex Franzose Pierre Marie als ,Anarthrie" bezeichnet. Ich habe ausser dem geschilderten noch zwei/ihnliche derartige Kranke gesehen; von ilmen war einer ebenfans ein Lehrer, der nach einer ,,Kopfgrippe" eine Sprechst6rung bekommen hatte. Als ich den mir persSrtlich bekannten Kranken besuchte, w~ihrend er noch im Bette lag, sprach er reich franz6sisch an. ,Nanu", sagte ich, ,,das pflegen wir doch sonst nicht zu tun !" Darauf gab er ganz eigenartige Laute von sich, die nach englischer, sic.her nicht nach deutscher Sprache klangen. Auch dieser Kranke suchte nun mit allen Kr~iften seinen Sprechapparat wieder in Ordnung zu bringen, und auch bier war mit Energie und WoUen etwas zu erreichen. Mit tier Anarthrie wollen wir uns nicht lgnger aufhalten. Ich habe sie erw~itmt, zun~ichst um zu erklaren, wie es m6glich ist, dass die Muttersprache eher eingebiisst wird, eher ,,verloren"

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geht als eine fremde Sprache. Die Sprache im Sinne yon ,,langage'" war ia bei den env~Jmten F~iJlen gar nicht verloren! Nut ~iusserIJh war dm~ Sprechen unmSglich geworden. Ferner ist diese Anarthrie ffir uns theoretisch von Bedeutung, well sie wohl den extremsten Gegensatz bildet zu derjenigen SprachstSrung, bei der ein Kranker untcr bestimmten Ums t~nden sehr viel und fliessend sprechen kann und doch eine ,,Aphasie" hat. Einen solchen Fall haben wir ja bereits ausfiihrlicher besprochen! Es ist jener agnostische Kranke, der in lebendigen Situationen ,,reaktiv" viel spricht, der aber die Muttersprache nur als Material zum konkreten Handeln kennt, ohne willentlich und wissentlich auf die einzelnen S~itze gerichtet sein zu kSnnen. Dieser Patient, der auf das Kommando ,,Ehrenbezeugung" hin den milit~irischenGruss ausfiihrt, aber auf das Kommando ,,Milit~irischer Gruss" hin versagt, der aul~die Frage ,,Woher kommen die WeUen ?" antwortet: ,,Es murmeln die WeUen, es s~iuselt der Wind", - - dieser Kranke ist, sprachpathologisch betrachtet, der Antipo~le des Kranken rnit Anarthrie. W~ihrend j ener Gymnasiallehrer mit Anarthrie bewusst, aber auch nut bewusst den Sprechapparat wieder zu innel-rieren gelernt hat, vermag der andere Patient gerade nicht mehr ,,bewusst", mit ,,Absicht", mit ,,Reflexion" Sprache einzusetzen. Zu den beiden eben genannten Extremen nenne ich jetzt eine dritte Form der SprachstSrung, bei der ein Kranker in seinem Grundverha~ten zu=Umwelt so ver~ndert ist, dass er Sprache vielfach nicht mehr benStigt und darum auch nk ht spricht. Em solcher Kranker wird in dem Sinne ,,primitiv", dass er mit den Dingender Umwelt nur noch praktisch umgeht, aber keine theoretisch-erkennende Haltung ihnen gegeniiber einnimmt. An diesem Typus kann man besonders gut erkennen, welche Bedeutung die ,,Sprache" im Leben des Menschen hat. A~ch hier gibt es natiirlich leichtere und schwerere F/ille. Die Aphasieform dieses dritten Typus tr~igt nach meiner Meinung bis heute leider einen falschen Namen. Man nennt sie ,,amnestische Aphasie", nachdem der Franzose Pitres seinerzeff den Ausdruck ,,aphasJe amn6sique" gepr/igt hatte. Aber mit ,,Amnesie", also mit ,,Ged~ichtnisst~.rung" hat man es hier nieht zu tun ! Das scheint nur so, solange man das Benehmen der Kranken ganz /iussedich beobachtet. Man zeigt derartigen Kranken z.B. einen Schwamm und fragt: ,,Was ist das ?" Grosse Verlegenheit, Kratzen am Kopfe; es erfolgt darauf zuweilen die Antwort: ,,So ein Ding zum Wischen", und es folgt

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wohl auch ein richtiges Hantie,-~n mit dem Gegenstand. Aber das Wort ,,Schwamm", als Bezeichnung, stellt sich nicht ein. Spricht man jetzt dem Kranken verschiedene Worte zur Auswahl vor, etwa: ,,Nun, ist das ein Handschuh? ein Messer?" usw., so werden alle falschen Bezeichnungen prompt abgelehnt. Bei dem richtigen Worte ,,Schwamm" aber schnappt der Kranke sichtlich erfreut zustimmend ein und nfft: ,,Ja, ja, natiirlich Schwamm!" Wiederholt man nun nach einigen Sekunden (!) dieselbe Frage, so versagt der Kranke genan wie beim ersten Mal. Bei schweren F/illen 1/isst sich das beliebig oft wiederholen. Ein solches Verhalten sieht zun/ichst nach ,,Ged/ichtnisst6rung" aus, so, als ob die Worte ,,vergessen" seien. Dieser Auffassung war ich seinerzeit 1915 auch; und so suchte ich einem Kranken dieser Art,~und zwar einem besonders schweren Fall, die Muttersprache wieder beizubringen. Ich versuchte das hi der Form, wie man einem Schulkinde eine Fremdsprache beibringt, mit VokabeUernen, usw. V6Uiger Misserfo|g! Der Kranke brachte es nach Monaten nicht fiber 60 neuc Worte! Und nun sah ich bald ein: Hier muss eine St6rung vorliegen, die das Wiedererlernen der Worte yon Grund aus unmbglich macht ! Weicher Art mag diese St6rung nun sein ? Lassen wit, wie wit es schon oft taten, die Pathologie einen Augenblick bei~ite und sehen wit zu0 ob es im Leben des Gesunden nicht auch vorkommt, dass dieser nach Worten sucht und diese nicht findet. Wenn jemand, mfide oder erschSpft, nach einem Gegenstand (z.B. einem Schwamm) greifen will, den er nicht erreichen kann, so sagt er oft genug: ,,Ach, gib mir doch das Ding da her". Und fragt der andere daraufhin" ,,Was denn fiir ein Ding ?", so erhglt er wom6glich zur Antwort: ,,Nun, dieses Ding zum Wischen" - - wieder ohne Nennung des Wortes ,,Schwamm". Hier benimmt sich der Gesunde also eigentlich wie ein AmnestischAphasischer ! Wir wollen nun zun~ichst versuchen, uns in die Rolle des ermiideten Gesunden zu versetzen und diese ph~inomenologisch zu verstehen. Wenn mir ein Wort fehlt, etwa das Wort ,,Schwamm", und ich sage: ,,Gib das Ding da", oder das ,,Ding zum Wischen", so will ich doch gewiss rdcht zu verstehen geben, dass der betreffende. Gegenstand unter den A~igemeinbegriff ,,Ding" f/illt. Solche grammatikalisch-logischen Gesichtspunkte sind dabei ~ahAich nicht im Spiele! Ganz ira Gegenteil! Ich bin ganz konkret auf den praktischen Gebrauch des betreffenden Gegen-

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standes eingestellt, ja dermassen konkret und nut praktisch hantierend, dass die Bezeichnung ,Schwamm" v0Uig unwesentlich wird. Und was bedeutet das? Das bedeutet nicht, dass ich das Wort ,,vergessen" h/itte, sondem dass ich dem Ding so nahe geriickt bin, in einem so unmittelbaren, man m0chte sagen intimen Verh~iltnis dazu stehe, dass alles ,,Rationale", wozu auch die Bezeichnung geh0rt, verschwindet. Ich bin jetzt im strengen Sinne des Wortes ,sprachlos". Ueberm/issige Affekte (Schauer, intensiver Schreck, etc.) bew/rken einen/ihnlichen Zustand. Worauf es theoretisch in all diesea F~Llen ankommt, ist dies: wir k.~mlen nicht bei beliebigem Vechalten zur Umwelt Worte a!s ,,Bezeichnungen" verwenden, sondern nur dann, wenn wir ein mehr theoretisch-erkennendes Verhalten ihr gegeniiber einnehmen. Ist dieses Verhalten und die M0glichkeit dazu ausgeschaltet, bei Gesunden zuweilen durch starke Ermiidung, oder aber dauernd durch Krankheit, so bleibt nur noch die Ausdruckssprache und reaktive Sprache erhalten, nicht aber das rationale, an ,,Reflexion" gebundene ,Bezeichnen". Ganz im Sinne dieser Dcutung erkl/irt sich folgende, nicht selten vorkommende Eigentiimlichkeit ,,amnestisch-apho.sischer" Kranker: ein Wort, welches sie als ,,Bezeichnung" n icht zur Verfiigung haben, kann ihnen als Bestandteil ihrer reaktiven Sprache erhalten geblieben sein. So verstehen w i r e s jetzt, wie ein Kranker, nach der Bezeichnung bspw. des Schwammes gefragt, in Verlegenheit ger~it und dabei ausrufen kann: ,,Herr Doktor, ich weiss wieder nicht, wie der Schwamm heisst !" Die ,,amnestische Aphas:ie" ist also keine ,,Amnesie". Das Fehlen der Worte als Bezeichnungen ist kein Einzelausfall, sondern ein Symptom fiir eine viel tiefgehendere Ver/inderung des Menschen, die wir dahin charakterisiert haben, dass wir sagten: der Kranke biisst die Fiihigkeit ein, die Umwelt reflektierend zu betrachten, er wird zu einem unmittelbar praktisch hantierenden Lebewesen. Sprache in einem rat~onaleren Sinne ist also nur bei einern bestimmten Grundverhalten des Menschen zur Umwelt m6glich. Diese rationalere Sprache nannte Herder die ,,Sprache der Freiheit", im Gegensatz zu der ,,t0nenden" Ausdruckssprache. Und wenn der Philosoph Ludwig Feuerbach einmal sagt: ,,Das Wort macht den Menschen frei; wer sich nicht /iussern kann, ist ein Sklav", so ist I tit jener Freiheit die distr, nziert rationale Haltung

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zur Umwelt gemeint, mit dem Sklaventum aber eine Art Verstricktsein in die Umwelt, bei der man eben ,,spraclfllos" wird. Und es ist wieder ein verwandter Gedanke, den Schiller in seinen Briefen ,,0ber die ~thetische Erziehung des Menschen" zum Ausdruck bringt: ,,Die Betrachtung (,Reflexion") ist das erste liberale Verh~iltnis des Menschen zum Weltall, das ihn umgibt Wenn die Begierde ihren Gegenstand unnfittelbar er~reift, so riickt die Betrachtung den ihrigen in die Feme und macht ihn eben dadurch zu ihrem wahren und unverlierbaren Eigentum, dass sie ilm vor der Leidenschaft fliichtet". (25. Brief). Ich halte es for unbedingt erforderlich, derartige allgemeine Betrachtungen an die Darstellung der Aphasie zu kniipfen. Denn nut eine umfassendere Besinnung l~sst uns erkennen, warum Tiere nut ,t0nende Sprache" haben, und weshalb ihnen for die ,,Sprache der Freiheit" jeglicher Ansatz fehlt. Tierische Begierde ,,ergreift" eben immer ihren Gegenstand ,unmittelbar", und es fehlt dem Tiere die ,Betrachtung', die den Gegenstand ,,in die Ferne riickt". Abet erst mit diesem ,liberalen" Verh~Itnis zur Umwelt steUt sich Sprache im h0heren und eigentlichen Sinne ein. Die weitaus h~iuligste Sprachinsuffizienz, die wit bei bestimmten I'~imverietzungen antreffen, ist die sogenannte motorische Apha~ie. Wie ich schon sagte, tritt sie (wenn es sich nicht um eine A n a ~ r i e handelt, sondern um eine echte motorische Aphasie) in Verbindung mit einer St0rung des Sprachverst~indnisses und einer St0rung des Lesens und Schreibens auf. (Diese Lesest0rung ist natiirlich grunds~tzlich anderer Art als die optische Alexie, die wir haupts~ichlich im 3. und 4. Vortrage behandelten; bier meinen wit Lesest0mngen, die dutch eine motorische Aphasie bedingt sind). Die motorische Aphasie kann mehr peripheren und mehr zentralen Ursprunges sein. Je peripherer sie ist, umso ~hnlicher wird sie in ihren Symptomen der Anarthrie, und umso bes.~er pflegen dementsprechend die h0heren intellektueUen Vorgiinge erhalten zu bleiben. Man kann auch sagen: je peripherer die motorische Aphasie ist, umso mehr tr~igt sie den lokalen, umschriebenen Charakter einer blossen Sprachst0rung; umso mehr bleibt also der ganze Mensch yon friiher erhalten. Umgekehrt liegen die Verh'~Itnisse bei der ,zentralen Aphasie". Je zentraler diese ist, umso mehr verliert sie den spez'dischen Charakter einer blossen Sprachst0rung; diese wird dann immer mehr ein Spezialausdmck einer

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Grundver'gnderung, die auf den verschiedensten Gebieten in strukturanMoger Weise auftritt. Sie werden jetzt folgende Symptome ohne weiteres verstehen: je peripherer die motorische Aphasie ist, umso mehr versagt der Kranke mit seiner Sprache gerade in lebendigen Situationen, denn nur willenthch und bewusst k~mn er etwas einigermassen sagen und sprechen. So ist bei solchen Kranken das Nachsprechen, weil es ¢ine bewusste Sprachleistung ~st, besser erhalten als die reaktive Sprache oder etwa das Le.,en. :!e zentrMer dagegen die motorische Aphasie ist, umso eher k2,nnen die Kranken reaktiv sprechen; aber das Nachsprechen, alas Bezeichnen, absichtlich falsche Aussagen, etc. - - das alles ist gerade gest0rt. Ich kann hier nicht n~iher auf Einzelheiten eingehen und muss mich mit diesen mehr schematischen Gedankeng~ingen begniigen. Nur zweierlei m ~ h t e ich noch erw~ihnen. Zuerst die sogen. Paraphasie. Ist die motorische Aphasie nicht zu zentral bedingt, so sprechen die Kranken vielfach Worte versttimmelt aus. Sie strengen sich beim Nachsprechen an z.B., das Wort ,,Artilleriekaserne" herauszubringen, aber es kommt nur ein verstiimmekes Lautgebilde zustande. Man hat diese sogenannte hterare Paraphasie friiher durch die Annahme zu erkl~ren versucht, dass den Kranken die sog. ,,motorischen Wortvorstellungen" verloren gegangen seien. Man ring also v o n d e r Voraussetzung aus, dass das richtige Sprechen eines Wortes sich nach der inneren Vorstellung richtet, die wir uns yon dem motorischen Hergange beim Sprechen angeblich bildcn. Ist das so, dann muss in der Tat mit dem Verlust oder mit der Beeintr/ichtigung der motorischen WortvorsteLlungen das Sprechen nicht mehr richtig vor sich gehen k6nnen. Indessen diese Theorie geh6rt zu den ungliicklichsten Konstruktionen der Aphasielehre! Wenn an den motorischen Wortvorstellungen etwas richtiges ist, so nur dann, wenn man den Sachverhalt um 180° herumdreht. Die hterare Paraphasie entsteht gerade dadurch, dass Kranke, die nicht mehr schlicht und naiv sprechen k6nnen, versachen, sich eine motorische Wortvorstellung als Hilfe, als Muster zu bilden. Die Wortverstiirmnelung ist also gerade die Folge des Bemiihens, nach motorischen Wortvorstellungen zu sprechen. Versuchen Sie einmal, so vorzugehen !.Auch Sie ~erden dann paraphasisch 1 Von der literaren ist streng die verbale Paraphasie zu scheiden, bei der der Kranke ein Wort ftir ein anderes setzt, z.B. fiir ,,Kit-

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che" ,,Gott" sagt, also ein anderes Wort aus der gleichen Sph~ire benutzt. Diese verbale Paraphasie ist ein Symptom einer sehr zentralen SprachstSrung, auf die ich hier nicht n~iher eingehen kann. Wenigstens ganz fliichtig m~chte ich noch auf die Lese- und Schreibst6rungen der Motorisch-Aphasischen eingehen. Es diirfte nach allem, was ich vorbrachte, wolff ohne n~ihere Erl~iutemng klar sein, dass bewusstes Schreiben und bewusstes Lesen ~ dazu geh6ren in erster Linie das buchstabierende Schreiben und das~buchstabierende (bzw. syllabierende) Lesen - - umso eher erhalten b~eiben, je peripherer die St6mng verursacht ist. So, wie dabei das Nachsprechen als die rationalere Leistung solchen Kranken einzig noch m6glich ist, so muss fiir sie auch beim Schreiben und Lesen die intellektuellere Leistung den einzigen Weg bilden, auf dem sie zu einem - - wenn auch diiritigen - - Lesen und Schreiben kommen. Je zentraleren Ursprun~;~s dagegen die Aphasie ist, umso eher bleibt noch alas naive und schlichte Lesen und Schreiben erhalten; also es bleibt hier eher die mehr reaktive, die unmittelbare Verhaltensweise in lebendigen Situationen. Ganz im Eink!ange damit steht die Tatsache, dass diese Kranken - - gerade im Gegen~;atz zu jenen mit der peripheren Aphasie - - nicht mehr buchstabieren k6nnen. Sie sc1-reiben und lesen zwar unter Umst/inden ganze Worte richtig, sind aber nicht in der Lage, die Buchstaben einzeln niederzuschreiben oder zu lesen, die in dem betreffenden Woxte vorkommen. Sie schreiben und lesen fliessend bspw. das VYort ,,Frankfurt", k6nnen aber weder ,,r' noch ,,r" als einzelne L:mte lesen oder schreiben. Erscheint das nicht paradox ? Besteht denn Frankfurt nicht aus IF, r, a, usw. ? Besteht denn Lund nicht aus L, u, n, d ? J a und nein! Als lebendiges Wort, als ein Wort also, das einen Bestandteil unserer reaktiven Sprache bildet, beginnt Frankiurt weder mit F noch Lund mit L, wohl aber beginnt Frankfurt mit F u n d Lund mit L, wenn wir an Stelle des lebendigen und sinnerfiillten Wortes das entsprechende mehr abstrakte und sinnleere Lautgebilde setzen. Das Buchstabieren und Lautieren kann eben erst in dem Augenblicke begriifen und voUzogen werden, in dem der Uebergang vom lebendigen Wort zum Schallgebilde stattgefunden hat, ein Uebergang h/ichst intellektueller, abstrakter Natur! Beim zentral Aphasischen, dem, wie gesagt, nur noch die reaktive Sprache zur Verfiigung steht, ist jener rationale Uebergang vom lebendigen Wort zum abstrakten Lautgebilde unm/~glich oder

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so erschwert, dass er nicht mehr buchstabieren und lautieren kann. Wieder zeigt bier die Pathologie eku Symptom in vergrSssertem Masstabe, das uns auch sonst nicht unbekannt ist. Einem ~ilteren Analphabeten ist es kaum noch mSglich, das Lesen und Schreiben zu erlernen. Er steckt so tier in der lebendigen Umgangssprache, dass jener eben besprochene Uebergang kaum noch gelingt. (Ich habe dariiber persSnliche Erfahrungen aus dem Vorkriegsrussland.) Und das ,Spielkind" muss erst ,,Schulkind" werden, um Buchstabieren und Lautieren zu lernen. Ohne eine|gewisse Reife in der Abstraktion ist das nicht mSglich. Ich glaube, auch die ,,angeborene Leseschw~iche" auf diese Weise am besten erkl~iren zu kSnnen. Es gibt gar nicht so wenige Kinder, die sehr schwer lesen lernen; mitunter dauert die Lese.schw~iche bis in die Pubert~it hinein..]eder beobachtende Volks.. schullehrer weiss dariiber zu berichten, aber nut wenige von ihnen entgehen dem Irrtum, solche Kinder einfach als ,,durum" abzustempeln. Die wissenschaftliche Beobachtung ergab und zeigt immer wieder aufs Neue, dass solche Kinder lediglich nicht buchstabieren kbnnen, und zwar nach meiner Meinung aus den vorhin angegebenen Griinden. Weder eine ,kongenitale Wortblindheit" liegt hier vor, wie man geglaubt, noch sonst eine Alexie, sondern einfach die Erschwerung, aus der lebendigen Sprache heraustre.ten zu kSnnen. Charakteristisch ist auch, dass solche Kinder Worteals Ganzes recht gut lesen k6nnen, aber nicht ihre einzelnen Laute. Schreibt man ein Mal ,,Vater", ein anderes Mal,,Vatre" an die T~del, so liest ein solches Kind beide Male ,,Vater" und ist meistens auch nicht in der Lage, den Fehler zu finden. Das ist ein Symptom, das wir bei zentraleren Aphasien auf Schritt und Tritt beobachten. IX Ich denke, dass es mir trotz der schematiscken Darstellung einigermassen gelungen ist, den Anteil und die Rolle aufzuzeigen, welche die Sprache in ihren verschiedenen Erscheinungsformen fiir den Menschen hat. Neben den ,,primitiveren" Formen der Sprache - - also neben der ,,tSnenden" Affektsprache, neben der ,,wtalen Reaktivsprache --, die das praktische Tun und Handeln des Menschen begleiten und teilweise bestimmen, gibt es jene ,,hSheren" Formen, die mit der theoretisch-erkennenden Hal-

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tung des Menschen im Wesenszusammenhange stehen. Diese Spmche des ,Geistes" ist, wie Wilhelm von Humboldt ausdriicklich darlegte, nicht irgend ein fertiges Ding ncben anaeren Dingen in der Welt, sondern sie ist eine dynamische Funktion, ohne die wit nicht imstande w~en, eine objektive, gegenstgndliche Welt zu denken. In diesem Zusammenhange sagte er, dass die Sprache nicht ,,ergon", sondem ,,energeia" sei. Die Pathologie &~r Sprache liefert eine iiberraschende und wiUkommene Bestiitigtmg dafiir, dass die Humboldtsche Sprachtheotie in ihren letzten Fundamenten und Grundtendenzen zutrifft. Ich mSchte daher das Gebiet der Aphasien nicht verlassen, ohne noch einige instruktive Beobachtungen da~-iibel- zu erw/itn~en, wie sehr bei den zentralen und zentralsten SprachstiSrungen die Kranken nicht mehr begrifflich-gegenstiindlich, sondern unmittelbar tuend eingestellt sind. Ich zeige das an einem sog. Sortierversuch 1). Vor mir auf dem Tische befindet sich eine gr6ssere Anz:~d von heterogensten Gegenstgnden, die wahllos durcheinander liegen. Da~.xmter sind z.B. Kiichengedite, Rauchutensilien, medizinische Instrumente, Spielzeug, usw. Nun bekommt jemand von Ihnen die Aufgabe, diese Gegenstgnde irgendwie zu ,,ordnen", in Gruppen zu ,s0rtieren". Es bleibt ihm iiberlassen, welche Art von ,Ordntmg" er vomehmen will. Jeder yon Ihnen wird diese Aufgabe zu 15sen wissen. Freilich wird das Ordnungsprinzip, wird der Gesichtspunkt, nach dem der Einzelne sortiert, verschieden sein. So wird der eine vielleicht die Gegev.stiinde nach ihrem praktischen Gebrauche sortieren, ein anderer nach ihrem Ma.terial, ein dritter nach ihrer Farbe, usw. Es l~bt eben eine Mannigfaltigkeit yon Ordnungsprinzipien! Aber: ein Or:inen muss nach irgend einem Prinzip, einem Gesichtspunkte erfolgen. Ein Ordnungsprinzip gewinnen, setzt aber voraus, dass man die einzelnen Gegenstiinde a!s Vertreter, als Repr/isentanten einer bestimmten Klasse oder Kategorie ansieht, z.B. Ms Vertreter eines bestimmten Materials (Holz, Glas, Metall, usw.), als Vertreter yon Spielzeug, usw. Hier iiberall handelt es sich um gegenst/indlich-begriffliche Einstellung; man muss von dem individuellen ,So-sein" der Gegenstgnde absehen. Die Pfeife z.B., die vor mir liegt, ist dabei nicht die~ ganz bestimmte, so und :~o beschaffenc Pfeife, sondern ich sehe sie ,als Pfeife iiberhaupt" an, wenn ich sie etwa nach dem Aspekt der ,,Rauchwerkzeuge" ordnen gill. 1) Vgl. hicrzu E. Weigl, Z. Psychol. 103, S. ! f.

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Ich nenne das, die Gegenst~hlde in ihrem ,Als"-Charakter betrachten. Beobachtungen an amnestisch-Aphasischen und ~nderen Kranken mit zentralen Aphasien zeigten nun, dass die Patienten Lm Grunde g~nommen gar nicht sortieren, weil sie nicht, oder nur sehr schwer, ein Or~aungsprinzip gewinnen kSnnen. Sie hantieren zwar mit den Gegenst~h-lden auf dem Tisch, aber nicht nach irgend einem Ordntmgsprinzip, sondern wechselnd und sprunghaft, so wie die Gegenst~nde yon Moment zu Moment konkret zu gebrauchen sind. Ein Beispiel yon vielen wird die Sachlage mehr erhellen als vie]re Worte. Als ich einem Kranken den Sortierversuch klarzuxaaehen versuchte, nahm ich yon den auf dem Tische liegenden Gegenst~iaaden eine Flasche, einen Korkenzieher und ein Glas beiseite und schlug vor, derart eine Gruppe zu bilden, da doch diese Gegenst~iaade besser zusaanmenpassten, als wenn ich start ,des Glases ein Zigarettenetui oder sonst etwas dazu legen wiirde. Der Kranke lelmte meinen Vorschlag ab! Ich verstand sein Verhalten zuniichst nicht m abet'nun erfolgte die Begriindung. Er machte mich darauf aufmerksam, dass die Flasche ,,ja bereits entkorkt" sei, ,,zu was denn also der Korkenzieher ?" Erst in diesem Augenblicke bemerkte ich iiberhaupt, dass der Korken in der Tat um ein bestimmtes Stiickchen aus der Flasche herausstand. Beachten Sie die grundverschiedene Einstellung des Kranken yon meiner eigenen! Ich habe die Gegenst/inde nur in ihrem ,,Als"-Eharakter gesehen, ja in solchem Masse, dass mir das Herausragen des Korkens gar nicht aufgefallen war. Darum hatte es auch fiJr reich einen Sinn, jene Flasche und jenen Korkenzieher in eine Gruppe zu bringen. Umgekehrt beim Kranken! Fiir ihn gab es nur das individueUe ,,So-Sein" der Flasche, des Korkenziehers, usw., und bei dieser EinsteUungsart war es fiir ihn in der Tat sinnlos, die Gegenst/inde nach meinem Prinzip zusammenzulegen. Entsprechend weigerte sich ein anderer Kranker, Streichh61zer zu einer Tabakspfeife zu legen, mit dem Hinweise, in der Pfeife hier w/ire ja kein Tabak ! Die Beispiele diirften das Theoretische klar gemacht ]haben. Man kann mit Gegenst/inden sachlich richtig m ohne Sinnlosigkeiten ---umgehen und doch nicht wissen, ob man nach einem Prinzip und nach welchem Prinzip man dabei vorgeht. Das ist das unmittelbar tuende Verhalten; eine Unmittelbarkeit, die urn sich selbst nicht weiss. Von ,,unbewussten OrdActa Psyehologiea IIl

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nungsprinzipien" wom~glich zu sprechen, w ~ e wide~:~innig. Das Haben eines Ordnungsprinzipes setzt eben ein Wissen urn dasselbe voraus, ein Wissen, welches in einem Wesen:~zusammenhange steht mit jenen ,,h6heren" Formen der Sprache, die W. v. Humboldt, wie ich schon erw~ihnte, als ,,energeia" betrachtete. Die Mediziner mater lhnen werden gewiss die Frage bereit haben, wie denn das, was ich fiber das Verhalten der Hirnverletzten, besonders der Aphasischen vorgebracht habe, zu der Frage nach der ,,Lokalisation im Grosshirn" stehe. Diese Frage nun geh6rt nieht in mein eigentliches Arbeitsgebiet, and ich m ~ h t e hier wesentlich a~f die Arbeiten meines Mitarbeiters und Freundes Kurt Goldstein verweisen, im besonderen auf seine Ausfiihrtmgen fiber die ,,Lokalisation in der Grosstdrnrinde nach den Erf£arungen am kranken Menschen" in Bethe's ,,Handbuch der normalen und pathologisehen Physiologie" (Band 10, 1927). Auch nach meiner Ueberzeugung ist das Lokalisationsproblem nur im engsten Zusammenhange mit einer umiassenden Verhaltensanalyse der Kranken fruchtbar zu fiSrdern. Allerdings nur im Zusammenhange m;,t einer Verhaltensanalyse, die nicht yon hergebrachten und meistens ungepriift hingenommenen Voraussetz,mgen bestimmt ist. Zu solchen Voraussetzungen gehfrt in enter Linie die unzutreffende Vorstellung, dass das Verhalten des Menschen hal konkreten Etazelfalle sich aus einzelnen, mehr oder weniger holierbaren Leistungen zusammensetze, aus Leistungen, die ihrerseits einzelnen somatischen Einrichtungen und Vorggngen im Zentralnervensystem stiickhaft zugeordnet seien. Man kniipft ~ mit ge.. wissem Recht ~ die Sprachleistungen an die sog. ,,Sprachregion", die optisch-gnostischen an die ,,hi~heren" mad ,,hfichsten" ,,Sehzentren", usw. Unsere Analysen zeigten indessen, dass eirt Leistungsgebiet wie das der Sprache hfchst vielschichtig ist. In den einzelnen Sprachleistungen steckt nLmlich, wie wir sahen, bereits der ganze Mensch insofern, als bestimmte Sprachleistungen nur :i~i einer ganz bestimmten Grundeinstellung des Menschen zur Umwelt zustande kommen. Das gilt yon der reaktiven Sprache genau so wie yon den rationaleren Formen wie ,,Bezeichnen"', ,,Nachsprechen", usw. Die reaktive Sprache steht in Wesenskoexistenz mit unmittelbar-tuendem Verhalten, das Bezeichnen aber mit dem theoretisch-erkennenden. Was heisst also Lokalisation ,,der" Sprache ? ,,Die" Sprache ist eine Abstraktion, und keine Realit/it! Die analoge Frage l;4sst sich auch in bezug

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auf gnostisch-optische Leistungen steUen. Wenn ein schlecht gezeichneter Kreis ein Mal Ms ,,Kreis", ein anderes Mal als ,,3chornsteinfegerring" aufgefasst wird, so sprechen wit in beiden Fiillen mit Recht von ,Sehen". Aber die beiden verschiedenen Arten von ,,Sehen" sind nicht beliebig auswechselbar, sondern sie existieren wiederum in verschiedenen Grundeinstellungcn des ganzen Menschen. Was heisst also, optisches Erkennen ,,lokalisieren" ? Wird durch solche Gedanken das Lokalisationsproblem fiir unlSsbar erkl~irt ? Keineswegs! Gerade jetzt erst beginnt es, aber in einer yon Grund aus anderen Form als friiher. Wir haben ja gesehen, dass ein Konkreterwerden der Kranken, dass ein Herabsinken auf weniger rationales, unmittelbar hantierendes Veto halten bei Verietzungen sehr verschiedener Gehirnpartien zustande kommt. Jener optisch agnostische Patient, dernur noch nachfahrend, schreibend zu lesen imstr.nde war, hatte seine Verietzung im linken Hinterhauptslappen, dagegen jener Sprachgest6rte, der Gegenstiinde nicht mehr bezeichnen konnte und, der nicht in der Lage war, die Worte der Muttersprache wieder zu erlernen, hatte seine Verletzung in der sogen, frontalen Sprachregion. Beide Patienten verhielten sich auf den verschiedensten Gebieten nut noch unmittelbar tuend, sie waren also strukturanalog ver~indert. Aber bei dem einen gab es Symptome im ,Optischen" und bei dem anderen im ,,Spraehlichen", die jedesmal nicht zufiillig waren, sondem vom Sitz der Verletzung abhingen. Kurz gesagt: das ,,Konkreterwerden" kann durch die Verletzung sehr verschiedener Grosshirngebiete verursacht sein, aber die Symptome im einzelhen und ihre ,,Gewichtsverteilung" sind je nach der Lage der Verletzung sehr verschieden. Mit diesen Andeutungen muss ich reich bier begniigen. Ich mSchte noch Einiges zum Raumproblem 1) sagen und auch bier die strukturanaloge Veriinderung aufzeigen. Dabei will ich ebenfalls nicht vom Theoretischen ausgehen, sondern yon konkreten Beispielen. Weun sich z.B. eine Miicke auf irgend eitxe Stelle unseres KSrpers setzt, dann greifen wir hin und suchen uns yon dem irritierenden Reize zu befrcien. Wir k6nnen ,,hingreifen", ohne dass wir eine KontroUe fiber diese Handlung ausiiben; ~ir ~un dies mitunter auch im Schlaf. Ft~iher hat mai~.geglaubt, diese ~) Vgl. hterzu: A. Gelb, Ber. IX. Kongr. f. experim. Psychol. Miinchen 1925, S. 23 f. ~FernCr: W. Hochheimer, Z. Psychol. 127, S. 60 f.

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Leistungen h~tten ausschliesslich mit Rfickenmarksfunktionen zu tun - - unter Aussctduss hSherer Zentren - - , in Analogie zu bestimmten Leistungen eines decapitierten Frosches (,,Greilen" mit dem Hinterbein nach dem mit S~iure bestrichenen Riicken). Solche Vorstellungen diirften heute kaum noch als ernst und fruchtbar gewiirdigt werden; die Analogie ist hier v6Uig schief und nur ~iusserlich. Auch die Hirngesch~idigten, selbst die sog. ,,schweren" F~lle, greifen nach juckenden oder sonstwie irritierenden Hantstellen prompt, sofem nicht ~iussere Hindemisse (wie L~hmungen) das Greifen erschweren 1). Der von mir hier ausifihrlicher behandelte agnostische und alektische Kranke grifI nach schmerzenden oder juckenden $tellen sehr gut; wenn man ihn z.B. die Augen schliessen liess und mit einem weichen Pinsel ein Ohr oder die Naze kitzelte, so griif er prompt und richtig an die betr. $telle. Sobald man ihn jedoch fragte: ,Wohin haben Sie eben gegriifen ?", da konnte er keine Antwoi~ geben. ,Vergass" er so rasch ? Keineswegs! Wenn der Kranke mit zugebundenen Augen aui dem Sofa lag, und wenn man eine beliebige Ste!le seines K6rpers berfihrte (Nase, Fusszehe, usw.) so spiirte der Kranke sehr wohl die Beriihrung; er gab das durch ein ,ja, jetzt" zu verstehen. Er konnte aber die Stelle weder mit Worten angeben noch zeigen; er wusste nie, wo man ihn i~eriihrt hatte. Sobald man aber :'Aeder einen irritierenden, etwa leicht schmerzhaiten Reiz anwa'adte, so griff der Kranke wieder richtig und prompt nach der Stelle, ohne zu wissen, wohin. Der Kranke konnte also richtig ,,greifen", aber er konnte nicht ,lokalisieren". In ~hnlicher Weise verhalten sich vielfach Himgescb~idigte, die, wie wir sagten, zu weniger rationalen und dafiir zu unmittelbar-tuenden Menschen geworden skid. Wie ist es m6glich, nach einer K6rperstelle richtig zu greifi.~n und doch nicht in der Lage zu sein, eben jene Stelle anzugeben oder auI sie zu zeigen ? Was fiir ein Unterschied besteht denn zwischen ,,greifen" und ,,lokalisieren"? Ist denn das Hingreifen etwa nicht bloss ein rasches, ein unwillkfirlich gewordenes Hinzeigen bzw. Lokalisieren ? Gerade das ist es eben nicht! Friiher war man allerdings der Ansicht, dass zwischen ,,greifen" und ,,lokalisieren" kein wesentlicher, sondern nur ein gradueller Untert) Vgl. aueh: K. Goldstein, Ueber Zeigen u. Greifen0 Der Nervenarzt 4 (1931), S. 453 f.

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schied bestiinde; diese Ansieht vertrat z.B. Henri in seiner Schrift iiber den Tastmum. Wir miissen diese Anschauung unbedingt ablehnen. Beachten Sie, class das Hingreifen eine vitale, unmittelbare Reaktionsform ist, die nicht nur ein Wissen um das Tun entbehren kann, sondern ein solches Wissen geradezu ausschliesst. Sobald wir n~imlich das Hingreifen bewusst auszufiihren versuchen, hSrt die Handlung auf, ein echtes Hingreifen zu sein. Wie primitiv und vital das Hingreifen ist, etwa nac:h einer schmerzhaffen Stelle, zeigt auch die Beobachtung tierischen Verhaltens. Wie rasch sucht ein Tier, wenn irgend miSglich, sich der verletzten KiSrperstelle zuzuwenden durch Zuschnappen, Lecken, usw. ! Aber Sie haben gewiss noch nie era. Tier beobachtet, das nach der verletzten SteUe zeigte. Beim Menschenkinde entwickelt sich das Hingreifen, das Zupacken viel friiher als das Zeigen nach dem ,,Wo". Schon das beweist, class Greifen kein rasch gewordenes geigen ist. Nur der reifc.~re Menschkann zeigen, ,,lokalisieren", d. h. nach demjenigen Orte hinweisen, der im Augenblick von einem Schmerz oder einem sonstigen Etwas ,,ausgefiillt" ist. Zeigen (Lokalisieren) setzt also das Wissen am eine ,.Zweiheit" voraus; erstens um den Ort, und zweitens um das Etwas, alas den Ort ausfiillt Das Erlebnis dieser Zweiheit aber beruht auf einem komplizierten Abstraktionsprozesse, tier beim Greifen gar nicht in Frage kommt. Das Greifen ,,nach" weiss nichts von einem Ort, der von etwas ausgefiillt oder ,,besetzt" ist, sondern es kennt nur das einheitliche, undifferenzierte Erlebnis des in dieser oder jener Weise ,Affiziertseins". Jedes Lokalisieren dagegen setzt ein Be~ " l en JP als solchen wusstsein von zu besetzenden ,,Often ' P und ,,btel voraus. Wir Menschen haben fast alle die eigentiimliche Vorstellung vom Raum, als sei dieser eine Art leeres Beh~ltnis und die Dinge darin Fremdk/Srper, beliebig an andere Orte verschiebbar. Eben weil das Lokalisieren ein Sp~itprodukt unserer Ent~icklung ist, das Greifen aber nicht, datum kommt alas Lokalisieren bei bestin~nten hirnpathologischen F~illen in Wegfall, w~ihrend das Greifen erhalten bleibt. Nehmen wir jetzt ein anderes Beispiel ! Etwa in 1 m Entfernung vor mir steht ein roter Eimer; ein zweiter, griin gestrichener, befindet sich in 3 m Entfernung vor mir. Nun nehme ich einen Ball und suche ihn abwechsehld bald in d~n roten, bald in den griinen Eimer zu werfen. Das gel~ngt mir nic!at besser oder schlechter als einem Hirngesch/idigten, mit dem ich solche Versuche durchfiihre.

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Solange ich den Kranken sich selbst iiberlasse, wirft er den Ball immer mit dem richtigen ]mpuls, also m/t sfiirkerem Impuls nach dem griinen (entfernteren) Elmer. Sobald ich aber den Kranken frage, welcher yon den beiden Eimern welter entiernt sei, so vermag er diese Frage nicht ohne weiteres zu beantwo~'ten. Er geht auf den rote:n (den n~iheren) Eimer zu und sagt: ,,Der griine ist der weitere, weil ich noch nicht da bird". Welch ein ungeheurer Unterschied also zwischen dem naiven, ohne weitere Reflexion vor sich gehenden Werfen einerseits und dem abstrakten Raumsch~itzen (Tiefensch~itzen) andererseits! x) Wit Gesunden kennen etwas ~mliches, wenn auch in weit schw~icherem Masse. Wit sind z.B. in Eile und haben auf dem Wege unvorhergesehen einen Graben vor uns. Wenn nicht a~lssergew6hnliche Verh~ltnis.~e vorliegen, tiberspringen wit den Graben ohne Reflexion besser und sicherer als etwa mit der Ueberlegung, wie breit der Graben und ein wie grosser ]mpuls erforderlich sei. Das Raumschitzen (in dem Eimerbeispiel) und das Bewusstsein um leere Raumstellen, die von ganz verschiedenen Inhalten ausgefi~t sein k6nnen (wie beim echten Lok~lisieren), beides setzt ein anderes Raumerlebnis voraw~ als das einfache Werfen mit dem Ball bzw. das Grei.~en nach irgend etwas. Das unm~ttelbare Werfen wie das Greifen spielen sich im sogenannten ,Aktions- oder Handlungsraume" ab, d~s Raurnsch~tzen und das Lokalisieren dagegen in einem ,,schematischen Ordnungsraume'. Die friiher erw~mte Zweiheit von Ort und einem Etwas, das diesen Ort einnimmt, gibt es nur im schematischen Ordnungsraume, denn nur in diesem gibt es das Erlebnis von Orten als solchen. Auch Raumrichtungen (im strengen Sinne des Wortes) gibt es nur im schematischen Ordnurigsraume. Da.,~rn ist es nicht erstaun]ich, dass diejenigen Hirngesch~idigten, die im vorhin genannten Sinne nicht lokalisieren und Raum sch~itzen k6nnen, auch keine rechte Vorstellung von Raumrichtlmgen haben, kein rechtes ObCn und Unten, kein Vorn und Hinten, kein Rechts und Links. Fr,~ilich, bei oberfi~chlicher Beobachtung bleibt diese St6rung oft verborgen, weft die Kranken unbewus~t Urn- und Auswege benutzen, die ~ie St6rung in ihrer Auswirkung verdecken. Sagt man z.B. einem solchen Kranken: ,,Zeigen Sie nach oben", so bringt er den Arm in eine Lage, die man auf den ersten ~) Vgl. auch beiW. Siekmann, Psychol. Forschg. 16, S. ;~4L

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Blick als ein ,,nach-oben-zeigen" ansieht. In Wirklichkeit abet diente unserem Kranken bier die Zimmerdecke als Anhaltspunkt iiirseine Handlung, und nicht die abstrakte Richtung !Die weitere Analyse zeigte" ,,vorn" heisst bei d e m Kranken so viel wie ,,geradeaus schreiten", und ,,hinten" so viel wie ~,sichumdre,~en"; ,rechts" die ,,Hand, mit der m a n schreibt", und ,,links" die ,,Hand, mit der m a n nicht schreibt"; ,,unten" die ,,Fiisse", ,,oben" der ,,Kopf" oder die ,,Zimmerdecke", je nach der spezieUen Situation. Beachten Sic, dass es sich in den angefiihrten Beispielen wieder urn ein unmittelbares Tun im Aktionsraume handelt! Es bedarf grosset Erfah~mg, u m mitunter zu erkennen, dass die Kranken unsere sich auf den schematischen Ordnungsraum beziehenden Aufgaben nur scheinbar 16sen, indem sie durch Tun im Aktionsraume ihr Versagen verdecken. M a n muss also,u m St~r~ngen des Richtungsbewusstseins nachzuweisen, solche Aufgaben w~'iflen, bei denen Scheinl6sungen der erw~nten Art ausgeschlossen sind. Sehen wit uns nach einer solchen Aufgabe urn! Auf dem Tisch hegt ein Ho~stiibchen in schr~igerLage, etwa von links oben nach rechts unten. Der Kranke bekommt die Aufgabe, ein zweites Stiibchen in dieselbe Raumlage zu bringen. Aeusserlich betrachtet, gehngt das d e m Kranken, aber eben nut ~iusserlich,denn er tut wieder etwas anderes, als eigentlich verlangt. Die n~here Beobachtung zeigt, dass der Kranke -- langsam und unsicher -- das zweite St~ibchen wit dem ersten zur Deckung bringt oder es als lineare Fortsetzung des ersten oder parallel zum ersten zu legen trachtet. Diese Hantierungen -- z v x Deckung bringen, als Fortsetzung @~er parallel legen -- erfolgen beim Kranken unabh~ingig yon jedem Richtungsbewusstsein, das dazu auch gar nicht erforderlich ist.M a n daft sich also dutch den ~iusserlichrichtigen Effekt auch hier nicht t~iuschen lassen! Der Versuch muss demnach modifiziert werden, wenn mm: ein eindeutiges Resultat erhalten will. Man muss das erstc Stiibchen entfernen, nachdem der Patient auf dessen Lage hingewiesen wurde. Der Kranke muss also aus der unmittelbaren Erinnerung die Raumlage legen. Jetzt versagt der Kranke, es entstehen lanter Fehler. Das Resultat wird nicht besser, wenn man dem Kranken einen rechten Winkel aus zwei Stiibchen in einer bestimmten Raumlage als Muster voflegt ( l- oder ..I oder k oder "3) und ihn auffordert, den Winkel genau so aus der Erinnerung nachzulegen. Das Rechtwinklige

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als solches wird framer richtig gelegt, aber die Raumlage nicht oder nut ganz zufgllig. Die Raumlage als solche gibt es eben nur im schematischen Ordnungsraumel Nun kSnnte man vermuten, dass bei den Versuchen, aus der Erinnerung etwas nachzulegen, ein Versagen des ,,Ged~ichtnisses" vorliegt. Am Ende hat der Kmnke die Raumlage bereits vergessen ? Indesse~ diese Erkl~irung ist falsch; denn wenn ich dem Kranken aus 20 und mehr St~ibchen ein ,,HS.uschen" oder ein anderes sinnvolles Gebflde als Muster vorbaue, so legt der Kranke nach Entfemtmg der Vorlage aus der Erinnerung das H~iuschen pedantisch genau nach; iia noch viel exakter als wit, weft es in der Umwelt dieser Krankell ein blosses ,,ungef~hr so" nicht gibt. Ich komme darauf noch zuriick. Ich hoffe, an diesen Beispielen gezeigt zu haben, dass es im Gebiete des Raum-Habens eine den Ver'dnderungen auf so verschiedenen Gebie~en ~ e Wahrnehmung, Sprache, Denken analoge Grundver~indenmg im Sinne des Konkreterwerdens gibt. Das, was wir schematischen Ordnungsraum nannten, brauchen wir eben nur dann, wenn wir die Umwelt denkend beherrschen wollen, nicht a b e l wenn wit bloss unmittelbar in ihr handeln. Noch ein Beispiel. Ich kan~:l mich in einem, mir auch nut wenig bekannten Gel~inde gut zurechtfinden und bedarf dazu ke]nes Ordnungsraumes. Ein Haustier kann das ja auch, abet das Tier besitzt selbstverst~indlich trotz guten Ofientiemngsverm¢}gens keine schemat[~che Gesamtvorstellung der Gel~indeanlage; es kann sich doch keinen ,,Plvn" entwerien! Hierzu bedari es eben eines spezifischen Raumbew~Jsst~ins. Dariiber abet verfiigt nut der Mensch und auch nut dann, wenn er die Umwelt denkend darstellt. Mit einer solchen denkenden Darstellung geht abet der Mensch iiber den Umweltraum, iiber die blosse ,,l 3mwelt" hinaus und gewinnt so die MSglichkeit, den Begriif des ,.Weltenraumes" und der ,,Welt" zu iassen. X Wer die Literatur fiber hirnpathologische Fglle auch nut fliichtig kennt, der weiss, dass dort viel yon St0rungen der ,,Aufmerksamkeit", des ,,Merkens", ,,Behaltens", der ,,Intelligenz"', usw., usw. gesprochen wurde und wird. Sie werden gemerkt haben, dass in meinen Darlegungen solche Begriife fast vollst~ndig fehlen.

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Noch mehr: fiir unsere Betrachtungsweise gibt es jene stiic'-~haft betrachteten St~rungen der ,,Aufrnerksarnkeit", des ,,Merkens", usw. gar nicht. Dass man an die Existenz solcher Einzelstbrungen glaubte und sie geradezu postulierte, ist das Produkt bestimmter, sehr allgemeiner Voraussetzungen, die zu bestimmten Scheinproblemen gefiihrt haben. Wie umfangreich ist doch z.B. die Literatur, welche dutch die Streitfrage hervorgerufen wurde, ob Aphasische ,,nut" eine Stbrung der Sprache oder ,,auch" eine StSrung der Intelligenz h~itten. (In Frankreich ist diese Streitfrage an die Kontroverse zwischen D~jGrine und Pierre Marie gekniipft, und der deutsche Forscher Isserlin kommt noch heute fiber ihre Schwierigkeiten nicht hinaus). In Wirklichkeit ist diese Frage weder m i t , j a", noch mit,,nein" zu bean tworten, weft bereits ihre Voraussetzungen nicht zutreffen. Sprach man doch von Stbrungen der ,,InteUigenz", der ,,Aufmerksamkeit", der ,,Praxie", usw. in der Annahme, dass durch das Gestbrtsein solcher Einzelfunktionen der Kranke, als ganzer Mensch betrachtet, ver~indert ~i. ])abe: verlieh man solchen Begriffe'n wie ,,Intelligenz", ,,Aufmerksamkeit", ,,Merken" fiir gew6hnlich recht willkfirliche Bedeutung, so dass eine theoretische Einigung hoffnungslos wurde. Unsere Verhaltensanalyse hat uns zum entgegengesetzten Resultat gefiihrt. Die Kranken sind nicht in ihrem Grundwesen ver~udert, well ihre ,,Aufmerksamkeit", ihr ,Merken", usw. gest6rt sind, sondern umgekehrt: weil die Kranken in ihrem Grundwesen ver~indert sind, indem sie zu weniger rationalen, unmittelbartuendeu Menschen geworden sind, werden ihnen bestim~nte intellektuelle Leistungen sowie besthnmte Leistungen der Aufmerksamkeit, des Merkens, usw. unm~glichl Nut von einer solchen Betrachtungsweise aus ist denn auch die uns so oft begegnete Tatsache zu erkl~ren, dass die Kranken bei der ,,gleichen" Aufgabe anscheinend bald versagen, bald sie lOsen kOnnen. Wir haben gesehen, dass diese Kranken dort, wo sie die Aufgabe zu l~sen scheinen, etwas in ihrer unmittelbar-tuenden Weise verrichten, was der Intention der gesteUten (rationalen) Aufgabe gar nicht entspricht, wold aber einen Kusserlich brauchbaren Effekt herbeifiihrt. Nach der anderen, bier bek~mpften Betrachtungsweise aber musste man zur Erkl~ung jener Tatsache zu recht vulg~iren und wiUkfirlichen Hilfsmassnahmen greifen. Blasse, man m0chte sagen, blutleere Begriffe wie ,,Schwankungen der Aufmerksam::eit', ,,bessere und scldechtere Tage", u.a. soll-

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t~n jenen scheinbaren Wechsel yon L0sen and Versagen erkl'dren. Damit gar keine Missverst~indnisse m0glich werden, n ~ h einige Beispiele! Ich ~ e zu einem Kranken (Stirnhirnverletzten)I): ,,ich will Ihnen ]etzt was vorlesen, h0ren Sie gut zu und erz~ihlen Sie es mir hinterher". Nun lese ich dem Kranken eine kurze C-eschichte vor, etwa yon einem ,Gewitter". Der Kranke h0rt zu mit einem leeren Gesichtsausdruck. Er ist nicht imstande, etwas nachzuerz~ihlen; mitunter reproduziert er einige Worte wie ,Gewitter", aber dic~s rein sprechmotor/sch, ohne jeden Sinnzu~rnmenhang. K~nn sich der Kranke nichts ,merken"? Oder ,,vergisst" er sofort das Geh0rte ? Nein! Denn sein Verhalten ~ndert sich mit einem Schlage, sobald ich ibm w0rtlich dieselbe Geschichte nicht mehr vorlese, sonder~a als einen lebendigen, pers0nlichen Bericht bringe yon einem Ereignis, das mir gestern zugestossen/st. Der Kranke h0rt pl~tzlich ganz anders zu; er/st ganz bei der S~che, und noch mehr: ist der Bericht vorbei, so e r z ~ I t er seinen Kameraden, was ,,dem Professor passiert kst". Kann er sich nun etwas ,merken" und ,behalten", oder nicht ? Sie sehen, so allgemeine clich~artige Begriffe wie ,,merken", ,behalten" f0rdern uns nicht. Woran lag es denn, dass der Kranke das eine Mal sich nichts merken konnte, das andere Mal abet doch ? Nun, eben damn, d_~tssder Kranke das erste Mal diejenige ,EinsteHung" nicht gewinnen konnte, die zum Zuh0ren n0tig/st. Ist denn ,,Zuh0ren" so einfach? So selbstverst~indlich uns Gesunden das ist, for die Kranken ist es keineswegs selbstverst~indlich. Um zuzuh0ren0 muss man sich yon der augenbl/cklichen Situation, in der man sich befindet, losre/ssen und einer anderen Sache zuwenden, die m keinem inneren Zusammenhange mit der konkreten Situation selbst steht. Wet nun, wie der Kranke, in dem ,,Hier, Jetzt und So" der Situation aufgeht, vermag die fiir das Zuh0ren notwendige Einstellung gar nicht aufzubringen; er kann infolgedessen auch nichts merken und behalten. Um also den Kranken z'az Teilnahme, zum Zuh0ren zu bringen, muss die Aufgal:~ eine ,sachliche" Situationsn~he erhalten, d.h. nicht als etwas ganz Fremdes in die Situation hineinplat~en. Befindet sich der Kranke z.B. mitten in lebendiger Unterhaltunl~ mit dem Untersucher, so kaun sich ein Ber/cht yore Gewitter in die augenblickliche Sitl~ation des Kranken einfiigen. Dann ist der Kranke s) Vgl. bei W. $iekmann, l.c., S. 212, 227.

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auch ,,bei der Sache" und kann ,,merken" und ,,behalten". In welch hohem Grade situationsgebunden dieser Kranke ist, zeigt eindringlich auch folgende Tatsache: er Ieidet, wie so viele andere auch, an epileptilormen Anf~llen, die mitunter leichter, mitunter schwerer sind. Am "['age nach einem AnfaUe soUte der Kranke den Satz niederschreiben: ,,Ich hatte einen schweren Anfall". Er schreibt den Satz, 1/isst aber das Wort ,,schweren" fort. Er ist auch absolut nicht zu bewegen, das Wort hineinzubringen. Es zeigte sich nun, dass der Anfall dem Patienten selbst nicht schwer erschienen war, und etwas zu schreiben, das der erlebten Wirldich~keit nicht entsprach, war fiir den Kranken eine Unm/~glichkeit! Die Sph/ire des ,bloss M6glichen", des ,,bloss Gedachten" ist diesem Kranken verschlossen! Hier liegt eine Tatsache vor, die durchaus analog ist derjenigen, dass viele Kranke nicht imstande sind, absichtlich etwas Falsches zu sagen. Die unvoreingenommene Beobachtung der'Kranken in ihrem gewOhnlichen Alltagsleben best/itigt die Ergebnisse, die eine planm~is.~ig angelegte und systematisch durchgefiihrte Untersuchung liefert. Auffallend ist die aussergew6hnliche ,,Pedantefie" Hirngesch~idigter. In ihren Schr~nken und Schubladen herrscht peinlichste Ordnung; der Gesunde kennt sie m Gott sei Dank ! w in diesem Masse nur selten ! Man kann geradezu sagen, je gr6sser die Ordentlichkeit, umso schwerer das Krankheitsbild ! Denn diese Ordnung des Hirngesch~idigten ist keine planm~issig angelegte, sie ist nicht Ordnung eines Systems, sondern sie ist die notwendige Folge der unbewussten, ich m/~chte fast sagen, triebhaften Einstellung, die GebrauchsgegenstS_nde anhaltend in der gleichen Weise zur Hand zu haben, und ohne Reflexion mit ihnen umgehen zu k6nnen. Jede Ver~inderung im Ablauf ~ies Alltages erfordert eine, wenn auch noch so primitive Ueber'eg.mg und Entschlusskraft, und hier beginnen ja gerade die Schwien~z:keiten ! Derartige Kranke gehen jeden Tag urn dieselbe Zeit an die frische Luft, aber framer durch die gleichen Strassen. Schon die Aufforderung, einen Umweg oder eine Abktirzung zu gehen, kann eine gewisse Fassungslosigkeit ausl/~sen. Das ,,An-die-Luft-gehen" ist ftir diese Kranken genau so eine T/itigkeit wie irgend eine andere, und nicht etwa ein beschauliches Umherspazieren. ,,Spazierengehen" im strengen Sinne des Wortes heisst ja Abstand nehmen vom unmittelbaren Tun, und Annehmen einer beschaulichen Haltung. Das ist keineswegs eine unproblematische An-

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gelegenheit! Es ist gar nicht so einfach, wirldich spazieren zu gehen, und nicht jedem gelingt jene Haltung, die in den VeTcsen Goethes zam Ausdruck kom_mt: ,,Ich ging im Walde so fiir reich hin, und nichts zu suchen, das war m~dn Sinn". Es gehSr~ ein dutch langes Zusammensein mit derartigen Kranken gesch'grfter Bliek dazu, tun die unendlich vielen Kleinigkeiten des Alltages im Wesenszusarn_merdumge mit dem Krankheitsbilde zu sehen und zu werten. Man muss bei der Verhaltensanalyse/iusserst vorm'chtig sein mit der E~schiitzung bestimmter Symptome als ,,Unwichtigkeiten" oder ,Kleinigkeiten"! Eine anscheinend unwichtige ,,Neben:~chlichkeit" kann, in richtiger Zentrierung gesehen, unter Umstgnden den Schliissel zum Verstgndnis des gesamten Kr~nkheitsbildes liefern. Die Ordentlichkeit, die Piinktlichkeit der Kranken, die, wic wir schon sagten, keine Ordnung eines Systems ist, ist also nttr aus der N~,t der Kranken zu verstehen, aus ihrer Gelahr, sich zu verlieren; gewissermassen als natiirlicher Schutz. Eine derart bedingte Ordentlichkeit schliesst natiirlich alles bloss ,,Ungef/ihre" aus; ,kopiert" der Kranke eine Vorlage, z.B. beim Nachbauen eines Hiiuschens, so hi~lt sich die Kopic sldavisch an das Original, abet nicht aus Freude an Genauigkeit, sondern aus der Unfghigkeit heraus, vom Original abzuweichen. Ein bloss schematisches oder bloss ,ungefghres" Nachbauen setzt, wie auch jedes Andeuten, Markieren, usw. voraus, dass man die Vorlage nut als Anhaltsptmkt fiir ein freies Tun und Schaffen benutzt. Ein freies Tin1 und , S c ~ e n ist aber aus dei Umwelt der hier besprochenen Kranken gewichen. Die Welt, in der sie leben, ist ~irmer and diirftiger geworden, sie kennt aur einen sehr l~,.schr~ink. ten Aufgabenkreis. In ihr gibt es nur solche Aufgaben, die aus der pr'~senten Situation erwachsen; Aufgaben dagegen, die dariiber hinaus gehen, bleiben diesen Kranken verschlossen, d.h. sie h6ren ~Luf, dem Kranken ihren Sinn zu enthiillen. Wo aber del Sinn einer Aufgabe nicht aufgeht, f~llt die Aufgabe als solche fort. Was ich in diese.n ganz wenigen Stunden bringen konnte, hat einen sehr fragmentarischen Charakter. Besonders konnten Gegenargumente nut diiritig beriicksichtigt werden. Indessen lag mir daran, die Zeit auszuniitzen, um eine be~timmte Betrachtungsweise in den Mittelpunkt zu riicken. Es bedarf wold keiner

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attd~Jxrlichen Begriindung, wenn ich behaupte, dass unsere Betracht~mgen fiber das engere Gebiet der medizjnj~hen Probleme hinausreichen. Besonders unsere letzten Gedanken schlagen eine Briicke zt~r Psychologie des gesunden Menschen. Das aber wax gerade der Zweck dieser Vorlesungeu: wit woUten das hirnpathologische Material nicht um seiner selbst willen betrachten. Ein tieferes Eindringen in die menschliche Natur iiberhaupt bildete unser eigentliches Ziel. SUMMARY

The late Adh~mar Gelb has in these last lectures given a summarizing exposition of his life-work, executed in co-operation with Kurt Goldstein, i.e.the psychological analysis of pathological cases of the brain. In short extracts from the i m p o r t a n t analyses by the a u t h o r and his co-operators, the f u n d a m e n t a l transformations of several mental patients are shown in diverse fields of action and philosophically and anthropologically elucidated. In the two first lectures problems of hemianopsia are dealt with. By means of contrast between the type , p l a i n t i f " with ,,vision no/re'" and the type ,,non-plaintif" with ,,vision nulle", the diverse ways of reaction of a morbid injured organism are shown. Aiter such peripheral injuries Gelb discusses in the four following lectures m using the rich material which he collected when studying his well-known agnostic p a t i e n t Sch. ~ the radical transformation of the agnostic individual. Here not only the visual discernment has completely disappeared, but also a n y simultaneous conception, and the patient must through laborious, gradual detours of mechanism, articulating and remembering language, at least ,seek to a t t a i n the effect of diverse exercises, which are really only to be solved visually and by simultaneous discernment. In the seventh lecture Gelb arrives at the agnosticism of the patients with injured cerebrum, and through this at the changes of the entire personality and their effects on these patients. The eighth lecture discusses the types of essential aphasia, again tracing downwards from the ,,plaintive" types with peripheral injury to the , n o n - p | a i n t i v e s " with central injury. The two last lectures deal with the effects of the serious transformations of personality after cerebrum injuries. From productions of the ,,abstraction", the problem of space, questions of , a t t e n t i o n " , ,,intelligence" etc., the problematic alternation of ,,isolated" functions and productions is discussed. In contrast to classical laws, Gelb and his co-operators demonstrate again and again the fundamental ,,integral" ~ransformation of.the mental pa,tient and insist on this point. The patiel~s are not t~ansformed in ILheir f u n d a m e n t a l nature because of their attention, their observation etc. being disturbed, but on the contrary, it is because the patients are transformed by their fundamental nat.ure - - as they hzve become less

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reasonable beings, a c t i n g more i m p u l s i v e l y ~ t h a t t h e y h a v e b e c o m e incapabh- of definite intellectual a c h i e v e m e n t s , as definite a c t i o n s of a t t e n t i o n etc. F r o m several sides a vivid l i g h t is c o n s t a n t l y t h r o w n on t h e n o r m a l psychology, a n d e x a c t l y these t e n p a r t i n g - l e c t u r e s clearly show h o w Gelb has formed a n idea of a more p r o f o u n d p e n e t r a t i o n i n t o h u m a n n a t u r e , using p a t h o l o g y as a s t a r t i n g - p o i n t . RtSUM~

Le regrett~ A d h 6 m a r Gelb, m o r t p r 6 m a t u r 6 m e n t , a donn6 d a n s ces derni~res conferences un expos6 d ' e n s e m b l e de son oeuvre, ex~cut6e en collaboration avec K u r t Goldstein, savoir: les a n a l y s e s psychologiques de cas p a t h o l o g i q u e s du cerveau. D'apr~s de courts e x t r a i t s des a n a l y ses approfondies de l ' a u t e u r ~t de ses collaborateurs, les t r a n s f o r m a tions f o n d a m e n t a l e s de plusieurs m a l a d e s du cerveau, o n t ~t~ raises en relief ~;~l les divers t r a v a u x r6alis6s, et p h i l o s o p h i q u e m e n t et a n t h r o pc 1o~;~-!~-~ment 61ucid6es. Da~ ~. les d e u x premieres conferences, il s ' a g i t de probl~mes de l'h6m~anopsie. Au m o y e n du c o n t r a s t e e n t r e le t y p e ,,plaintif" ~ ,,vision n o i r e " et le t y p e ,,non p l a i n t i f " ~ ,,vision n u l l e " , il e x p l i q u e les divers modes de r6action d ' u n o r g a n i s m e a t t e i n t de 16sion. D a n s les q u a t r e conferences s u i v a n t e s , d'apr~s ces sortes de 16sions l~riph~riques, et en se s e r v a n t des n o m b r e u x m a t 6 r i a u x qu'il a r~unis en 6 t u d i a n t son m a l a d e a g n o s t i q u e bien cor~nu, Sch., Gelb discute la t r a n s f o r m a t i o n radicale de l ' i n d i v i d n d a n s l'agnosie. Ici, ce n ' e s t pas s e u l e m e n t le disc e r n e m e n t visuel, mais encore, de plus, t o u t e conception s i m u l t a n ~ e qui a c o m p l ~ t e m e n t disparu, e t le m a l a d e doit, p a r de p~nibles d~tours successifs de m6canisme, de i a n g a g e articul~, et de mSmoire du langage, chercher du moins ~ atteinc re l'effet des plus divers exercices, ce qui toutefois n ' e s t possible que ,,visuellement" et p a r d i s c e r n e m e n t simultanS. D a n s la septi&me conf~xence, Gelb arrive ~ l'agnosie des m a l a d c s l~sion c6r~brale frontale, et, p a r 1~, a u x t r a n s f o r m a t i o n s de l'enti~re personnalit~ et ~ leurs effe~:s sur ces malades. D a n s la h u i t i 6 m e sont d~crits les t y p e s d ' a p h a s i e e ssentielle, encore depuis les t y p e s ,,plaintifs" ~ l~sion p6riph~rique, j ~Jsqu'aux m a l a d e s ,,non p l a i n t i f s " ~ l~sion centrale. Les d e n x derni~re.,~, conf6rences t r a i t e n t des effets des graves n~odifications de la person~alit~ apr~s l~sions c6r~brales frontales. D'apr~s les p r o d u c t i o n s de l ' , a b s t r a c t i o n " , le probl~me de l'espace, les questions de l ' a t t e n t i o n , de l'intelligence, etc., ~1 discute les alt~rations probl~matiques des fonctions et des actes isol~s. C o n t r a i r e m e n t a u x lois classiques, Gelb et ses collaborateurs d ~ m o n t r e n t c o n s t a m m e n t la t r a n s f o r m a t i o n fon i a m e n t a l e , i n t ~ g r a l e " du m a l a d e mental, et insistent sur ce point. C~., n ' e s t pas parce que leur a t t e n t i o n , leur observation, etc. sont troubl ~es, que les malades s o n t t r a n s f o r m 6 s d a n s leur n a t u r e fonci~re, reals, ~u contraire, c'est parce qu'ils s o n t t r a n s f o r m , s dans leur nature, -.- puisqu'ils sont d e v e n u s des ~tres t r o p peu raisonnables agissant plus i m p u l s i v e m e n t , ~ qu'ils sont incapables

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d'accomplissements inteUectuels dc~termin6s, comme les actes d~ter~ minSs de l ' a t t e n t i o n , etc. De plusieurs c6t~s, la lumi~re se fait sur la psychologie normale, et justement, dans ces dix conferences d'adieu, on voit tr~s clairement l'~d6e que Gelb se fsissit d ' , u n e p6n~tration plus profonde de la nature h u m a i n e en g6n~ral", en p a r t a n t de la pathologie.

We acknowledge the receipt of following books: Dr. med. J. H. v a n d e r Hoop, Bewasstseinstypen. Verlag Hans Huber. Bern. 19;37. Das Buch dieses h o U ~ d i s c h e n Autors stellt einen Versuch dar in ausffihrlich,:~r Weise verschiedene Betrachtungsweisen der Psychologie zu einer Synthese zu bringen. Den Ausgangspunkt bilden die ,psychologischen T y p e n " C. G. J ungs, die hier ihrem Wesen nach als Bewusstseinstypen beschrieben werden. Die vier fundamentalen Funktionen: Empiindung (hier I n s t i n k t genannt), Intuition, Denken und Ffihlen, werden als charakteristische psychische Akte phanomenologisch beschrieben und es wird die verschiedene Aawendung derselben in Extraversion und Introversion dargestellt. Die Unterscheidungen zeigen sich dann als brauchbar ftir die desk~'iptive Psychologie, indem m a n beim Vorherrschen einer dieser Funktionen wichtige Differenzen im Benehmen der Menschen aufzeigen kann. Fiir die Beschreibung des kon~reten Menschen reichen diese Bezeichnungen nicht aus, weft daneben bestimmte Psychismen und fixierte Psychismen (Komplexe) einen grossen Einfluss haben, w~hrend auch die verschiedenen Temperamente einen unabhlngigen F a k t o r bilden. Doch stellen die Verschiedenl~eiten der bewussten Orientierung uns imstande manche F~higkeiten und Einseitigkeiten und auch manche Konflikte in den menschlichen Beziehungen besscr zu verstehen. Der zweite Toil des Buches bringt die Anwendung dieser Einsichten auf die Psychiatrie. Hier wird die statische Strukturerlassung der Typologie gegenfiber den dynamischen F a k t o r e n (spezieU auch in der Psychoanalyse) gesteUt. W~hrend die Neurosen vor allem dynamisch aus Einflfissen der Umg~bung a u f die Entwicklung zu erk!~ren sind, mfissen die neurotischen Charakteren aus einer Wechselwirkung zwischen Typus und Komplex verstanden werdo.rt. Auch zeigt sich, dass vieles in der S t r u k t u r der Psychopathen ~ds sehr einseitige Entwicklung des Bewusstseinstypus verstanden werden kann. Ffir die Psychosen entstehen so ebenfaUs neue M6glichkeiten des Verst~ndnisses, well die Unterscheidungen Kretschmers psychologisch vertieft und die analytischen Auffassungen mehr im Z u s a m m e n h a n g geschaut werden k6nnen. Ein dritter Tell gibt philosophis~he ]3emerkunger- fiber die: objektive Begrtindung der Psychologie, tiber Einheit und Transz~ndenz des I3ewusst~eins und fiber die pers6nliche Gleichung. In der erste dieser Betrach+.,Jngen zeigt sich, class Bewusstseinspsychologie und ,,naturwissenschaftliche Psychologie" sich erg~n~:en. In dem zweiten Kapitel wird das Problem des einheitlichen Zusammenwilrkens der verschiedenen .Bewusstseinsfunktionen erforscht. Auch wird die Beziehung komplizierter Erl~bnisse, wie das ~Lsthetische und das religi6se Erlebnis zu den bewussten Funktionen studiert. Zum Schluss macht der Autor einen Versuch die verschiedenen Arten der psychologischen Betrachtung, die in den verschiedenen Schulen ausgedruckt werden, als typologische Einseitigkeiten der BewusstseiIlss t r u k t u r zu erkl~ren.