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Evidenz im Blick
Barrieren der Hausärzte gegen Evidenzbasierte Medizin – ein Verständnisproblem? Eine qualitative Studie mit Hausärzten Regine Bölter ∗ , Thomas Kühlein, Dominik Ose, Katja Götz, Tobias Freund, Joachim Szecsenyi, Antje Miksch Universitätsklinikum Heidelberg, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung
Zusammenfassung Das Chronic Care Modell (CCM) als ein Rahmenkonzept zur strukturierten Versorgung chronisch Kranker sieht unter anderem den Zugang und die Kenntnis von wissenschaftlicher Evidenz für Ärzte und Patienten als zentrale Vorraussetzung. Dadurch sollen gemeinsame Therapieentscheidungen von Arzt und Patient auf der Basis der individuellen Bedürfnisse des Patienten und der bestmöglichen externen Evidenz ermöglicht werden. Bisher ist wenig darüber bekannt, inwieweit Hausärzte tatsächlich evidenzbasierte Informationen und Leitlinien nutzen und ob und wie sie diese an Patienten weitergeben. In dieser Studie wurden 14 Interviews mit Hausärzten durchgeführt und qualitativ-inhaltsanalytisch ausgewertet. Die meisten befragten Hausärzte stehen evidenzbasierten Leitlinien skeptisch gegenüber. Zentraler Kritikpunkt der Hausärzte ist dabei, dass Leitlinien zu wenig den Bezug zur Lebenswelt des individuellen Patienten herstellen würden. Stattdessen betonen die interviewten Hausärzte den Wert der „gelebten Anamnese’’ und der kontinuierlichen Betreuung von Patienten mit Kenntnissen der persönlichen Lebensumstände. Da Leitlinien von
den Ärzten selbst kaum akzeptiert werden, werden ihre Inhalte auch selten an Patienten weitergegeben. Deutlich erkennbar wird in den Interviews, dass die Hausärzte individuelle Therapie und leitliniengerechte Behandlung als Widerspruch erleben. Ursächlich dafür ist etwa, dass evidenzbasierte Medizin in unserer Untersuchung von der Mehrzahl der Befragten auf die Evidenz selbst reduziert, also mit Studien und Leitlinien gleichgesetzt und als bevormundend und realitätsfern abgewehrt wird. Leitlinien haben aus dieser Sicht einen „normierenden’’ Charakter. Möchte man die Nutzung evidenzbasierter Leitlinien und die Weitergabe ihrer Inhalte an Patienten erreichen, scheint es unabdingbar, den Hausärzten einen für sie annehmbaren Zugang zum Konzept der evidenzbasierten Medizin zu vermitteln. Es sollte noch deutlicher betont werden, dass mit EbM etwas anderes gemeint ist, als ein Befolgen normativer Behandlungsvorgaben, sondern das diskursive Ringen gemeinsam mit dem Patienten, um die richtige individuelle Therapieentscheidung vor dem Hintergrund individueller Patientenbedürfnisse, ärztlicher Erfahrung und externer Evidenz.
Schlüsselwörter: Hausärzte, chronische Erkrankungen, Evidenzbasierte Medizin, Leitlinien
∗ Korrespondenzadresse: Regine Bölter, Fachärztin für Allgemeinmedizin, Geriatrie, Universitätsklinikum Heidelberg, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung,
Voßstraße 2, Gebäude 37, 69115 Heidelberg. E-Mail:
[email protected] (R. Bölter). Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) doi:10.1016/j.zefq.2010.02.015
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Barriers to evidence-based medicine encountered among GPs – an issue based on misunderstanding? A qualitative study in the general practice setting Summary The Chronic Care Model (CCM) is a framework for the structured care of patients with chronic conditions. It requires access of both physicians and patients to scientific evidence in order to facilitate shared treatment decision-making on the basis of the patient’s individual needs and the best available external evidence. The aim of this study was to find out whether general practitioners (GP) actually make use of evidence-based information and guidelines and whether and how they communicate this information to their patients. We interviewed 14 general practitioners and conducted a content analysis. The majority of these GPs take a sceptical view towards evidence-based guidelines. Their main point of criticism is that guidelines disregard the individual patient’s reality and life style. Instead, GPs emphasize the relevance of their own knowledge of the personal and medical history of and the continual care for their patients. Since GPs themselves often
do not accept guidelines, they seldom impart their content to their patients. According to the GPs’ experience there are contradictions between guideline-conformant therapy and individual treatment. The integrative character of evidence-based medicine is not recognized. The reason is that evidence-based medicine is equated with guidelines and trial results by the majority of the GPs interviewed. To facilitate guideline implementation in everyday practice GPs need to be provided with adequate access to scientific evidence and an understanding of the intentions of guidelines. If the doctors themselves do not accept guidelines, they will not share them with their patients. It must be made clear that guidelines are not intended as normative demands for a specific therapy for every patient, but are rather meant to assist the physician with his struggle for the best therapy for individual patients.
Key words: family physician, long-term care, evidence-based medicine, guideline adherence
Einleitung Weltweit leiden heute 46 Prozent aller Menschen unter chronischen Erkrankungen. Besonders häufig sind Diabetes mellitus, Herzkreislauferkrankungen, Krebs und Depression. Nach den Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden bis 2020 etwa 60 Prozent der Weltbevölkerung von chronischen Erkrankungen betroffen sein [1]. Ursächlich für diese Entwicklung ist, dass vor allem die Bevölkerung in Industrienationen immer älter wird und dementsprechend die Zahl der altersassoziierten Erkrankungen steigen wird. Lebensstilbedingte Einflüsse leisten dabei einen entscheidenden Beitrag. Viele Menschen leiden nicht nur unter einer einzelnen chronischen Erkrankung, sondern sind multimorbide [2,3]. Gerade Hausärzte werden zunehmend mit komplexen Therapieentscheidungen bei multimorbiden Patienten konfrontiert. Dem gegenüber stehen derzeit aber noch Strukturen im Gesundheitssystem, die auf die Behandlung von Einzelerkrankungen und akuter medizinischer Probleme ausgerichtet sind [4,5]. Erst langsam beginnen sich neue Ansätze zur Versorgung chronisch kranker und multimorbider Patienten zu etablieren. Ein Beispiel für einen solchen Ansatz ist das Chronic Care Modell (CCM) [6–8]. Dieser in den USA ent-
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wickelte Ansatz zur strukturierten Versorgung chronisch kranker Menschen sieht den Zugang und die Kenntnis von wissenschaftlicher Evidenz für Ärzte und Patienten als zentrale Vorraussetzung an. Dadurch sollen - entsprechend dem Verständnis Evidenzbasierter Medizin (EbM) - gemeinsame Therapieentscheidungen von Arzt und Patient ermöglicht werden, die die individuellen Bedürfnisse des Patienten, die bestmögliche externe Evidenz, sowie die klinische Erfahrung des behandelnden Hausarztes integrieren [9]. Die Menge medizinischer Publikationen wächst ständig. Jährlich erscheinen circa zwei Millionen Artikel in 25.000 Zeitschriften. Der damit verbundene Zeitaufwand für Recherche und Bewertung kann heute von kaum einem Hausarzt mehr geleistet werden. Eine Hilfe stellen daher evidenzbasierte Leitlinien dar. Diese wissenschaftlich begründeten Handlungsempfehlungen, die im zeitlichen Verlauf aktualisiert werden, können die individuelle Behandlung des Patienten unterstützen und evidenzbasierte Medizin auch in der Hausarztpraxis ermöglichen. Im Sinne des CCM sollen evidenzbasierte Leitlinien auch Patienten zur Verfügung gestellt werden und diesen damit eine Beteiligung an der Therapieentscheidung ermöglichen. Allerdings gibt es im hausärztlichen Bereich sowohl gegen die Anwendung von Leitlinien als auch gegen
deren Weitergabe an Patienten häufig Barrieren [10–13]. Bisher ist wenig darüber bekannt, inwieweit Hausärzte tatsächlich evidenzbasierte Informationen nutzen, welche Quellen sie zur Informationsrecherche verwenden und welche Bedeutung Leitlinien in ihrer täglichen Arbeit haben. Mit der vorliegenden Analyse soll daher den Fragen nachgegangen werden, welche Evidenzquellen Hausärzte nutzen, welche Bedeutung evidenzbasierte Leitlinien in Ihrer täglichen Arbeit haben und wie sie diese Evidenz an Patienten weiter vermitteln.
Methode Die vorliegende Arbeit ist eingebettet in das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF, Antragsnummer 01GK0601) geförderte Forschungsprojekt „Chronic Care für Arthrose – CARAT’’. Die Fragestellungen des Forschungsprojektes sind 1. Welche Elemente des CCM sind in Deutschland in Hausarztpraxen umsetzbar? (am Beispiel der Arthrose) 1. Wie müssen diese Elemente ggf. angepasst werden, damit eine (teilweise) Implementierung darstellbar ist? Um sich dem Thema anzunähern und Hypothesen für die Hauptstudie zu generieren, wurde diese Vorstudie dem
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Projekt vorangestellt. Die hier dargestellte qualitative Vorstudie zeigt die Ansichten und Erfahrungen in der direkten Patientenversorgung tätiger Hausärzte zu vier Elementen des Chronic Care Modells [7]. Qualitative Datenerhebung ermöglicht es, die subjektive Sichtweise der Befragten zu erheben [15].
Erhebung Die Rekrutierung der Ärzte erfolgte in zwei Landkreisen. Insgesamt wurden 22 Ärzte telefonisch angesprochen und anschließend schriftlich über die Studie informiert. Das Anschreiben enthielt Angaben über die Ziele der Studie sowie den Zeitaufwand. Zusätzlich war dem Schreiben ein einseitiges Informationsblatt über das Chronic Care Modell beigelegt. In interdisziplinärer Zusammenarbeit (Gesundheitswissenschaftler, Ärzte) wurden Leitfragen für die Interviews entwickelt. In diesen Leitfragen wurden die vier patientenbezogenen und praxisrelevanten Elemente des Chronic Care Modells berücksichtigt.
• Unterstützung des Selbstmanagementes (Self managment support)
• Entscheidungsunterstützung (Decision support)
• Gestaltung der Leistungserbringung
kung zur Verfügung zu stellen. Wie setzen Sie dies in Ihrer Praxis um? Halten Sie etwas davon, die Leitlinien für den Patienten transparent zu machen? Wie könnten Sie sich dies konkret in Ihrer Praxis vorstellen? Was / wer könnte Sie dabei unterstützen? Können Sie sich beispielsweise eine externe Datenbank mit Leitlinien für Patienten vorstellen?’’ Alle Interviews wurden durch eine Fachärztin für Allgemeinmedizin in den Praxen der beteiligten Ärzte durchgeführt. Die Dauer der einzelnen Interviews mit einem kurzen Einleitungsgespräch betrug jeweils ca. 45 Minuten.
Auswertung Alle Interviews wurden vollständig mit einem digitalen Aufnahmegerät aufgezeichnet, anschließend transkribiert und inhaltsanalytisch ausgewertet. Die Auswertung erfolgte mit Atlas.ti 5.2.12 (Scientific Software Development GmbH). Damit die Einordnung der Ergebnisse zu den Elementen des Chronic Care Modells klarer erfolgen konnte, wurden die Kapitelüberschriften mit thematischer Einordnung anhand des Chronic Care Modells und den dazu gehörigen Interviewfragen deduktiv entwickelt (Zeichnung 1).
Kodierschema 1. Kapitelüberschrift = Elemente des Chronic Care Modell 1.1. Überschrift = Unterebene im Chronic Care Modell 1.1.1. Hauptkategorie = „Familien’’ im Auswertungsprogramm Atlas ti. 1.1.1.1. Unterkategorie = „Codes’’ im Auswertungsprogramm Atlas ti
Dabei wurden unabhängig voneinander durch ein interdisziplinäres Forscherteam aus Wissenschaftler und Ärzten induktiv Haupt- und Unterkategorien aus den Antworten der Ärzte entwickelt. Eine erste Version der Unterkategorien wurde primär durch Kodierung der drei Pilotinterviews entwickelt. Anschließend wurden im Sinne einer konsensuellen Codierung die Zuordnungen verglichen und diskutiert. Am Material konnte so ein Kategoriensystem entwickelt werden, das unter Zunahme des Abstraktionsniveaus durch die folgenden Interviews überarbeitet, revidiert und ergänzt wurde. Diese Methode ist angelehnt an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring [16].
Ergebnisse 14 Hausärzte erklärten sich zur Teilnahme bereit. Die Interviewpartner waren elf Ärzte und drei Ärztinnen mit einem Durchschnittsalter von 52 Jahren
(Delivery system Design)
• Element Gemeinwesen (Community resources) Die hier beschriebenen Antworten beziehen sich auf das Strukturelement des CCM zur Unterstützung der Entscheidungsfindung. Die Ergebnisse zum Thema „Community resources’’ wurden an anderer Stelle veröffentlicht [8]. Weitere Publikationen zu den anderen Themen sind in Vorbereitung. Der Leitfaden wurde auf Verständlichkeit und Anwendbarkeit in einer vorgeschalteten Pilotphase in drei Interviews überprüft und angepasst. In diesem Artikel werden Aussagen und Diskussion in Reaktion auf folgende Leitfragen vorgestellt: „Chronic Care fordert, dem Patienten ausreichende und evidenzbasierte Information über seine Erkran-
Zeichnung 1 Kodierschema.
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(SD 8,3). Die Niederlassungszeit betrug durchschnittlich 16 Jahre (SD 8,87).
Welche Evidenzquellen nutzen Hausärzte? Unsere Analyse zeigt, dass für die Mehrheit der Hausärzte primär Fachzeitschriften eine wichtige Quelle für externe Evidenz sind. Darüber hinaus haben Gespräche mit Fachspezialisten für die Befragten eine große Bedeutung. Deren Erfahrung scheint dabei höheren Stellenwert zu besitzen, als das alleinige Wissen. Deutlich wurde aber auch, dass die interviewten Hausärzte für sich in Anspruch nehmen, durch ihre medizinische Erfahrung ausreichend interne Evidenz zu besitzen, um ihre Patienten gut zu informieren. Darüber hinaus wurde klar erkennbar, dass aus der Perspektive der Hausärzte Kenntnisse über die Lebenssituation des Patienten eine besondere Bedeutung für die individuelle Therapie haben (Tabelle 1).
nicht für sinnvoll, da diese ihrer Meinung nach nicht auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten der einzelnen Patienten zugeschnitten seien. Deutlich wird, dass Hausärzte für sich in Anspruch nehmen, eine Art „innere Leitlinien’’ zu haben, die auf individuellen Erfahrungen, Handlungsempfehlungen („offizielle Dinge’’) und einem pathophysiologisch orientierten Behandlungsverständnis beruhen. Dementsprechend betrachten sie Leitlinien als zu bürokratisch. Es fehlt den Ärzten Handlungsanweisungen für den konkreten Einzelfall. Immer wieder wird betont, dass die Individualität des Patienten in Leitlinien zu wenig berücksichtigt werde. „Das ist mir viel zu bürokratisch. Das ist nicht individuell genug.’’ (A05) „Für den Patienten? Eigentlich nein, für den Arzt ja. Also Leitlinien sind immer ganz gut als Anhaltspunkt dafür, wie man denn heut denkt wie man die Krankheit behandeln könnte. Sie sind im Einzelfall aber immer nicht sehr hilfreich, weil sie für den Einzelfall nix, keine konkrete Handelsanweisung mitgeben.’’ (A10)
Welche Bedeutung haben evidenzbasierte Leitlinien in Ihrer täglichen Arbeit?
„Nein. Ich denke, im Moment leiden wir unter einer Diskussion, dass Leitlinien als Evangelium gehandelt werden und ich bin zu lange im Geschäft, um zu wissen wie schnell sich
Die befragten Hausärzte betonen ihre Verantwortung für den einzelnen Patienten. In diesem Zusammenhang halten die meisten Interviewten Leitlinien
die Empfehlungen geändert haben. Und das ist etwas, was in der momentanen Leitliniendiskussion völlig zu kurz kommt, nach meiner Meinung, der vorläufige Charakter.’’ (A02) Konkret wird an Leitlinien kritisiert, dass diese häufig nicht die Vorläufigkeit des Wissens betonen würden. Für viele langjährig tätige Hausärzte, die Therapieempfehlungen „kommen und gehen’’ gesehen haben, verlieren Leitlinien dadurch deutlich an Akzeptanz. Hinzu kommt, dass sich die Befragten durch Leitlinien bevormundet und in ihrem Selbstverständnis als Hausärzte nicht ernst genommen fühlen.
Wie vermitteln Sie Evidenz an Patienten? Die Allgemeinmediziner sehen als wesentliche Aufgaben Patienten individuell zugeschnitten zu informieren, die Interpretation dieser Information und die gemeinsame Entscheidung für oder gegen eine Therapie zu treffen. Entsprechend sind aus dieser Perspektive Leitlinien zur Patienteninformation wenig geeignet. Stattdessen wird auf eine individuelle Informationsvermittlung Wert gelegt. „Ich versuche dem Patienten zu vermitteln, was ich angesichts seines Problems, meiner Erfahrung und der
Tabelle 1. Hauptkategorie: Quelle der Information für Therapieentscheidungen. Unterkategorie
Zitat
Kollegen
„Wenn ich was wissen will, erkundige ich mich. Ich erkundige mich aber bei dem, der viel Erfahrung hat, aber brauche keine Datenbank.‘‘ [A08] „Das kriegt man allgemein so mit. Zeitschriften, Literatur, das weiß man einfach.‘‘ [A05] „[. . .] Und was so läuft in den Kliniken, Fortbildungen.‘‘ [A05] „[. . .] dass ist die eigene Erfahrung, die man im Laufe der Jahrzehnte gesammelt hat. Dann natürlich in Verbindung mit dem, was man jetzt liest in Fachzeitschriften oder durch Fortbildungsveranstaltungen und das gibt man dem Patient dann einfach weiter und empfiehlt dies ihm. Man versucht dadurch auf dem neusten Stand zu bleiben.‘‘ [A11] „Letztendlich ist auch hier im Zusammenhang der Hausbesuch nicht medizinisch interessant, aber wenn ich die Umgebung des Patienten sehe, ich sehe die Familie des Patienten, ich sehe, wie es bei dem zu Hause aussieht, dann kann ich mir auch eher vorstellen, wie der zum Beispiel mit seiner Coxarthrose oder seiner Herzinsuffizienz zurande kommt. [. . .] Also von daher denke ich mal, dass das keine Besonderheit des Chronic Care Modells ist, sondern es ist die Besonderheit der allgemeinmedizinischen Arbeit.‘‘ [A06] „Eigentlich habe ich es relativ einfach, da ich die meisten Patienten persönlich kenne. Bei ca. 30% war ich schon zu Hause, da kenne ich das Umfeld. Da würde ich schon sagen, das baue ich dann ein in mein Behandlungskonzept.‘‘ [A07]
Zeitschriften/Journals Fortbildung Erfahrung
Kenntnis der häuslichen Situation
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Kenntnis der Literatur für passend halte. Also sehr pragmatisch. Ich bin keiner, der die Leitlinie runterbetet. Dafür steh ich dem zu skeptisch gegenüber.’’ (A02) Insgesamt halten die befragten Hausärzte die reine Informationsvermittlung an Patienten nicht für das vorherrschende Problem in der Praxis. Vielmehr sehen sie ein Problem in der Überforderung vieler Patienten, mit den heute bereits zahlreich vorhandenen Patienteninformationen aus unterschiedlichen Quellen und mit unterschiedlicher Güte umzugehen. Eine Datenbank mit Leitlinien für Patienten, wie sie das CCM empfiehlt, hielten die befragten Hausärzte daher für wenig hilfreich (Tabelle 2). „Wird schwierig. Patienten sind durch die Menge an Informationen, die es jetzt schon gibt, schon überfordert. Ich weiß nicht. Wie kann man sie dann dazu bringen, die richtige Datenbank zu finden. Es gibt die Apothekerzeitung, es gibt Selbsthilfegruppen, Nummer eins, dann gibt es Sozialstationen mit ihren Informationen und die Apotheker machen eigene Infoveranstaltungen. Es ist schwierig.’’ (A07) Entsprechend sehen die Hausärzte Ihre wesentliche Aufgabe in der Bewertung und Interpretation von Informationen im Kontext des Patienten und seiner Krankheit. „Ich denke, bei allem Respekt vor mündigen Patienten, es überfordert den Großteil der Patienten. Und ich sehe es ja immer wie die Leute kommen und da haben sie im Internet ge-
guckt. Sie sind total verunsichert und reden über Zeug, was für sie überhaupt nicht zutrifft. Sie können es nicht wissen, aber es ist halt nicht damit getan irgendwas zu lesen, wenn man nicht einen Background mitbringt.’’ (A02) Ein Arzt hielt Internet-Links auf der eigenen Praxis-Hompage für eine Möglichkeit den Patienten durch gezielt ausgesuchte Information zu unterstützen. „Ich habe es jetzt auf meiner Homepage auch so gemacht, dass ich ein paar ausgewählte Links angebe, wo ich einfach sage, da können sie sich ganz gut informieren, das sind gute Datenquellen,[. . .]. Es wäre eigentlich wünschenswert, wenn es da mehr Informationsquellen gäbe, die interessenfrei sind, also die nicht von irgendwelchen Pharmafirmen kommen, [. . .].’’(A06) Deutlich wurde, dass zumindest ein Teil der Hausärzte die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) als Grundlage im Gespräch mit dem Patienten nutzt. „Diese DEGAM Leitlinien haben ja schon so eine Patientenbroschüre, wobei ich zugeben muss, dass ich das wenig ausgebe. Aber ich kann Ihnen schon Daten, im Patientengespräch die Leitlinie [zitieren], die es dazu gibt zum Beispiel für Hausärzte, würde ich jetzt an dieser Stelle sagen.’’ (A11)
Diskussion Ein Großteil der befragten Hausärzte steht evidenzbasierten Leitlinien nach wie vor skeptisch gegenüber. Entsprechend werden Inhalte von Leitlinien Patienten selten vermittelt. Zentraler Kritikpunkt der Hausärzte ist dabei, dass Leitlinien zu wenig den Bezug zur Lebenswelt des individuellen Patienten herstellen würden. Stattdessen betonen die interviewten Hausärzte den Wert ihrer „gelebten Anamnese’’ und der kontinuierlichen Betreuung von Patienten mit Kenntnissen der persönlichen Lebensumstände. Eine Studie mit britischen Ärzten, die 2001 im British Medical Journal erschien, berichtet ebenfalls, dass die Hausärzte ihre Beziehung zum Patienten und seiner Lebenswirklichkeit neben ihrer persönlichen Berufserfahrung als wesentlich für die Therapieentscheidung ansehen. [10] In einem Review von Hannes et al wurden Barrieren gegen die Anwendung Evidenz basierter Medizin auf verschiedenen Ebenen zusammengetragen [14]. Auf der Ebene des Arztes zeigten sich dort Ansichten, die auch die befragten Hausärzte äußern, beispielsweise: „Reduktion der Wertigkeit der Erfahrung des Arztes’’, „fehlende Berücksichtigung des gesamten Menschen’’ sowie, dass „Evidenz die Komplexe Situation der Hausarztpraxis nicht berücksichtige’’. Deutlich erkennbar wird in den Interviews, dass Hausärzte individuelle Therapie und leitliniengerechte Behandlung als Widerspruch erleben. Dass Leitlinien gar nicht mehr als eine kritische Zusammenfassung bestehender externer Evidenz mit allgemeinen und nicht indi-
Tabelle 2. Hauptkategorie: Leitlinien für Patienten transparent machen. Unterkategorie
Zitat
Leitlinien transparent pro
„Ja. Ich gebe Leuten auch häufig den Hinweis sich diese Leitlinien im Internet mal anzugucken [. . .]Damit arbeite ich auch, auch um den Leuten transparent zu machen, nach welchen Kriterien man eigentlich diese Sachen bewertet. Also ich finde das sehr gut eigentlich auch um dem Patienten klar zu machen, wie eigentlich meine Entscheidungsprozesse ablaufen, damit man drüber reden kann [. . .][A06]‘‘ „Überhaupt nicht, weil das alles individuell ist. Alles was ich sage individuell. Natürlich gibt’s auch gewisse Leitlinien, hab ich auch eigene, Leitlinien, die auch auf Erfahrung basieren, natürlich auch an den offiziellen Dingen, aber letztlich ist überall eine Pathophysiologie da und so er lange er pathophysiologisch denken kann, werde ich auch dementsprechend Ratschläge geben können. [A08]‘‘
Leitlinien transparent contra
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viduellen Handlungsempfehlungen sein können, scheint den Ärzten nicht ausreichend bewusst zu sein. Evidenzbasierte Medizin wird nicht als eine integrative Sichtweise aus den drei Elementen Lebenswelt des Patienten, interne Evidenz des Arztes und externe Evidenz, z.B. in Form einer Leitlinie, wahrgenommen. Externe Evidenz aus klinischer Forschung wird dementsprechend nicht als zu integrierender Bestandteil bei der Entscheidungsfindung und Hilfe im Entscheidungsprozess betrachtet, sondern als Bedrohung der therapeutischen Selbstbestimmung erlebt. Friedrich Wilhelm Kolkmann fordert 2004 im Deutschen Ärzteblatt „eine individuelle Behandlung unter Zugrundelegung medizin-wissenschaftlicher Leitlinien muss bei jedem einzelnen Kranken dessen Besonderheiten einschließlich seiner psychischen Belastung berücksichtigen’’ und befürchtet die Gefahr, das massiv in Kernbereiche ärztlicher Arbeit, der Behandlung eines einzelnen Kranken, eingegriffen werde [17]. Diese Haltung finden wir auch in den Interviews mit den Hausärzten wieder. Ursächlich dafür ist etwa, dass Evidenzbasierte Medizin in unserer Untersuchung von der Mehrzahl der Befragten auf die Evidenz selbst reduziert, also mit Studien und Leitlinien gleichgesetzt und damit als bevormundend und realitätsfern abgewehrt wird. Leitlinien haben aus der Sicht der Ärzte einen „normierenden’’ Charakter. Es passt dabei gut ins Bild, dass evidenzbasierte Leitlinien häufig bei gerichtlichen Auseinandersetzungen über ärztliche Behandlungsfehler herangezogen werden. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass sich die befragten Hausärzte für ihre individuellen Therapieentscheidungen rechtfertigen, die eher auf persönlicher Expertise und pathophysiologischen Erwägungen als auf evidenzbasierten Leitlinien beruhen. Entsprechend werden Leitlinieninhalte auch selten, wie es das CCM vorsieht, den Patienten vermittelt. Die hausärztliche Berufserfahrung (interne Evidenz) wird in vielen Fällen als
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ausreichend zur Information und Beratung der Patienten erachtet. Nur wenige Ärzte nutzen die Leitlinien als Möglichkeit der transparenten Kommunikation über Behandlungsstrategien.
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Schlussfolgerung Unsere Studie zeigte, dass die befragten Hausärzte bereits selbst die bestehenden (hausärztlichen) Leitlinien nur wenig akzeptieren. Dies steht einer Vermittlung von Leitlinien an Patienten im Wege. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass ein Verständnisproblem vorliegt. EbM meint im Kern das diskursive Ringen gemeinsam mit dem Patienten, um die richtige individuelle Therapieentscheidung vor dem Hintergrund ärztlicher Erfahrung und externer medizinischer Evidenz, dies wird von den Ärzten dieser Untersuchung anders wahrgenommen. Möchte man die Nutzung evidenzbasierter Leitlinien in der Versorgung sowie die Vermittlung an Patienten erreichen, scheint es zunächst unabdingbar, den Hausärzten ein für sie akzeptableres Verständnis von evidenzbasierter Medizin zu vermitteln. Es sollte noch deutlicher betont werden, dass mit EbM etwas anderes gemeint ist, als ein automatenhaftes Befolgen normativer Behandlungsvorgaben. Gefördert durch BMBF 01GK0601
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