ARTICLE IN PRESS
Neurophysiol. Lab. 31 (2009) 177–191
www.elsevier.de/neulab
Autonome Diagnostik in der klinischen Praxis Autonomic testing in clinical practice C.A. Haensch, und S. Isenmann Klinik fu¨r Neurologie und klinische Neurophysiologie der Universita¨t Witten/Herdecke, HELIOS-Klinikum Wuppertal, Heusnerstraße 40, D-42283 Wuppertal
Zusammenfassung Die Diagnostik einer Sto¨rung des autonomen Nervensystems (ANS) beginnt mit einer detaillierten Anamnese und klinischen Untersuchung, gefolgt von einer gezielten autonomen Testung. Nichtinvasive, klinische Funktionsuntersuchungen des autonomen Nervensystems sind weit verbreitet. Das Ziel klinischer autonomer Tests ist die Diagnosestellung autonomer Dysfunktionen, die Erfassung der Schwere und Verteilung autonomer Sto¨rungen sowie die pra¨zise neurotopische Lokalisation der betroffenen pra¨- oder postgangliona¨ren Anteile des ANS. Eine Vielzahl autonomer Funktionsuntersuchungen sind gut validiert, reproduzierbar, sensitiv und erfassen wichtige Komponenten des ANS, wie die Sudomotorik kardiovagale Innervation oder die adrenerge Blutdruckregulation. Ziel dieser U¨bersicht ist es, die Untersuchungsmethoden des ANS zu beschreiben, die ohne erheblichen zusa¨tzlichen apparativen Aufwand in der klinischen Praxis angewandt werden ko¨nnen. Schlu¨sselwo¨rter: Autonome Diagnostik; sympathische Hautreaktion; Herzfrequenzvariabilita¨t; Schellong-Test; 24-h Blutdruckmessung; Restharnbestimmung
Summary The clinical approach to any autonomic disorder begins with a detailed history, examination followed by a purposeful autonomic testing. Noninvasive, clinical tests of autonomic function are available and are in relatively wide use. The specific aim of clinical autonomic testing is to diagnose autonomic failure or dysfunction, define the severity and distribution of autonomic failure, and define the site of the lesion (preganglionic or postganglionic). There are a number of tests that are well-validated, reproducible, sensitive and evaluate important components of the autonomic nervous system (sudomotor function, cardiovagal and adrenergic function). For the purpose of this review, the clinical evaluation of autonomic function refers to the office, bedside, or prelaboratory evaluation of autonomic failure with common neurophysiological equipments without need of a specialized autonomic laboratory. Keywords: autonomic testing; sympathetic skin response; heart rate variability; Schellong test; 24h-blood pressure; postmicturation residual volume
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[email protected] (C.A. Haensch) doi: 10.1016/j.neulab.2009.04.003
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Anamnese Die Diagnostik einer Sto¨rung des autonomen Nervensystems beginnt mit einer detaillierten Anamnese. Die Anamnese soll potenziell mo¨gliche zu Grunde liegende Erkrankungen (z.B. Morbus Parkinson), die Verteilung autonomer Sto¨rungen (z.B. Sudomotorik, Vasomotorik etc.), den zeitlichen Verlauf und spezifische pathophysiologische Mechanismen (z.B. Orthostase) eruieren. Die spezielle Anamnese hinsichtlich autonomer Symptome, dem zeitlichen Verlauf, auslo¨sender, versta¨rkender oder mildernder Faktoren, Erna¨hrung und Flu¨ssigkeitszufuhr, sowie die Medikamentenanamnese sind die Vorraussetzung nicht nur fu¨r die pra¨zise gestellte Verdachtsdiagnose, sondern auch fu¨r die Interpretation der Untersuchungsbefunde autonomer neurophysiologischer Diagnostik. Der autonomen Anamnese kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da die Funktion des sta¨ndig aktiven autonomen Nervensystems ha¨ufig nur indirekt gemessen werden kann. Leider ist die vegetative Anamnese dennoch in den vergangenen Jahren in den Hintergrund geru¨ckt. Fragen nach Miktion, Defa¨kation, Herzrasen, Schwindel beim raschen Aufstehen, Erektion und Libido, Schwitzen und Schlaf sollten aber nach wie vor zu jeder Anamneseerhebung dazugeho¨ren. Die autonome Anamnese erfolgt zuna¨chst symptombezogen. Sie soll den Untersucher in die Lage versetzen, fu¨r die weiteren Untersuchungsschritte folgende notwendige Fragen zu beantworten: – Welches Organsystem ist vermutlich betroffen? – Handelt es sich um eine generalisierte oder lokalisierte autonome Funktionssto¨rung? – Ist die Sto¨rung dem zentralen autonomen Netzwerk oder dem peripheren Nervensystem zuzuordnen? – Welcher Regelkreis ist gesto¨rt? – Handelt es sich um eine sympathische, parasympathische oder enterische Sto¨rung? – Liegt der mutmaßliche La¨sionsort pra¨- oder postgangliona¨r? Damit birgt die exakte Anamnese und neurologische Untersuchung auch heute noch den Schlu¨ssel fu¨r die Festlegung des Ortes der La¨sion(en): Auf keinem anderen Gebiet der Medizin kommt es so sehr darauf an, dass der Untersucher die topographische Anatomie und die Neurophysiologie beherrscht, um dann aus der Zusammenschau einzelner Symptome auf den Ort der La¨sion zu schließen. Fragebo¨gen mit Summenscores beinhalten die Gefahr, isolierte Dysfunktionen des autonomen Nervensystems (z.B. Dopamin-ß-HydroxylaseMangel) zu u¨bersehen [1]. Die autonome Anamnese orientiert sich neben den im Vordergrund stehenden subjektiven Beschwerden des Patienten an den Organsystemen: Orthostatische Intoleranz, urogenitale, gastrointestinale und vasomotorische Beschwerden sind ebenso wie Sto¨rungen des Schwitzens oder des Schlafes zu erfragen. Fu¨r die
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richtige diagnostische Zuordnung synkopaler Zusta¨nde ist eine exakte Fremdanamnese essentiell. Die orthostatische Intoleranz ist ein besonders ha¨ufiges Schlu¨sselsymptom autonomer Insuffizienz. Ha¨ufig klagen die Patienten u¨ber diffuse Sehsto¨rungen, Schwarzwerden vor den Augen, Benommenheit und Schwa¨che. Weiterhin sind Angst, U¨belkeit, Erbrechen, Schwindel, Mu¨digkeit, Herzklopfen, Herzrasen, Bla¨sse, kalte Haut, Schweißausbruch, Vera¨nderung der Farben/Farbverlust des visuellen Eindrucks, Tunnelsehen, Sehen eines hellen Lichts, Gefu¨hl der Leere im Kopf, Denkbeeintra¨chtigung, Kopfschmerzen, Schmerzen im Bereich des Nackens/Hinterkopfes/Schultern, Schmerzen im Bereich des Ru¨ckens, Schmerzen im Bereich des Brustkorbs und Vera¨nderungen der Ho¨reindrucks zu erfragen [2]. Schwindel als Ausdruck einer gesto¨rten Gleichgewichtsregulation umfasst die verschiedensten subjektiven Empfindungen. Schwindel und Benommenheit werden von u¨ber 30% der u¨ber 65-Ja¨hrigen berichtet [3]. Dies sind auch die ha¨ufigsten Beschwerden in einer Allgemeinarztpraxis bei Patienten u¨ber dem 75. Lebensjahr. Die Pra¨valenz von Schwindel liegt bei den Hochbetagten u¨ber 80 Jahren sogar bei 39%. Pra¨diktoren einer kardiovaskula¨ren Genese des Schwindels sind vorhergehende Synkopen, Benommenheit, der Drang zu sitzen oder zu liegen um Beschwerden zu vermeiden, Bla¨sse mit Symptomen, langes Stehen als auslo¨sende Situation und vorbestehende kardiovaskula¨re Erkrankungen. Winker et al. konnten mit einem Fragebogen zu Symptomen der orthostatischen Intoleranz mit Hilfe eines Scores mit einer Wahrscheinlichkeit von 93.48% eine orthostatische Dysregulation wa¨hrend der Kipptischuntersuchung vorhersagen [4]. Die Schwere einer orthostatischen Intoleranz kann mit der ,Orthostatischen Intoleranz Skala‘ nach Schrezenmaier graduiert werden [5].
Klinische Untersuchung Bei der Inspektion der Haut ist auf Akrozyanose, Bla¨sse, Marmorierung oder Ro¨tung sowie lokale Vera¨nderungen von Temperatur und Farbe zu achten. Schweißsekretionssto¨rungen lassen sich auf Grund der trockenen Haut einfach erfassen. Die Fu¨sse sollten untersucht werden. Ein Hohlfuss tritt bei der heredita¨ren sensorischen und autonomen Neuropathie Typ I auf. Auf Schweißbildung an den Socken sollte geachtet werden. Fehlende Behaarung, Nagelvera¨nderungen und atrophe Haut weisen auf trophische Vera¨nderungen hin [6]. Weißer Dermographismus nach kurzer im Druck intensiver mechanischer Reizung der Haut tritt bei erho¨htem Sympathikotonus auf [7]. Unterschiede der Hauttemperatur der Extremita¨ten ko¨nnen mit einem Oberfla¨chenthermometer leicht quantifiziert werden. Seitendifferenzen 4 1,5 1C gelten als pathologisch. Ausdruck einer gesto¨rten Sympathikusinnervation ist die fehlende Pilomotorenreaktion , das reflektorische Sichaufrichten der Ko¨rperhaare (Piloarrektion, Ga¨nsehaut‘‘) auf Ka¨lte- oder Strichreiz der Haut [8]. Die klinische Untersu’’ chung der Pupillen muss Form, Gro¨ße und die Reaktionen auf Licht und Ak-
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kommodation beru¨cksichtigen. Folge einer ha¨ufig im Vordergrund stehenden sympathischen Scha¨digung ist eine Miosis. Bei zuna¨chst nicht lichtreagiblen Pupillen sollte die Lichtreaktion mit einem mindestens 5 Sekunden anhaltenden Lichtreiz u¨berpru¨ft werden um eine tonische Pupillensto¨rung nachzuweisen. Auch die Redilatation nach Pupillenkonstriktion kann verzo¨gert oder fehlend sein. Das Horner-Syndrom tritt einseitig auf, die Pupille ist klein und regelma¨ßig. Gleichzeitig findet sich eine Ptosis des Augenlides und ha¨ufig ein Verlust der Schweißsekretion im Stirnbereich der betroffenen Seite. Die Ptosis la¨sst den Bulbus kleiner erscheinen. Das Horner-Syndrom wird verursacht durch eine Unterbrechung sympathischer Nervenfasern, meist im Halsbereich. Die Pupille reagiert auf Licht und Konvergenz. Eine verminderte Tra¨nensekretion kann mit dem Schirmer-Test nachgewiesen werden: Ein 0.5 cm breiter, 3.5 cm langer Filterpapierstreifen wird an der Unterlidkante eingelegt. Physiologisch sind nach 5 Minuten 4 15 mm des Streifens befeuchtet. Auf eine ha¨ufig mit Schmerzen einhergehende neuropathische Gelenkfehlstellung ( Charcot-Fuss‘‘) ist zu achten. Beim Posturalen Tachykardiesyndrom ’’ ko¨nnen die Gelenke bei gleichzeitigem Vorliegen eines Ehlers-Danlos-Syndrom u¨berstreckbar sein. Blutdruck und Puls werden im Liegen und zumindest nach 1 Minute Stehen gemessen, unter Umsta¨nden auch noch nach 10 Minuten. Ha¨ufig sind Patienten mit einer chronischen orthostatischen Hypotonie gut angepasst, so dass bei alleinigem Vertrauen auf die Schilderung einer orthostatischen Intoleranz eine solche Erkrankung u¨bersehen werden kann. Eine orthostatische Hypotonie, definiert als Blutdruckabfall systolisch 4 20 oder diastolisch 4 10 mmHg im Stehen, ohne reflektorische Tachykardie weist auf ein generalisiertes Baroreflexversagen mit gesto¨rter sympathisch vermittelter Vasomotorik und parasympathischer kardiovagaler Dysfunktion hin. Bei der Palpation des Puls ist auf das Vorhandensein einer respiratorischen Sinusarrhythmie zu achten. Weitere klinische Zeichen einer kardialen Neuropathie sind eine Ruhetachykardie und orthostatische Hypotonie mit einer eingeschra¨nkten oder aufgehobenen circadianen Rhythmik des Blutdruckverhaltens in der 24-Stunden-Blutdruckmessung [9]. Subjektiv besteht eine verminderte Herzwahrnehmung, die sich in eingeschra¨nkten oder aufgehobenen stenokardischen Beschwerden a¨ußern kann. Weitere Zeichen sind eine Belastungsintoleranz mit gesto¨rter Frequenz- und Blutdruckanpassung sowie unter Umsta¨nden eine Verla¨ngerung der relativen QT-Dauer u¨ber 430 msec. Weiterhin sind insbesondere intra- und postoperativ abnorme Frequenz- und Blutdruckreaktionen zu beachten. Deshalb sind bei entsprechenden Verdachtsmomenten pra¨operativ Tests der Herzfrequenz- und der Blutdruckreaktion unbedingt erforderlich. Die klinische Untersuchung des enterischen Nervensystems umfasst die rektale Untersuchung zur Beurteilung des Sphinctertonus und den Analreflex. Die Beru¨hrung zirkula¨r rechts und links u¨ber die perianale Haut fu¨hrt als afferent und efferent durch den N. pudendus (S3–S5) innervierter Fremdreflex zu einer Kontraktion des Sphincter externus. Der Kremasterreflex wird durch das Bestreichen der Haut an der Innenseite des proximalen Oberschenkels ausgelo¨st und fu¨hrt durch Innervation des N. genitofemoralis (L1–L2) zu einem Aufstei-
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gen des ipsilateralen Hodens. Beim Bulbokavernosusreflex wird nach leichtem Kneifen der Glans penis eine Kontraktion des M. bulbocavernosus ausgelo¨st. Diese Reflexantwort wird vom N. pudendus (S3–S4) vermittelt.
Apparative Zusatzuntersuchungen Kreislaufsystem Messung der arteriellen Blutdruckregulation Da die Aktivita¨t blutdruckregulierender, autonomer Nervenfasern in der klinischen Praxis nicht direkt gemessen werden kann, werden in der autonomen Funktionsdiagnostik kardiovaskula¨re Reflexantworten untersucht [10]. Autonome Reflexe halten den Blutdruck im Stehen aufrecht. Die einfache Messung der Blutdruck- und Herzfrequenzvera¨nderung vom Liegen zum Stehen ist daher der wichtigste Test der autonomen kardiovaskula¨ren Reflexe. Beim Gesunden findet sich ein leichter Anstieg des diastolischen Druckes um 3–5 mm Hg und ein geringer Abfall des systolischen Blutdruckes um 5–10mm Hg. Die Herzfrequenz steigt um bis zu 20 Schla¨ge pro Minute [11]. Schellong-Test Autonome Reflexe halten den Blutdruck nach Lagewechsel in die aufrechte Ko¨rperposition stabil. Eine orthostatische Hypotonie ist das ha¨ufigste Leitsymptom einer autonomen Sto¨rung. Durch das aktive Aufstehen beim SchellongTest oder das passive Aufrichten im Kipptischversuch werden 300–800 ml Blut in die veno¨sen Kapazita¨tsgefa¨ße der unteren Extremita¨ten verlagert. Dies fu¨hrt durch Aktivierung barorezeptorischer Afferenzen zu einer kompensatorischen Vasokonstriktion und Herzfrequenzzunahme. Diese Gegenregulation ist beim Gesunden im Mittel nach 19 Sekunden mit einer oberen Normgrenze von 38 Sekunden abgeschlossen [12]. Schellong-Test: Zuna¨chst wird der Blutdruck zweimal innerhalb einer Minute im Liegen gemessen, anschließend direkt nach aktivem Aufstehen und danach alle 30 Sekunden u¨ber mindestens drei Minuten. Man definiert die systolische Blutdrucka¨nderung als Differenz zwischen dem letzten Wert vor dem Aufstehen und dem niedrigsten Wert nach dem Aufstehen [13]. Da im Kipptischversuch durch passives Aufrichten und Fixierung des Probanden die aktive Muskelpumpe aufgehoben wird, finden sich hier im Vergleich zum physiologischen aktiven Aufstehen im Schellong-Test ha¨ufiger pathologische Reaktionen. 24-h-Blutdruckmessung Die diskontinuierliche Blutdruckmessung mit portablen Gera¨ten nach dem oszillatorischen oder Korotkoff-Prinzip ermo¨glichen eine regelma¨ßige Blutdruckbestimmung in 15- oder 30-Minuten-Intervallen u¨ber 24 Stunden. Eine erhaltene zirkadiane Blutdruckrhythmik wird angenommen, wenn im Tagesintervall von 7:00 bis 22:00 der Blutdruck um 10–15% u¨ber den Werten des
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Nachtintervalls von 22:00 bis 7:00 liegt. Ursa¨chlich fu¨r einen fehlenden TagNacht-Rhythmus sind neben sekunda¨ren Hypertonieursachen (Nierenarterienstenose, Pha¨ochromozytom, Hyperthyreoidismus, Eklampsie, Schlaf-ApnoeSyndrom, diabetische Nephropathie u.a.) Sto¨rungen des peripheren und zentralen autonomen Nervensystems bei Morbus Parkinson, Multisystematrophie, autonomer diabetischer Neuropathie u.a. Herzfrequenzvariabilita¨tsanalyse Zur Quantifizierung der Herzfrequenzvariabilita¨t (HFV) werden Maße im Zeit- und Frequenzbereich benutzt. Zeitbereichsmaße (Mittelwert, Standardabweichung [SD], Variationskoeffizient [VK], RMSSD, E/I-Ratio) sind einfach zu berechnen und ko¨nnen sehr verschiedene Anteile der Gesamtvariabilita¨t der Herzfrequenz beinhalten. Der Mittelwert und die Standardabweichung ([SD], Dispersion der Einzelwerte um den Mittelwert) sind statistische Gro¨ßen zur Beschreibung einer Herzfrequenzzeitreihe. Extrasystolen, Trends und andere Rauschanteile beeinflussen beide Maße und fu¨hren zur groben Verscha¨tzung. Die SD als Quadratwurzel aus der Summe, der quadrierten Differenzen der Einzelwerte um Mittelwert ist auch abha¨ngig von der Zahl der Beobachtungen d.h., je gro¨ßer die Zahl der Herzschla¨ge in einem Zeitabschnitt ist, um so geringer ist die SD. Die Standardabweichung von der mittleren RR-Intervalldauer gibt jedoch keinerlei Auskunft u¨ber die Art der Variabilita¨t, so kann sie bei einer Aufzeichnung mit wenigen starken periodischen und einer anderen mit zahlreichen geringeren, eher zufa¨lligen Fluktuationen vo¨llig identisch sein. Der Variationskoeffizient (VK) wird berechnet nach: SDx100 . Mittelwert Der VK wird nicht von der Herzfrequenz beeinflusst. Der Parameter der so genannten Respiratorische Sinusarrhythmie‘‘ (RSA) ’’ gibt den Median der Differenzen der maximalen und minimalen RR-Absta¨nde pro Atemzyklus an. Der Median hat gegenu¨ber dem Mittelwert den Vorteil, dass er sehr viel unempfindlicher gegen Ausreißer ist. Die RSA wird bei einer vertieften Atmung mit 6 Atemzu¨gen pro Minute bestimmt, da sie unter dieser Bedingung physiologisch am sta¨rksten ausgepra¨gt ist. Der RMSSD (‘‘Root mean square of successive differences’’) ist ein Maß fu¨r die Streuung aufeinander folgender RR-Intervalle. Er wird berechnet nach: rffiffiffiffiffiffiffiffiffi 1 X ðRRiþ1 RRiÞ2 . RMSSD ¼ N i1
VK ¼
Dieses Maß ist wenig trendempfindlich und fu¨hrt zu einer sta¨rkeren Bewertung der Anteile der Herzfrequenzvariabilita¨t mit ho¨herer Schwankungsfrequenz. Daher ist der RMSSD insbesondere ein Maß fu¨r die parasympathische Aktivita¨t. Die E/I-Ratio gibt die Herzfrequenzvariation an, die bei regelma¨ßiger vertiefter Atmung und vorgegebener Atemfrequenz von 6 Atemzu¨gen/Minute er-
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mittelt werden kann. Es wird u¨ber eine bestimmte Anzahl von Atemzyklen der Quotient aus dem Mittelwert der la¨ngsten RR-Intervalle wa¨hrend der Exspiration (E) und dem Mittelwert der ku¨rzesten RR-Intervalle wa¨hrend der Inspiration (I) gebildet. Diese Methode ist unabha¨ngig von der zugrunde liegenden Herzfrequenz. Die vektorielle Berechnung der Mean circular resultant (MCR) geht von der Vorstellung aus, dass die Herzschla¨ge als Ereignisse in der Zeit auf einem Einheitskreis, dessen Umfang der La¨nge eines Atemzyklus entspricht, dargestellt werden ko¨nnen. Wenn keine atemabha¨ngige Herzfrequenzvariabilita¨t bestu¨nde, wa¨ren die Punkte auf diesem Einheitskreis zufa¨llig verteilt, bei regelma¨ßiger Variabilita¨t tendieren die Herzschla¨ge hingegen zur Clusterbildung auf dem Kreis. Die La¨nge eines entsprechend berechneten Vektors aus 25 Atemzu¨gen ist dann proportional zu dieser Clusterbildung: je la¨nger der Vektor, desto gro¨ßer die Herzfrequenzvariabilita¨t. Je gro¨ßer der MCR, desto gro¨ßer die atemabha¨ngige Periodizita¨t der Herzfrequenz. Hier ist jedoch eine gute Patientenkooperation notwendig, da die La¨nge der Atemzu¨ge mo¨glichst gleich bleiben muss. Die Methode ist gegenu¨ber Extrasystolen unempfindlich. Die Spektralanalyse der Herzfrequenz ermo¨glicht den sympathischen und parasympathischen Einfluss auf das Herz anna¨hernd getrennt zu quantifizieren [14]. Die Fourieranalyse zerlegt ein periodisches Signal in die Summe von Sinusbzw. Kosinusschwingungen verschiedener Frequenzen, Phasen und Amplituden. Fu¨r die Analyse der diskontinuierlichen Herzfrequenz kommt die Fast-Fourier’’ Transformation‘‘ (FFT) zur Anwendung. Die rhythmischen Komponenten unterliegen vielfa¨ltigen Einflu¨ssen, unter anderem Alter, Atmung, Tageszeit, Nahrungsaufnahme und Ko¨rperposition. Im mittelfrequenten Leistungsbereich um 0,05–0,15 Hz stellt sich die gemischt parasympathisch und sympathisch vermittelte Aktivita¨t der Barorezeptoren dar. Demgegenu¨ber spiegelt der hochfrequente Leistungsanteil um 0,15–0,5 Hz die respiratorische Sinusarrhythmie, die durch parasympathische Efferenzen vermittelt wird, wieder. Der Quotient aus mittelfrequenten und hochfrequenten Leistungsdichte in der Spektralanalyse der Herzfrequenzvariabilita¨t kann als Ausdruck der sympathisch und parasympathischen Balance interpretiert werden. Die neueren auf dem Markt befindlichen EMG- und EVOP-Messpla¨tze haben eine Software zur Bestimmung der zeitbasierten und zum Teil auch der frequenzbasierten Analyse der Herzfrequenzvariabilita¨t implementiert (Abb. 1). Die Ableitung des EKGs zur HFV-Analyse ist methodisch einfach. Methodenabha¨ngige Normwerte sollten jedoch nur sehr zuru¨ckhaltend aus der Literatur u¨bernommen werden [12,15–20]. Auf standardisierte Untersuchungsbedingungen ist zu achten.
Valsalva-Versuch Ausdruck eines intakten Barorezeptorreflexes wa¨hrend des Valsalva-Versuches sind: 1. eine Tachykardie und periphere Vasokonstriktion wa¨hrend des Pressens gegen einen definierten Widerstand und 2. eine relative Bradykardie infolge eines u¨berschießenden Blutdruckanstieges durch fortdauernde Vaso-
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Abbildung 1. Zeit- und frequenzbasierte Analyse der Herzfrequenzvariabilita¨t mit EMG- und EVOP-Messplatz.
konstriktion nach dem Pressen [21]. Dieser komplexe Test bezieht die Integrita¨t verschiedener afferenter autonomer Rezeptoren (z.B. Barorezeptoren des Hochund Niederdrucksystems, Chemorezeptoren), komplexer zentraler autonomer Interaktionen und die efferenten sympathischen und vagalen Mechanismen ein [22]. Das Valsalva-Mano¨ver evaluiert damit den Baroreflexbogen und seine sympathischen und parasympathischen Reaktionen. Sympathikusaffektionen gehen mit einem kontinuierlichen Blutdruckabfall wa¨hrend des Pressens und anschließenden langsamen Anstieg bis zum Ausgangswert einher. Der Quotient (‘Valsalva-Ratio’) aus dem la¨ngstem RR-Intervall nach dem Pressen und dem ku¨rzestem wa¨hrend des Pressens gibt Aufschluss u¨ber die parasympathische Innervation des Herzens [10]. Bei einer La¨sion des Parasympathikus wird die typische Vera¨nderung der Herzfrequenz vermisst, und es besteht eine mehr oder weniger stark ausgepra¨gte Herzfrequenzstarre. Durchfu¨hrung: Der sitzende Proband presst wa¨hrend einer EKG-Ableitung ohne vorherige tiefe Inspiration fu¨r 15 Sekunden u¨ber ein Schlauchsystem mit Mundstu¨ck gegen einen definierten Widerstand von 20–40 mm Hg. Zur Druckmessung kann ein handelsu¨bliches Sphygmanometer mit einer 5 ml-Einmalspritze modifiziert werden. Aufgrund der potenziellen Gefahr der Auslo¨sung von Netzhaut- bzw.
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Glasko¨rperblutungen soll das Valsalva-Mano¨ver bei Patienten mit proliferativer Retinopathie nicht durchgefu¨hrt werden.
Sudomotorik Sympathische Hautreaktion (SSR) Die sympathische Hautreaktion (SSR) dient zum Nachweis und zur Quantifizierung von Scha¨digungen der sympathisch-sudomotorischen Innervation des autonomen Nervensystems [23]. Durch Reizung mit Elektroimpulsen oder Tonreizen kann die SSR bilateral von Ha¨nden, Fu¨ßen oder penil abgeleitet werden. Normwerte wurden fu¨r Latenzen und Amplituden an gesunden Probanden bestimmt. Der gro¨ßte Vorteil der Methode ist ihre Einfachheit, daher kann sie auch in jeder Praxis angewandt werden. Von Nachteil ist die erhebliche Variabilita¨t und Habituation der Reizantwort [24]. Die Ableitung der SSR kann unter anderem zur Diagnose von autonomen Sto¨rungen bei Polyneuropathien, Ru¨ckenmarkerkrankungen [25–27], Parkinson-Syndrom und Multipler Sklerose [28] verwendet werden. Die ekkrinen Schweißdru¨sen der Haut werden rein sympathisch innerviert und nutzen Acetylcholin als Neurotransmitter. Emotionale oder sensorische Reize aktivieren beim gesunden Menschen das autonome Nervensystem. Die damit verbundene Aktivierung der sympathisch-sudomotorischen Fasern fu¨hrt durch die synchronisierte Aktivierung der Schweißdru¨sen zu einer voru¨bergehenden Potenziala¨nderung der Hautoberfla¨che und zu einer Verminderung des Hautwiderstandes. Die Messung der SSR erlaubt damit Aussagen u¨ber den Zustand autonomer, sympathischer C-Fasern. Normwerte wurden fu¨r Latenzen und Amplituden an gesunden Probanden bestimmt. Beim Gesunden ist eine SSR an Ha¨nden und Fu¨ßen nach Ton- und Stromreiz immer erha¨ltlich. Von Nachteil ist die erhebliche Variabilita¨t und Habituation der Reizantwort. Die SSR werden durch unterschiedliche sensorische Reize (elektrisch, akustisch u.a.) ausgelo¨st, so dass die Latenz der SSR sich aus drei Anteilen zusammensetzt: 1. afferente Leitungszeit (reizabha¨ngig); 2. zentrale Verarbeitungszeit und 3. sudorimotrisch-efferente Leitungszeit. Die afferente Leitungszeit ist reizspezifisch, macht jedoch auch bei elektrischer Stimulation an den unteren Extremita¨ten weniger als 5% der Latenz aus und ist daher bei der Bewertung der SSR-Gesamtlatenz zu vernachla¨ssigen. Die Auslo¨sung der SSR im ZNS du¨rfte in der Regel unter Beteiligung des Hypothalamus erfolgen, der wiederum unter der Kontrolle des limbischen Systems steht. Daneben ko¨nnen auch die Basalganglien, der praemotorische Kortex sowie die Formatio reticularis auf die Entstehung der SSR Einfluss nehmen. Dadurch ko¨nnen nicht nur thermoregulatorisch relevante Vera¨nderungen, sondern auch emotional bedeutsame Reize eine SSR hervorrufen. Die efferente Leitungszeit ergibt sich aus der Strecke der sympathisch-sudorimotorischen Fasern bis zum Ableitungsort. Diese verlaufen vom Hypothalamus aus ungekreuzt durch den Hirnstamm und steigen ipsilateral entlang der lateralen Sa¨ule spinal ab. Die erste Umschaltung erfolgt im Seitenhorn des Ru¨ckenmarks auf das praegangliona¨re Neuron. Nach dem Austreten mit den Vorderwurzeln erfolgt die zweite Umschaltung auf das
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postgangliona¨re Neuron im Grenzstrang. Die postgangliona¨ren Neuriten ziehen als sympathisch-sudorimotorischen Fasern zusammen mit den u¨brigen Anteilen des peripheren Nerven bis zur neuroglandula¨ren Verbindung. Die sympathisch-sudorimotorischen Fasern im ZNS und die Efferenzen des praegangliona¨ren Neurons sind myelinisiert ( B-Fasern‘‘); postgangliona¨r ’’ geho¨ren die Fasern den marklosen C-Fasern an. Die sympathische Innervation der Schweißdru¨sen erfolgt u¨ber die Spinalsegmente Th2–L2: Spinalsegmente Spinalsegmente Spinalsegmente Spinalsegmente Spinalsegmente
Th Th Th Th Th
2/3–4 Kopf, Hals und Nacken 5–7 Hand 3–7 obere Extremita¨ten 6–10 Rumpf 10–L 2 untere Extremita¨ten und Fu¨ße.
Die physiologischen Grundlagen der Hautpotentiala¨nderung sind noch nicht vollsta¨ndig gekla¨rt. Es ist jedoch allgemein akzeptiert, dass Potentiala¨nderungen, die im Zusammenhang mit der Aktivierung der Schweißdru¨sen auftreten, Zeitpunkt und Form der SSR bestimmen. Zu beachten ist, dass anticholinerg wirkende Substanzen die SSR reduzieren ko¨nnen. Die SSR werden in der neurophysiologischen Diagnostik bei folgenden Indikationen eingesetzt: – Objektive Quantifizierung von La¨sionen im a. peripheren sympathischen Nervensystem b. zentralen sympathischen Nervensystem – Nachweis klinisch latenter La¨sionen im sympathischen Nervensystem – Lokalisation von autonomen La¨sionen – Differenzierung von radikula¨ren La¨sionen gegenu¨ber Plexusaffektionen – Zur Verlaufsbeurteilung unter Therapiemaßnahmen (Monitoring). Die Potential-Vera¨nderungen der SSR sind ebenso wie die Vera¨nderungen anderer elektrophysiologischer Parameter nicht krankheitsspezifisch. Reiztechnik Der Patient soll wach und entspannt sowie frei von sto¨renden Außenreizen auf einer Sitzliege bequem ruhen. Die Raumtemperatur soll zwischen 22 und 25 1C liegen. Die Atmung hat ruhig und ohne Vertiefungen zu erfolgen, da nicht nur a¨ußere Reize sondern auch tiefe Atemzu¨ge eine sympathische Hautreaktion auslo¨sen ko¨nnen. Nach 3maliger unregelma¨ßiger und damit unerwarteter Stromimpulsreizung erfolgt nach etwa 2–3 min 3 mal die Tonreizung. Ku¨rzere oder fu¨r den Probanden vorhersehbare Reizfolgen verursachen eine wesentlich sta¨rkere Habituation, so dass eine Amplitudenreduktion oder gar ein Potentialverlust die Folge wa¨ren. Gelegentlich werden auch andere Reizorte wie z.B. die Stirnmitte oder der N. supraorbitalis verwandt, wobei die Ergebnisse keine Unterschiede aufweisen.
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Ansteigende elektrische Reizsta¨rken ko¨nnen nach eigener Erfahrung zur Reduktion oder zum Verschwinden einer zu starken Habituation beitragen. Bei Ableitung an der Handinnenfla¨chen wird der N. tibialis am Malleolus medialis gereizt, bei Ableitung an den Fußsohlen erfolgt die Stimulation des N. medianus am Handgelenk mit bipolaren Oberfla¨chenelektroden. Der Tonreiz wird binaural u¨ber Kopfho¨rer appliziert und ist dem Click-Reiz wegen geringerer Habituation und besserer Potentialauspra¨gung u¨berlegen. Eine Lautsta¨rke von 80 dB – d.h. 40–50 dB u¨ber der Ho¨rschwelle – bringt nach unseren Erfahrungen optimale SSR-Amplituden hervor. Die Ableitorte fu¨r die indifferenten Elektroden werden mit einer Schmirgellotion gereinigt, damit der Haut-Elektroden-Widerstand unter 5 kOhm liegt. Die Schmirgel-Vorbehandlung sollte an den differenten Ableitorten unterbleiben, da das Schmirgeln eine empfindliche Sto¨rung des Haut-Schweißdru¨senSystems hervorrufen kann. Niemals sind die Elektroden auf Hornhaut zu plazieren, da dort keine SSR zu erwarten ist. Die Ag/AgCl – Napfelektroden werden mit Kleberingen fixiert, nachdem eine schweißisotone Paste eingebracht wurde. Routinema¨ßig werden folgende Ableitorte jeweils zeitgleich beidseitig verwandt: – Radiale Handinnenfla¨che (Versorgungsgebiet des N. medianus) verschaltet gegen das obere Drittel der Oberarminnenseite – Mediale Fußsohle (N. plantaris medialis) verschaltet gegen die untere Tibiakante. Die Elektroden an der Unterarminnenseite oder Tibiakante werden als in’’ differente‘‘ Elektroden definiert und entsprechend verschaltet. Bei der Fragestellung C8-Syndrom oder N. ulnaris-Affektion kann eine Ableitung an den ulnaren Handinnenfla¨chen im Versorgungsgebiet des N. ulnaris durchgefu¨hrt werden. Die Analysezeit soll 10 s betragen, da bei 5 s das Potential ha¨ufig nicht mehr in seiner Gesamtheit dargestellt wu¨rde. Die Grenzfrequenzen sind auf 0,1 (untere Grenzfrequenz) und 500 Hz (obere Grenzfrequenz) einzustellen. Eine Aufsummierung ist nicht empfehlenswert, weil die Konfiguration selbst in Serie abgeleiteter Potentiale sehr unterschiedlich sein kann und dann eine Aufsummierung zur Auslo¨schung fu¨hren ko¨nnte. Es wird mindestens 3mal gemessen und immer die ku¨rzeste Latenz bestimmt. Auswertung [25,29,30] Eine Reizantwort wird als solche erkannt, wenn sie zumindest einmal reproduzierbar ist und eine Amplitude von mindestens 50 mV erreicht; andernfalls wird das Fehlen der SSR angenommen. Es werden die Potentiale mit der ku¨rzesten Latenz und der ho¨chsten Amplitude zur Beurteilung ausgewa¨hlt. Der Null-Linienabgang erha¨lt die Bezeichnung P 0, die nach oben gerichteten Gipfel
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werden mit N und fortlaufenden Ziffern, die nach unten gerichteten Gipfel mit P und fortlaufenden Ziffern gekennzeichnet. Die Bewertung erfolgt fu¨r die absoluten Latenzen und Amplituden, ihre Relation im Seitenvergleich und das Verha¨ltnis von P 0 der Ha¨nde gegenu¨ber dem P 0 der Fu¨ße. Es ist darauf zu achten, dass Seitendifferenzen nur bei parallel abgeleiteten Potentialen nach demselben Stimulus bestimmt werden du¨rfen. Physiologischerweise ist die SSR immer und reproduzierbar sowohl von den Handinnenfla¨chen als auch an den Fußsohlen nachzuweisen, unabha¨ngig ob die Reizung elektrisch oder mittels Tonreiz erfolgt. Dagegen ist bei 15–20% der Gesunden kein SSR von der Poplitea oder dem Penis zu erhalten. Die Konfiguration der SSR kann mono-, bi- oder triphasisch mit initial negativem oder positivem Abgang sein. Am ha¨ufigsten sind mono- oder biphasische Potentiale mit einem negativen 1. Gipfel N 1. Erfolgen die Messungen gleichzeitig parallel an Ha¨nden und Fu¨ßen, werden in ca. 85% die gleichen Konfigurationen an der rechten und linken Seite gefunden [30]. Die Absolutwerte der Amplituden weisen eine große Spannweite auf und folgen keiner Normalverteilung. Daher ist nur der Median und die untere Normgrenze angegeben. Die Amplituden sind nach Stromreiz ho¨her als nach Tonreizen. Die relativen Seitendifferenzen der Amplituden sind dagegen normalverteilt, so dass hier mit Mittelwert und Standardabweichung gearbeitet werden muss; fu¨r die klinische Auswertung liefern die Seitendifferenzen der Amplituden ha¨ufiger relevante Ergebnisse. Jod-Sta¨rke-Test nach Minor [31] Prinzip: Jod, Sta¨rke und Wasser bilden einen schwarzvioletten Farbkomplex. Durchfu¨hrung: 1. Schwitzen wird durch ASS und Tee induziert 2. Am liegenden Patienten wird die zu testende Ko¨rperregion mit der Jodlo¨sung auf einem Wattebausch bestrichen (Jodi puri 1,5; Olei rhicini 10,0, Spiritus 96% ad 100) 3. Die Fla¨che wird mit Sta¨rke fein besta¨ubt 4. Fla¨che wird gleichma¨ßig erhitzt. Die nicht oder schlecht schwitzenden Ko¨rperpartien bleiben weiß oder schwa¨rzen sich geringer an. Ninhydrin-Test nach Moberg Fu¨r Hand- und Fußfla¨chen geeignet Prinzip: Nachweis von Aminosa¨uren im Schweiß. 1. Hand oder Fuß werden fest auf ein sauberes Blatt Papier gedru¨ckt, die Umrisse werden eingezeichnet. 2. Das Blatt wird durch 1%ige Ninhydrinlo¨sung in Aceton+einige Tropfen Eisessig gezogen. 3. Im Heißluftsterilisator bei 1101 2–3 Minuten erhitzt.
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Die von schweiß-sezernierender Haut beru¨hrten Papierstellen fa¨rben sich violett, der anhydrotische Bezirk bleibt weiß.
Urogenitaltrakt Die Restharnmessung (sonographisch oder per Einmalkatheterismus) wird als Screeningmethode empfohlen. Ein Blasenvolumen u¨ber 500 ml ist pathologisch, ebenso ein Restharns nach Miktion von u¨ber 50 ml. Die klinische Neurophysiologie umfaßt das EMG des M. sphincter ani externus (vom N. pudendus innerviert), die cortikale und lumbale Magnetstimulation, den Bulbocavernosusreflex, die Pudendus-SEP und die sympathische Hautreaktion am Penis und von den Fu¨ßen [32]. Die Ableitung des EMG des M. sphincter ani externus erfolgt in Seitenlage mit konzentrischen Nadelelektroden auf beiden Seiten. Die Untersuchung dient dem Nachweis einer La¨sion im Verlauf des N. pudendus, des Plexus pelvicus, der Wurzeln S2–S4 bzw. der Motoneurone im sakralen Miktionszentrum. Es wird auf das Vorliegen pathologischer Spontanaktivita¨t, Dauer, Amplitude und Konfiguration der Potentiale motorischer Einheiten geachtet. Erschwert wird die Untersuchung durch eine hohe Ruheaktivita¨t des Muskels. Erga¨nzend kann die transanale motorische Neurographie des N. pudendus eine distale La¨sion des N. pudendus z.B. bei einem pathologischen EMG des M. sphincter ani externus nachweisen. Die Magnetstimulation des N. pudendus ergibt Aufschlu¨sse u¨ber die Efferenz des Nerven nach schmerzloser Stimulation des Motorcortex und u¨ber dem Spinalkanal und ist insbesondere hilfreich in der Lokalisation spinaler Leitungssto¨rungen. Der Bulbocavernosusreflex wird durch einen elektrischen Reiz des N. dorsalis penis mittels Ringelektroden am Penis (bei Frauen mit Clip-Elektroden an der Klitoris) evoziert und die Reflexantwort mit Nadelelektroden vom M. bulbocavernosus abgeleitet. Der Reflex wird zur seitengetrennten Untersuchung des N. pudendus sowie zum Nachweis von La¨sionen der Cauda equina und des Conus medullaris verwandt. Die Ableitung kortikaler und spinaler somatossensorisch evozierter Potentiale nach Stimulation des N. pudendus (Pudendus-SEP) liefert wichtige Hinweise ob es sich um eine periphere oder zentrale La¨sion somatischer Afferenzen handelt.
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