Neurophysiologische Diagnostik und Diagnosekriterien neuroimmunologischer Erkrankungen Multiple Sklerose

Neurophysiologische Diagnostik und Diagnosekriterien neuroimmunologischer Erkrankungen Multiple Sklerose

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Neurophysiol. Lab. 35 (2013) 1–17

Neurophysiologische Diagnostik und Diagnosekriterien neuroimmunologischer Erkrankungen Multiple Sklerose Neurophysiological diagnostics and diagnostic criteria of neuroimmunonological diseases: Multiple Sclerosis Prof. Dr. U.K. Zettl ∗ , Dr. R. Patejdl Universitätsklinikum Rostock, Klinik und Poliklinik für Neurologie

Zusammenfassung Die Sicherung der Diagnose ,,Multiple Sklerose“ (MS) ist bis heute eine anspruchsvolle klinische Aufgabe. Innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte haben sich die entsprechenden Kriterienkataloge von ihrer ursprünglich stark klinischen Prägung hin zu einer stärkeren Wichtung apparativer Befunde entwickelt. Insbesondere das Gewicht der kernspintomographischen Bildgebung wurde durch die letzten Revisionen der international breit angewandten McDonald-Kriterien von 2010 weiter erhöht, während die liquorologische und neurophysiologische Befunde nur noch eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Die evozierten Potentiale bleiben dennoch ein wichtiges diagnostisches Instrument, da sie zur Objektivierung anamnestisch berichteter Schubereignisse herangezogen werden können. Zur frühen Abschätzung der Prognose haben sich die magnetisch evozierten motorischen Potentiale (MEP) sogar als gängigen Bildgebungskriterien überlegen gezeigt. Schlüsselwörter: Multiple Sklerose; McDonald Kriterien; Poser Kriterien; evozierte Potentiale; MRT

Summary Establishing the diagnosis of Multiple Sclerosis (MS) remains a clinical challenge. During the last two decades, the criteria have changed from a strong emphasis on clinical events towards an even higher enhancement of technical methods. Particularly, the importance of magnetic resonance imaging (MRI) has increased with the last revision of the internationally widely used McDonald criteria in 2010, whereas liquorological and neurophysiological findings by now are only of minor importance. Nevertheless, evoked potentials remain an important diagnostic tool, since they can be used to objectify reported clinical events. With respect to an early estimate on the prognosis of individual patients, the results of motor evoked potentials (MEP) even are superior to commonly used MRI techniques. Keywords: Multiple Sclerosis; McDonald criteria; Poser criteria; evoked potentials; MRI

∗ Korrespondierender

Autor. Gehlsheimer Straße 20, D- 18147 Rostock. E-mail: [email protected] (U.K. Zettl). http://dx.doi.org/10.1016/j.neulab.2012.10.003

2 · U.K. Zettl, R. Patejdl

1. Einleitung Die Multiple Sklerose (MS) stellte bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts eine klinische Ausschlussdiagnose dar. Seither hat es nicht an Bemühungen gefehlt, positive diagnostische Kriterien für die MS unter Einbeziehung paraklinischer Befunde zu definieren [55,34,52,2,50,36,67,48]. Alle diese Versuche schließen jedoch bis heute den Vorbehalt ein, daß keine bessere Erklärung für die eruierten klinischen und paraklinischen Befunde existiert [48]. Verbindliche Empfehlungen für das diagnostische Vorgehen sind daher sowohl ein Erfordernis der klinischen Praxis als auch eine Voraussetzung für epidemiologische Untersuchungen und klinische Therapiestudien. Jüngste experimentelle und klinische Befunde unterstützen die Bedeutung eines frühen Behandlungsbeginns, insbesondere nach einem klinisch isolierten Syndrom (CIS) [5,6,20,27]. Dieser Aspekt stellt einen Paradigmenwechsel in der Diagnostik und Behandlung der MS dar und erfordert eine schnellstmögliche Diagnosesicherung [38,42,43].

2. Historische Entwicklung der Diagnosekriterien für die MS 2.1. SCHUMACHER-Kriterien Die erste internationale Übereinkunft über diagnostische Kriterien für die MS geht auf eine Expertengruppe um Schumacher zurück [55]. Sie sollte Vergleichsstudien zur Schubverkürzung unter einer Glukokortikosteroidtherapie ermöglichen und umfaßte nur klinisch definierte Kriterien. Diese basierten auf dem bis heute gültigen Grundprinzip der räumlichen und zeitlichen Dissemination der Krankheitszeichen, wobei sowohl schubförmige als auch chronisch-progressive Krankheitsverläufe berücksichtigt wurden. Allerdings war eine Altersbegrenzung von 10–50 Jahren festgelegt, was einen nicht unbedeutenden Anteil pathologisch-morphologisch gesicherter MS-Fälle ausschloss [15]. 2.1.1. Schubdefinition Eine bis heute weitestgehend gültige Schubdefinition (Box 1) wurde von der Schumacher-Kommission ebenfalls vorgeschlagen. Sie besagt, dass eine mindestens 24 Stunden dauernde Funktionsstörung des ZNS vorliegen muss, unabhängig davon, ob sie anamnestisch berichtet oder objektiv festgestellt wird. 2.1.2. Zeitliche Dissemination Eine zeitliche Dissemination galt als bewiesen, wenn zwischen dem Beginn der ersten Krankheitsepisode und dem Beginn des zweiten Schubes mindestens 30 Tage lagen (schubförmiger Verlauf) oder eine langsame stufenweise Progression der Krankheitszeichen über mindestens 6 Monate zu verzeichnen war

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Box 1: Kriterien eines MS-Schubes nach Schumacher et al. [55] und nach McDonald et al. [36]. Was ist ein Schub?  Neurologische Störung entzündlicher und demyelinisierender Natur  Dauer = 24 h (anamnestischer oder objektiver Befund)  Keine assoziierten Infekte oder Fieber  Ausschluss eines Pseudoschubes: Uhthoff-Phänomen oder paroxysmale Störungen (z.B. tonischer Spasmus) Mindestabstand zwischen 2 Schüben:  30 Tage vom Beginn des 1. bis zum Beginn des 2. Ereignisses

(chronisch-progredienter Verlauf). Die Anwendung der Schumacher-Kriterien sollte die Diagnose ,,definitive MS“ ermöglichen. Kommt es innerhalb von 30 Tagen nach Schubbeginn zu neuen neurologischen Symptomen, werden diese im allgemeinen noch zum selben Schub gezählt (Schub mit Exazerbationen). Aus heutiger Sicht ist die exakte Einhaltung der Schubdefinition neben der Diagnosefindung besonders wichtig, da die Anzahl der Schübe ein wesentliches Kriterium für die Indikation und Verlaufsbeobachtung einer prophylaktischen Immuntherapie (Beurteilung: Responder/Nonresponder) der schubförmigen MS darstellt [11,14,18,19,21].

2.2. Kriterien der Diagnosesicherheit In der Folge wurde versucht, dem komplexen Krankheitsbild der MS und dem Fehlen spezifischer diagnostischer Tests dadurch besser gerecht zu werden, dass die Diagnosen ,,definitive MS“, ,,wahrscheinliche MS“ und ,,mögliche MS“ unterschieden wurden, mit Aufstellung entsprechender Kriterien [34,52]. Außerdem wurden charakteristische Laborbefunde in das Diagnoseschema einbezogen, wie von Bauer [2] auf der Basis einer Meinungsbefragung unter Neurologen und MS-Spezialisten initiiert. Der Stand der Forschung wurde in die nachfolgenden POSER-Kriterien integriert [50].

2.3. Poser- Kriterien Fortschritte in den Untersuchungsmethoden der Elektrophysiologie, Liquoranalytik und Bildgebung mündeten schließlich in dem für zwei Jahrzehnte am meisten akzeptierten und angewandten Kriterienkatalog (Tab. 1) der Konsensusgruppe um C.M. Poser (1983). Sie berücksichtigen Laborbefunde für die Einteilung der Diagnose MS in nun vier Kategorien.

4 · U.K. Zettl, R. Patejdl Tab. 1. Kriterien der MS-Diagnostik nach Poser et al. [50]. Diagnosesicherheit Kategorie 1. Klinisch sicher 2. Laborunterstützt sicher

3. Klinisch wahrscheinlich

4. Laborunterstützt wahrscheinlich

A1 A2 B1 B2 B3 C1 C2 C3 D

Schübe

Nachweis klinisch

2 2 2 1 1 2 1 1 2

2 1 1 2 2 1 2 1

von Läsionen paraklinisch und 1 oder1 und 1

Liquor (OKB)

+ + +

und 1 +

OKB = Oligoklonale Banden.

2.3.1. Die Schubdefinition von Schumacher et al. [55] wurde beibehalten. Die primär chronisch-progrediente Verlaufsform blieb in den sogenannten Poser-Kriterien unberücksichtigt, insbesondere, da einerseits die pathogenetischen Hypothesen eine andere Ätiologie als bei der ,,klassischen“ schubförmigen oder sekundär chronisch-progredienten MS vermuten ließen und andererseits die klare differentialdiagnostische Abklärung zu anderen Ätiologien damals im Einzelfall außerordentlich problematisch erschien [66]. Als paraklinische Läsionsnachweise wurden pathologisch veränderte evozierte Potenziale, unabhängig von ihrem Auslösemodus (motorisch, sensibel, visuell oder auditiv), und die Bildgebung (CCT) gleichgewichtig bewertet, wobei die Magnetresonanztomographie (MRT) noch keine spezielle Berücksichtigung fand, da es zu diesem Zeitpunkt erst seit etwa einem Jahr erste Erfahrungen bei der MS gab [63]. Als typischer Liquorbefund wurde der Nachweis einer autochthonen intrathekalen Immunglobulinproduktion in Form selektiver OKB im Liquor cerebrospinalis gewertet. Die Praktikabilität der Poser-Kriterien wird unterschiedlich beurteilt und wegen der differenzierten Wichtung klinischer und paraklinischer Befunde z.T. als zu kompliziert empfunden. Einen weiteren Kritikpunkt stellt die Unklarheit der Poser-Kriterien hinsichtlich der konkreten Interpretation von Zusatzbefunden (evozierte Potentiale, Bildgebung) dar. So wurden beispielsweise die ersten bildmorphologischen Kriterien für eine räumliche Dissem ination der MS in der MRT erst 1988 publiziert [10,44]. Eine klare Definition der zeitlichen Dissemination der MS in der MRT-Diagnostik wurde erstmals 2001 als Konsensus formuliert [36]. 2.4. McDONALD - Kriterien Eine Aktualisierung der diagnostischen Kriterien für die MS unter Einbeziehung einer detaillierten Bewertung der Zusatzdiagnostik erfolgte im Jahre 2000/2001 durch eine Konsensusgruppe unter der Leitung von W.J. McDonald in London (Tab. 2).

Neurophysiologische Diagnostik der Multiplen Sklerose · 5 Tab. 2. Schritte zur MS-Diagnose nach McDonald et al. [36]. Kat.

Klinik

Zusatzinformationen

1.

> 2 Schübe mit > 2 Läsionen (objektiv) > 2 Schübe mit 1 Läsion (objektiv)

Keine erforderlich, aber Paraklinik darf nicht negativ sein Räumliche Dissemination: - im MRT (Barkhof-Kriterien) oder - > 2 MRT-Läsionen + Liquor oder - weiterer klinischer Schub mit anderer Lokalisation Zeitliche Dissemination: - im MRT oder - weiterer klinischer Schub Räumliche Dissemination: - im MRT oder - > 2 MRT-Läsionen + Liquor und Zeitliche Dissemination: - im MRT oder - weiterer klinischer Schub Liquor und Räumliche Dissemination: - > 9 Hirnläsionen oder - > 2 Rückenmarksläsionen oder - 4-8 Him- und 1 Rückenmarksläsion oder - VEP + 4-8 Hirnläsionen oder - VEP + <4 Him- und 1 Rückenmarksläsion und Zeitliche Dissemination: - im MRT oder - kontinuierliche Progression über 1 Jahr

2

3.

1 Schub mit > 2 Läsionen (objektiv)

4.

1 Schub mit 1 Läsion (objektiv) ,,monosymptomatische Erstmanifestation“ ,,klinisch isoliertes Syndrom“

5.

primär progressive MS (schleichende Progression seit Beginn)

Prinzipiell wurde das Konzept von Poser et al. beibehalten, dass der Nachweis der räumlichen und zeitlichen Dissemination der Erkrankung sowohl klinisch als auch durch paraklinische Zusatzinformationen erfolgen kann. Zusätzlich wurden die Kriterien für die primär- chronisch progredient verlaufende MS integriert [59]. 2.4.1. Evozierte Potentiale Die Bewertung der evozierten Potentiale für die Diagnostik der MS basierte auf der Grundlage der Ergebnisse einer Konsensusgruppe (Quality Standards Subcommittee) der American Academy of Neurology [16]. Als einziger elektrophysiologischer Parameter wird ein pathologisches visuell evoziertes Potential (VEP, latenzverzögert bei gut erhaltener Wellenform) für die Diagnose der chronisch-progredienten Form der MS herangezogen. Diese Festlegung kann angesichts der hohen, den VEP zumindest gleichwertigen Aussagekraft der magnetisch evozierten motorischen Potentiale (MEP) für die MS -Diagnose nicht zufriedenstellen [4,12].

6 · U.K. Zettl, R. Patejdl Tab. 3. MRT-Kriterien der räumlichen Dissemination. 1. nach 2. nach

Paty et al. [44] Fazekas et al. [10]

3. nach

Barkhof et al. [1]

≥ 4 Läsionen oder 3 Läsionen (davon > 1 periventrikulär) ≥ 3 Läsionen, welche jeweils 2 oder 3 folgenden Bedingungen erfüllen: - > 5 mm Durchmesser - infratentoriell - periventrikulär 3 der 4 folgenden Befunde: - > 1 Gd+ oder > 9 T2-hyperdense Läsionen - > 1 infratentorielle Läsion - > 1 juxtakortikale Läsion - > 3 periventhkuläre Läsionen

Als Kriterium für eine prognostische Einschätzung der MS zum Zeitpunkt der Diagnosesicherung sind die Befunde der MEP und der somatosensibel evozierten Potentiale (SSEP) den Ergebnissen der VEP überlegen [24]. In einer weiteren Untersuchung konnte gezeigt werden, dass beim Monitoring des Krankheitsverlaufs der MS die EP bessere Resultate erbrachten als serielle konventionelle MRT-Verlaufsuntersuchungen [12]. 2.4.2. Liquoranalytik Auch der Stellenwert der Liquordiagnostik ist in den McDonald- Kriterien geringer als bei den Poser-Kriterien. Für einen MS-typischen Liquorbefund werden aktuell selektive oligoklonale Banden und/oder ein erhöhter IgG-Index bei einer Pleozytose unter 50 Mpt/l gefordert. Der Befund ist aber nicht in jedem Fall für die Diagnosestellung MS nach den McDonald- Kriterien nötig (Tab. 2, Kategorien 1 und 3). Im Gegensatz dazu besteht die internationale MS-Therapie-Konsensus-Gruppe auf dem Nachweis von Zeichen der chronischen Entzündung im Liquorraum für die Diagnosestellung und frühzeitigen Therapiebeginn bei MS, indem sie selektive OKB im Liquor zu den unverzichtbaren Diagnosekriterien der MS zählt [11,33,45,39,40,64,65,41,62]. Eine hohe Qualität der Liquordiagnostik ist allerdings Voraussetzung für die Erfüllung dieser Forderung [35,64,65]. Da diese gegenwärtig nicht in gleichem Maße weltweit gegeben erscheint wie auf dem Gebiet der MRT-Diagnostik, wurde in den Empfehlungen der McDonald-Kommission auf einen positiven Liquorbefund bei zwei Befundkonstellationen der schubförmigen MS (Tab. 3, Kategorien 1 und 3) verzichtet [35,36]. Dieser methodische Aspekt stellt insofern eine Inkonsequenz bei den McDonald-Kriterien dar, als die Liquoranalytik für die Diagnosesicherung der primär-chronischen MS (Tab. 3, Kategorie 5) unerlässlich ist ([36], Thompson et al. 2000). Eine weitere nicht zu unterschätzende Aufgabe der Liquoranalytik bei MS ist neben dem Nachweis einer chronischen Entzündungsreaktion die klare differentialdiagnostische Abgrenzung anderer subakuter oder chronisch-entzündlicher ZNS-Erkrankungen wie der Neuroborreliose oder der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) [22,23,31,32,56,61,64,28].

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Abb. 1. Zur Bewertung der räumlichen und zeitlichen Dissemination im MRT wurden verschiedene Kriterien vorgeschlagen und mehrfach erweitert. Die vorliegende Abbildung stellt typische Befunde dar, wie sie in den Kriterienkatalogen nach McDonald von 2001 gefordert wurden. Die Revision von 2005 beinhaltete eine Stärkung der Bedeutung spinaler Herde.

2.4.3. MRT-Kriterien Vorarbeiten für MRT-Kriterien einer definitiven MS gehen auf Paty et al. [44], Fazekas et al. [10], Barkhof et al. [1] und Tintoré et al. [57] zurück. Sie haben klare Bedingungen hinsichtlich der Anzahl und Lokalisation von Läsionen im MRT definiert, die eine räumliche Dissemination belegen (Tab. 3, Abb. 1). Eine klare Definition der zeitlichen Dissemination im MRT wurde erstmals 2001, wie bereits erwähnt, in den McDonald-Kriterien festgeschrieben (Abb. 2 und 3). Klinisch monotope Läsionen (CIS), wie die unilaterale Optikusneuritis oder isolierte Hirnstamm- und Rückenmarksyndrome, können im MRT bereits mit klinisch stummen Läsionen an anderen Orten des ZNS vergesellschaftet sein. Für die Feststellung einer räumlichen Dissemination wurden die von Barkhof et al. [1] aufgestellten und von Tintoré et al. [57] in einer prospektiven Studie überprüften MRT-Kriterien (Abb. 1) in das Konsensusprotokoll übernommen [36].

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Abb. 2. Algorithmus zum bildmorphologischen Nachweis einer zeitlichen Dissemination bei MS im MRT. (nach [36]). * Kriterien der zeitlichen Dissemination erfüllt.

Als Beleg für eine zeitliche Dissemination gilt die Bedingung, dass Gadoliniumpositive (Gd+) oder neue T2-gewichtete Läsionen im Abstand von mehr als 3 bzw. 6 Monaten auftreten (Abb. 2). Diese Festlegung ist vor allem von Bedeutung, um eine monophasische Erkrankung wie die ADEM auszuschließen, bei der noch Wochen nach Krankheitsbeginn neue Läsionen auftreten können. Polmann et al. (2004) geben aber zu bedenken, dass der Nachweis neuer T2-gewichteter Läsionen im MRT zum sicheren Nachweis einer zeitlichen Dissemination eine Standardisierung der Untersuchung und große Erfahrung bei der Befundanalyse voraussetzt. Unter Einbeziehung aller genannten Kriterien haben McDonald et al. [36] ein Stufenprotokoll für die MS-Diagnostik aufgestellt (Tab. 2). Es berücksichtigt den Nachweis der räumlichen und zeitlichen Dissemination sowohl für den schubförmigen als auch den primär chronisch-progredienten Verlauf der MS. Im Gegensatz zu den Poser-Kriterien wird nur noch zwischen 3 Kategorien unterschieden (Box 2).

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Abb. 3. Neuer vorgeschlagener Diagnosealgorithmus bei Patienten mit den typischen klinisch lokalisierten Syndromen (MAGNIMS- Proposal).

Box 2: Kategorien der Diagnosesicherheit nach [36].  ,,MS“  ,,mögliche MS“  ,,keine MS“

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Für die Diagnose ,,MS“ müssen die in Tabelle 2 aufgeführten Kriterien jeweils vollständig, für die Diagnose ,,mögliche MS“ partiell erfüllt sein. Übereinstimmung besteht in allen bisher veröffentlichten Empfehlungen zur MS-Diagnostik in der Forderung, andere Ursachen für die Symptomatik auszuschließen. Ein großer Kritikpunkt an allen vorliegenden Diagnosekriterien ist bis heute, dass kein klarer Algorithmus für die Ausschlussdiagnostik integriert wurde. Die globale Feststellung in den McDonald-Kriterien, ,,dass keine bessere Erklärung für klinische und paraklinische Abnormalitäten als MS existierte“, ist für die klinischen Praxis unzureichend. 2.5. Vergleich Poser- und McDonald- Kriterien Für die Frühdiagnose der MS von besonderer Bedeutung ist die Bewertung sogenannter erster klinischer Episoden bzw. klinsch-isolierter Syndrome (CIS). Hier erwiesen sich die McDonald-Kriterien den Poser-Kriterien (klinisch definitive MS; Tab. 1: A1 und A2) überlegen. Der Übergang vom CIS in eine klinisch definitive MS (CDMS) entsprechend den Poser-Kriterien wurde durch die McDonald-Kriterien mit höherer Sensitivität und Spezifität, höherem positivem prädiktiven Wert und höherer Präzision vorhergesagt [7,8,58]. Innerhalb des Beobachtungszeitraums eines Jahres verdoppelte [7,8] bis verdreifachte [58] sich die Häufigkeit der Diagnose MS unter Anwendung der McDonald-Kriterien. Vorsicht ist allerdings geboten, wenn für die Feststellung der räumlichen Dissemination beide McDonald-Definitionen gleichberechtigt zugelassen werden: 1. drei von vier MRT-Kriterien nach Barkhof sind erfüllt oder 2. zwei Hirnläsionen im MRT und OKB im Liquor werden gefunden. Dieses Vorgehen erhöht die Sensitivität auf Kosten der Spezifität im Vergleich zur isolierten Anwendung nur einer der beiden Definitionen [58]. 2.6. Revidierte McDonald- Kriterien 2005 und 2010 Die revidierten McDonald- Kriterien von 2005 und 2010 sollten bzw. sollen die Diagnosestellung einer MS formal erleichtern und beschleunigen. Insbesondere durch die Modifikation der MRT- Kriterien wird eine schnellere Diagnosestellung z.T. im Rahmen einer einzigen MRT- Bildgebung wie in den revidierten McDonald-Kriterien von 2010 angestrebt. Aufgrund der praktischen Umsetzbarkeit dieser Empfehlungen (Abb. 3) mit z.T. drei standardisierten MRT- Untersuchungen innerhalb von etwa 30 Tagen und der Notwendigkeit einer ,,zweifelsfreien“ Vergleichbarkeit der einzelnen MRT-Untersuchungen [54] fand der Algorithmus zum bildmorphologischen Nachweis einer zeitlichen Dissemination der MS nach den revidierten McDonald-Kriterien [47] bis heute nur unzureichende Anwendung in der täglichen Praxis. In jüngster Vergangenheit hat es nicht an Versuchen gefehlt, insbesondere die MRT-Kriterien zum Nachweis einer Dissemination der Krankheitsaktivität in

Neurophysiologische Diagnostik der Multiplen Sklerose · 11 Tab. 4. Aussagekraft der verschiedenen MRT- Kriterien für die Konvertierung zur klinisch definitiven Multiplen Sklerose. DIS and DIT

Sensitivität (95% CI), %

Spezifität (95% CI),%

pos. Vorhersagewert (95% Cl),%

McDonald 2001 McDonald 2005 Swanton 2006 Rovira 2009

47.1 (36–58) 60.0 (49–70) 71.8 (61–81) 45.2 (31.2–60.1)

91 1 (85–95) 87.8 (81–93) 87.0 (80–92) 86.6 (80.9–90.7)

78.4 (65–89) 77.3 (65–87) 79.2 (68–88) 43.2 (29.7–55.0)

Cl: Konfidenzintervall; DIS: räumliche Dissemination; DIT: zeitliche Dissemination; PPV: positiver Vorhersagewert.

Raum und Zeit weiter zu optimieren. Die aktuellen Angaben zur Sensitivität, Spezifität und zum positiven Vorhersagewert der einzelnen MRT- Kriterien befinden sich in Tab. 4 [37]. Auf Grundlage der rezenten Daten zum diagnostischen Wert des MRT bei typischen klinisch isolierten Syndromen hat das European multicenter collaborative research network that studies MRI in MS (MAGNIMS) einen neuen Vorschlag zum diagnostischen Algorithmus zum klinisch isolierten Syndrom unterbreitet (Monalban et al., 2010). Das differenzierte diagnostische Procedere zum bildmorphologischen Nachweis der räumlichen und zeitlichen Dissemination ist in Abb. 3 dargestellt. Gegenwärtig bestehen zwei wesentliche Limitierungen des MAGNIMS- Proposal: Einerseits gelten die abgeleiteten Empfehlungen nur für Patienten mit typischen klinischen isolierten Syndromen zwischen dem 14. und 50. Lebensjahr, andererseits, konnten sie bisher noch nicht in die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (http://www.dgn.org/) bzw. in die Empfehlungen der Multiplen Sklerose Konsensus Gruppe (MSTKG) integriert werden, so dass der Nachweis der Praxistauglichkeit außerhalb von spezialisierten Zentren aussteht. Nachfolgend wird insbesondere auf das Szenario der revidierten McDonaldKriterien zum Nachweis der zeitlichen und örtlichen Dissemination fokussiert (Tab. 5). 2.6.1. Evozierte Potentiale Der Elektrophysiologie (visuell evozierte Potenziale [VEP], somatosensible evozierte Potenziale [SSEP]) kommt wie der Liquordiagnostik ein supportiver Charakter bei der Diagnosestellung mittels der revidierten McDonald-Kriterien von 2010 zu. Formal ist die elektrophysiologische Diagnostik in die revidierten McDonald- Kriterien von 2010 nicht mehr integriert. Sie kann aber zur Objektivierung von anamnestisch geschilderten Symptomen herangezogen werden. In den revidierten McDonald-Kriterien von 2010 wurde hervorgehoben, dass für die Diagnose einer MS mindestens ein aktuelles bzw. anamnestisch berichtetes Schubereignis durch entsprechende pathologische Auffälligkeiten in der klinischen Untersuchung, der elektrophysiologischen Zusatzdiagnostik oder der MRT in Form bildmorphologischer Läsionen, welche topografisch mit der

12 · U.K. Zettl, R. Patejdl Tab. 5. McDonald- MRT- Kriterien 2005 und 2010 der zeitlichen und örtlicher Dissemination.

Örtliche Dissemination

Zeitliche Dissemination

2005

2010

3 der folgenden 4 Punkte treffen zu: 1. eine Gd-anreichernde Läsion oder ≥9 T2-Läsionen 2. ≥1 infratentorielle Läsion 3. ≥1 juxtakortikale Läsion 4. ≥3 periventrikuläre Läsionen (spinal=infratentoriell, spinale Läsionen werden zu den ≥9T2-Läsionen hinzugezählt) a) Nachweis einer neuen Gd-anreichernden Läsion mindestens 3 Monate nach dem ersten klinischen Ereignis oder

> 1 T2-Läsion in mindestens 2 der 4 Regionen: –periventrikulär, –juxtakortikal, –inflatentoriell –spinal (symptomatische Hirnstamm-/spinale Läsionen werden nicht mitgezählt)

b) Nachweis einer neuen T2-Läsion zu einem beliebigen Zeitpunkt nach einer Referenzaufnahme, die mindestens 30 Tage nach dem ersten klinischen Ereignis erfolgte

a) Gleichzeitiger Nachweis asymptomatischer Gd-anreichernder und nichtanreichernder Läsionen in einer Untersuchung oder b) Nachweis einer neuen T2-Läsion und/oder Gd-anreichernder Läsion in einem Follow-up-MRT (unabhangig vom zeitlichen Abstand zwischen den Untersuchungen)

klinischen Symptomatik vereinbar sind, objektiviert werden muss. Zusätzlich kann durch die elektrophysiologische Diagnostik in Ergänzung zum klinischen Untersuchungsbefund festgestellt werden, ob es sich zum Zeitpunkt der Diagnosestellung um einen monofokalen oder multifokalen Prozess handelt, d.h. ob eine subklinische Dissemination der Erkrankung nachgewiesen werden kann. Unabhängig von der diagnostischen Bedeutung der elektrophysiologischen Zusatzdiagnostik muss auf den Wert der Elektrophysiologie im Rahmen der individuellen Prognoseabschätzung hingewiesen werden (Kapitel 2.4.1). 2.6.2. Liquoranalytik Die Liquoranalytik, die einerseits als einzige Möglichkeit exclusive der Hirnbiopsie den chronisch-entzündlichen Charakter der Erkrankung sowie der bildmorphologische Veränderungen nachweisen kann und andererseits für die differentialdiagnostische Abklärung anderer entzündlicher Erkrankungen unabdingbar ist, wird in den revidierten McDonald-Kriterien von 2010 formal nicht mehr gefordert [48]. Aufgrund der Vereinfachung der bildgebenden Kriterien für die schubförmig verlaufende MS auf der Basis der MAGNIMS-Studien ist nach Einschätzung des Panels um Polman (2010) die Untermauerung einer subklinischen MRT-Befundkonstellation durch einen positiven Liquorbefund wie in den

Neurophysiologische Diagnostik der Multiplen Sklerose · 13 Tab. 6. MS-Diagnose nach den McDonald-Kriterien 2005 und 2010 bei primär chronischprogredientem Krankheitsverlauf. 2005

2010

1. Klinische Progression uber mindestens 1 Jahr (prospektive oder retrospektive Evaluation)

1. Klinische Progression uber mindestens 1 Jahr (prospektive oder retrospektive Evaluation) 2. PLUS 2 von 3 der folgenden Kriterien:

2. PLUS 2 von 3 der folgenden Kriterien: a) Nachweis der örtlichen Dissemination zerebral durch: ≥9 T2-Läsionen bzw. ≥4 T2-Läsionen plus pathologische VEPs b) Nachweis der örtlichen Dissemination spinal durch ≥2 T2-spinale-Läsionen c) Positiver Liquorbefund (Nachweis oligoklonaler Banden in der isoelektrischen Fokussierung und/oder autochthone IgG-Synthese)

a) Nachweis der örtlichen Dissemination zerebral durch >1 T2-Läsion in mindestens einem der Areale periventrikulär, juxtakortikal oder infratentoriell* b) Nachweis der örtlichen Dissemination spinal durch >2 T2-spinale-Läsionena c) Positiver Liquorbefund (Nachweis oligoklonaler Banden in der isoelektrischen Fokussierung und/oder autochthone IgG-Synthese)

VEP: visuell evoziertes Potenzial. a Symptomatische Hirnstamm-/spinale Läsionen zahlen nicht.

McDonald-Kriterien von 2001 und 2005 nicht mehr notwendig. Diese Änderung wurde vorgenommen, obwohl die Evaluierung der Liquoranalytik zur Erhöhung der Sensitivität und Spezifitiät der neuen bildgebenden Befunde (MAGNIMSKriterien) und der revidierten McDonald-Kriterien 2010 aussteht [49]. Für die Diagnosestellung einer primär chronisch-progredienten MS behält die Liquordiagnostik ihren Stellenwert im Vergleich der revidierten McDonaldKriterien von 2005 und 2010 bei (Tab. 6.).

3. Ausblick Einschränkend muss festgestellt werden, dass die revidivierten McDonaldKriterien von 2010 weiterhin beschränkt sind auf Patienten mit typischer CIS-Manifestation bzw. Symptomen, die ,,klassisch“ für eine entzündlichdemyelinisierende ZNS-Erkrankung sind. Ein klarer diagnostischer Algorhythmus (Laboruntersuchungen, neuropsychologische Diagnostik etc.) bzw. differentialdiagnostischer workflow sind weiterhin nicht integriert. Die prinzipiell erwünschte Vereinfachung und Beschleunigung der diagnostischen Abläufe birgt auf der anderen Seite die große Gefahr von Fehldiagnosen in sich. Vor diesem Hintergrund ist die zunehmende Dominanz der MRTKriterien in der aktuellen Revision der MC-Donald-Kriterien bei gleichzeitiger ,,Vernachlässigung“ von Elektrophysiologie und Liquoranalytik nicht unproblematisch [61,29]. Aufgrund dessen wurde von einer deutschen Expertengruppe ein optimierter Vorschlag zum praktischen Vorgehen bei Verdacht auf CIS oder MS auf der

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Abb. 4. Praktisches Vorgehen bei Verdacht auf Multiple Sklerose: Empfehlungen in Deutschland (nach [29]).

Box 3: Aktuelle Problemfelder der MS-Diagnosekriterien.  Verbesserung der Sensitivität der MRT-Kriterien ohne Spezifitätsverlust  Standardisierung der MRT-Bedingungen zur Beurteilung der räumlichen Dissemination und insbesondere der zeitlichen Dissemination  Erfassung der kortikalen MS-Läsionen bzw. Läsionen in der MRmorphologisch normal appearing white matter (NAWM)  Neue Bewertung von Zusatzdiagnostika wie Liquorbefund und der evozierten Potentiale, insbesondere der magnetisch evozierte Potentiale (MEP)  Etablierung eines praktikablen Algorithmus für die Differentialdiagnostik in praxi

Basis der revidierten McDonald-Kriterien von 2010 erarbeitet ([29], KKNMS http://www.kompetenznetz-multiplesklerose.de/ (Abb. 4). Wichtige aktuelle Problemfelder der MS- Diagnosekriterien [61,30,37] sind in Box 3 zusammengefasst.

Neurophysiologische Diagnostik der Multiplen Sklerose · 15

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt

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