Der Pilger und die Welt

Der Pilger und die Welt

Russian Literature XXXIX (1996) 489-498 North-Holland DER PILGER UND DIE WELT JIRI O P E L I K In dieser Abhandlung mrchte ich die Aufmerksamkeit a...

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Russian Literature XXXIX (1996) 489-498 North-Holland

DER PILGER UND DIE WELT

JIRI O P E L I K

In dieser Abhandlung mrchte ich die Aufmerksamkeit auf ein tschechisches, 1935-1936 geschriebenes und 1936 herausgegebenes Prosawerk richten, das for das Thema Comenius-Dichter insoweit von Belang ist, weil das Buch durch Comenius' Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens in hohem MaBe inspiriert wurde. Das Buch heiBt Kulhavy poutmTc (Der hinkende Pilger) und es wurde von Karel (~apeks ~ilterem Bruder Josef (~apek geschrieben. Wer Comenius war und ist, weiB jeder. Aber wer war und ist Josef (~apek? - Gestatten Sie mir zuerst einige telegraphische Worte tiber ihn, damit dann mein eigentliches Thema nich in der Luft h~ingt. Josef Capek war - aus seiner eigenen Sicht prim~ir - Maler, einer der Begriinder des tschechischen Kubismus, dann ein Ktinstler mit einer unverwechselbaren Handschrift, die auf einer stark vereinfachten, bis zur bloBen Andeutung reduzierten, zugleich aber expressiven, ja oft monumentalisierenden Stilisierung beruhte. Als Maler hat Josef (~apek - v. a. dank den neulich in Paris und Dfisseldorf gezeigten Ausstellungen des tschechischen Kubismus - die Grenzen seiner Heimat, hoffentlich schon definitiv, (iberschritten. Er war aber auch Schriftsteller, und zwar einer, fur den das Schreiben keineswegs nur ein Hobby oder eine Nebenbeschaftigung war, sondern, aus einem lebenslangen, unaufhrrlichen sch~pferischen Bedtirfnis hervorgehend, eine ebenso autonome und authentische Ausdrucksweise darstellte wie das Malen. Was leistete er als Literat, bevor er den Hinkenden Pilger verrffentlichte? Er schrieb gemeinsam mit seinem Bruder Karel kleine jugendstilhafte Prosastficke und spater dramatische Antiutopien in Form von revualen Moralit~iten, und er hat auch (fOr 0304-3479/96/$15.00 © 1996 - Elsevier Science B.V. All rights reserved.

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Karels StiJck R.U.R.) ein Wort erfunden, das wir alle seit der Auffiihrung des Stiicks gebrauchen: "robot" - der Roboter. Er selbst - ein Introvertierter, der sich jedoch von seiner Zeit in ihrer ganzen Vielfalt bis in sein Innerstes erregen lieB - schrieb dann Erz:,ihlungen, die, bei akzentuierter Rolle des Erz/ihler-Ich, die existentiale wie soziale Labilit~it des zeitgen6ssischen Menschen zum Ausdruck bringen. Fiir unser heutiges Thema ist nicht ohne Interesse, dab die "Zweifaltigkeit" yon Lyrik und Kontemplation zum Generalprinzip seiner Kunstprosa, das Gleichnis zu deren Grundgattung geworden sind, obwohl sein letztes Buch vor dem Hinkenden Pilger, n~imlich Schatten der Fame (Sffn kapradiny), eine Novelle iiber Schuld und Siihne, zugleich sein erz:,ihlerisch vollbltitigstes Prosawerk war. Er schrieb auch Essays fiber Kunst, z. B. eines der ersten europ~iischen Biicher fiber die Kunst der Naturv61ker sowie ein Buch fiber die naive Kunst. Fiir einen Komparatisten, der sich mit Beziehungen zwischen verschiedenen Kunstarten befaBt, ist eSvSpannend , die wechselseitige Beziehung yon Malen und Schreiben bei Capek in allen seinen Entwicklungs- und Wandlungsphasen zu verfolgen, - schon deshalb, weil es sich um ein Verh~iltnis zweier gleichwertiger Aktivit~iten handelt, nicht um zwei ungleichgewichtige Bereiche, wie es z. B. bei Kokoschka, Sch6nberg oder Picasso der Fall war. Fiir einen Literaturhistoriker ist es wiederum spannend, Ver~inderungen im Verh/iltnis zwischen beiden schreibenden Briidem zu verfolgen: von der Koautorschaft der Anf~inge bis zu der sp~iteren Trennung in bezug auf Methoden und Ziele, einer Trennung, die yon Josefs Seite einen nahezu polemischen Charakter annahm, doch zugleich yon einer Affinit/it ihrer Grundhaltungen und ihrer (offenbar) tiefer liegenden, alle literarischen Zwecke iiberwiegenden Zielsetzungen begleitet wurde. - Abet genug davon. Ich wollte nur darauf hinweisen, dab Josef Capek nicht zu jenen Autoren geh6rte, die durch Anlehnung an einen grol3en Namen der Vergangenheit ihren eigenen Glanz zu erh6hen trachten. Er war ein groBer und ernster Kiinstler, der auf das Labyrinth des Comenius in einem Moment zurtickgriff, als ihm seine bisherige Poetik keine ausreichende Sttitze bieten konnte ftir das, was er jetzt zu sagen brauchte, bzw. als ihm der Habitus der sch6nen Literatur zu eng und vor allem tiberfliissig erschien. Von diesem R0cKgriff profitierte jedoch auch Comenius, denn sein Werk hat - indem es sich tragP,ihig genug erwies, einem modemen Ktinstler zur Herausforderung und Anregung zu werden seine andauernde Lebendigkeit unter Beweis gestellt. - Und nun zu unserem eigentlichen Thema. (~apeks Buch manifestiert die Ankntipfung an Comenius' Labyrinth schon mit seinem Titel sowie mit dem Untertitel, der lautet: "Was ich in der Welt sah". t~apek arbeitet hier mit demselben Typus der Hauptfigur, demselben Thema und demseiben KompositionsgrundriB wie Comenius: auch in seinem Buch dominiert der eine Wanderschaft unternehmende Pilger, und dann diese Wanderschaft selbst, die einerseits in ihrer topograpischen Di-

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mension, andererseits - und dies in erster Reihe - als eine Folge von Begegnungen, der entscheidenden Begegnungen im Leben des Pilgers dargestellt wird. Der Held von t~apeks Buch wird, genauso wie bei Comenius, einfach "Pilger" genannt, obwohl ihm im Buchtitel noch das konstante Attribut "hinkend" zugewiesen wird. Auch fiJr dieses Attribut fand Josef t~apek eine Anregung in Comenius' Labyrinth, indem sein Interesse von einer Gruppe von Gestalten gefesselt wurde, deren k/Srperliches Gebrechen zugleich einen geistigen Vorteil darstellt. Im 22. Kapitel des Labyrinth laBt Comenius "Neuigkeitshascher" auftreten, d. h. Menschen, die Neuigkeiten sammeln und weiter verbreiten (Josef (~apek ern~ihrte sich als Journalist und Publizist) und von denen es hier heil3t: Einige von ihnen kamen auf feurigen Rossen angeritten und hatten datum die meisten Abnehmer; andere kamen zu Ful3, einige schleppten sich sogar auf Kriicken einher; und die Verst~indigen, die diese fur bedeutend zuverlassiger erklrirten, kauften gern von ihnen. (t2bs. v. I. Seehase) Gerade von diesen Randfiguren, die Comenius mit dem Marginalstichwort "Der hinkende Bote" versah, hat Josef (~apek dieses niitzliche Gebrechen auf seine Hauptfigur tibertragen. Wer hinkt, der eilt nicht, und wer nicht eilt, der kann genauer und bed~ichtiger beobachten - und eben das ist ja die Rolle von t~apeks Erz~ihler, den es danach verlangt, dem Leser mitzuteilen, "was ich in der Welt sah". Comenius' Pilger hinkt zwar nicht, doch auch er ist eigentlich invalide, weil seine Sinne verkrtippelt sind: von dem Zaum des "Allwissens" und v o n d e r Wahnbrille der "Verblendung". Diese unbestreitbare Parallelit~it birgt jedoch auch gewisse Unterschiede: w~ihrend die Invalidit~t von Comenius' Pilger diesem von aul3en zuteil wird und potentiell bzw. voriibergehend ist, ist die Invalidit~it des (~apekschen Pilgers organisch und unaufhebbar. So stoBen wir gleich am Anfang auf (~apeks spezifische Handhabung der Vorlage, bzw. auf seine Distanzierung davon. Eine ~ihnliche "Verschiedenheit des Gemeinsamen" trifft auch fiir das Schliisselwort "Welt" zu. (~apek hat dieses Wort im Hinkenden Pilger genauso wie Comenius im Labyrinth akzentuiert, aber aus der Titelposition in den Untertitel verlegt. Die "Welt" und der Konflikt des Pilgers mit ihr stellen die eigentliche Anregung zum Entstehen beider Biicher dar, und bei Capek bilden sie dariiber hinaus jenes Motiv, das ihn zu Comenius' Labyrinth gefiihrt hat. Wir wissen von den Verlusten, die den erst einunddreil3igj~ihri~en Comenius 1623 dazu bewogen hatten, das Labyrinth niederzuschreiben. Capek standen im Jahre 1935 alle Schicksalsschl~ige noch bevor, er konnte sie nicht voraussehen: er wuBte nicht, dab er vier Jahre sp~iter v o n d e r Gestapo verhaftet, dann von einem Konzentrationslager ins andere geschleppt werden und schliel31ich, 1945, in Bergen-Belsen sterben sollte, ohne dab jemand bezeugen konnte, ob es in

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den letzten Kriegs- oder in den ersten Friedenstagen geschah, und in welchem Massengrab er eigentlich verscharrt wurde. Jetzt, an der Schwelle der Fiinfzig, wurde er vor die Notwendigkeit, iiber seine bisherige Erkenntnis Rechenschaft zu geben, einfach dutch sein Alter gestellt, das ihn zu der Einsicht brachte, von da an nicht anders als im Schatten des Todes leben zu k/3nnen. ,~hnlich wie Comenius hat auch ~apek seine Leser davor gewamt, die Tatsache des Todes leichtfertig zu mil3achten, ahnlich wie Comenius hat er die Begegnung mit dem Tod gleich an den Anfang seines Buches gestellt. Aber es war wahrscheinlich gerade dieses natiirliche Hereinfliel3en des Todes in (~apeks Blickfeld, was seine Aufmerksamkeit prim~ ontogenetisch orientierte: seine "Welt" ist daher zum Teil anders als die von Comenius, und anders sind teilweise auch die Begegnungen seines Pilgers. Diese Verschiebung projizierte sich schliel31ich auch in die Tonlage des Titels sowie des Untertitels von Capeks Buch: klingt der Titel yon Comenius' Buch dramatisch (s. den Widerspruch yon Welt und Herz), polemisch (s. die Labyrinth-Vorstellung) und pathetisch (s. das Happy-end-Wort "Paradies"), so stellen (~apeks Titel und Untertitel eine ruhige Mitteilung dar, oder aber die sachliche Bestandsaufnahme eines, der sein Handicap, das die allgemeinmenschliche Unzul~inglichkeit symbolisierende Hinken, ohne Protest akzeptiert hat. Beide Pilger begegnen, wie gesagt, gleich am Anfang ihrer Wanderschaft dem Tod (auch das Motto hat t~apek nach dem Vorbild des Labyrinth dem Buch Predigerentnommen, und auch sein Motto enth~ilt das Vanitas-Thema), aber sie enden jeweils anders, und dieser unterschiedliche Ausgang ihrer Wanderschaft legt etwas an den Tag, was beiden von Anfang an, doch zun~ichst nicht sichtbar, vorgezeichnet war. Wahrend das Labyrinth in der Begegnung des Pilgers mit Christus gipfelt, schliel3t (~apeks Buch mit einer "Nicht-Begegnung": "Gott zu begegnen war mir nicht gegeben". Dementsprechend ist Comenius' Pilger ein ganzheitlicher, aber unmiindiger (denn Gott gehOrender) einzelner, der aus der Unsicherheit der Welt in die Sicherheit seines eigenen, von Christus heimgesuchten Herzens sich fliichtet, wahrend (~apeks Pilger ein miindiger, doch unfertiger und stets problematisierter, unwiderruflich in die Welt ausgesetzter einzelner mit einer nut unsicheren Chance auf ein erfiilltes Leben bleibt. Schon deshalb mul3te t~apek seinen Pilger und dessen Begleiter komplizierter konstruieren: als raffinierte Doppelspiegelung des auktorialen Subjekts. Die Figur des hinkenden Pilgers hat er als ein durch allgemeinmenschliche Erfahrung objektiviertes Selbststilisierungskonstrukt angelegt, w~ihrend er die Figur seines Begleiters (der eher ein Gefahrte, keineswegs ein Versucher ist) als einen auktorialen Erz~ihler auffal3te und ihm die Funktion verlieh, den Dialog in Gang zu bringen und somit die literarische Gestalt des Buches zu pr~igen. Das Buch stellt sodann keine blo13 fiktive Suche nach einem unsicheren Ergebnis dar, wie das bei Comenius der Fall ist, sondern eine wirkliche Suche nach einem unsicheren Ergebnis, eine Suche, die mit dem Schreibprozel3 identisch ist.

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Auch aus diesem Grunde hat das von beiden Autoren gleich akzentuierte Wort "die Welt" nicht die gleiche Bedeutung. Beide Pilger werden auf die gleiche Weise in die Welt geboren, die Welt stellt ihren natfirlichen Lebensraum dar. Ftir Comenius' Pilger stellt jedoch die Welt eine Fremde dar, denn seine wahre Heimat liegt im Himmel und im Herzen, w~ihrend die Verh~iltnisse ffir 12apeks Pilger umgekehrt stehen: da die Ewigkeit ffir ihn eine "unbekannte Fremde" ist, mul3 ihm diese Welt, so unvollkommen sie auch sein mag, die einzige Heimat bleiben. So beschw6rt 12apek - entgegen dem im Labyrinth zitierten Spruch Salomos "Es ist alles ganz eitel!" - die "geliebte Eitelkeit des Lebens", denn "sie, ja, gerade sie kann uns durch nichts ersetzt werden". Dartiber hinaus ist ein Motto nicht wie das andere. Wenn Comenius mit dem Motto aus dem Prediger (Kap. 1, Vers 14) sein Einverst~indnis manifestierte, so fal3te Capek sein Zitat aus dem Prediger (3, 1-9) als eine Frage auf, die er mit dem nachfolgenden Text zu beantworten verspricht. Nach einem Vergleich der Titel, Mottos und Protagonisten bleibt von den bestimmten Textkomponenten noch das zentrale Thema der Wanderschaft zu vergleichen. Topographisch genommen ffihrt die Wanderschaft von Comenius' Pilger durch die StraBen der allegorischen Welt-Stadt, wahrend die von 12apeks Piiger - unter st~indiger Verwandlung v o n d e r LandstraBe zum Pfad, zum Feldweg, zur StadtstraBe und wieder zur LandstraBe - durch eine sinnlich-konkrete Landschaft ftihrt, jedoch nicht durch eine nach einem konkreten Modell dargestellte, sondern durch eine "aus all den heiteren Landschaften, die ich auf dieser Welt kennengelernt habe" bestehende Landschaft, die wir aus 12apeks Bildern jener Zeit kennen. Die Wanderschaft als eine Folge von Begegnungen ffihrt Comenius' Pilger mit einer heterogenen Gesellschaft zusammen, konkret mit Reprasentanten der verschiedensten St~inde und Berufe, sowie mit dem Tod, der Fortuna, der Weisheit, mit Salomo und schliel31ich mit Christus - der Titel kfindigt eindeutig ihren Ausgangspunkt, ihre Richtung und ihr Ziel an, wobei das Ziel mit der bedeutendsten Begegnung identisch ist. 12apeks Titel und Untertitel schweigen in dieser Hinsicht, nichts darin kfindigt die nachfolgenden Begegnungen des Pilgers mit dem Tod, der Seele, der "Person", mit dem Menschen auf verschiedenen Altersstufen - das heil3t mit der Kindheit, der Jugend, dem Mannes- und Greisenalter -, weiter mit der Natur, der Epoche und der Kunst an. Das sind g~inzlich andere Partner als die im Labyrinth. Trotzdem ist eine Korrespondenz von Capeks Buch und dem Labyrinth offenkundig: dort wie hier wird eine der Begegnungen ffir die wichtigste erkl~irt, hier wie dort kommt diese Gipfelbegegnung im Inneren des Menschen zustande - bei Comenius ist das eine Begegnung mit Christus im menschlichen Herzen, bei Capek eine Begegnung mit der Seele im Menschen. Capek zitiert in seinem Buch, was Comenius fiber die Seele sagt diesmal allerdings nicht im Labyrinth, sondern im Orbis pictus. (AuBerdem

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fiihrt (~apek mehrere Definitionen der Seele von Denkern aller Zeiten an.) Im folgenden verF~ihrter auf die g~ingige Art und Weise: er bekennt sich mit dem Zitat zu Comenius als zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen, aber unmittelbar nach dem Zitat fiigt er kennzeichnenderweise hinzu: "[...] mir ger~it es irgendwie komplizierter". Diese Kompliziertheit ist darauf zuriickzuffihren, dab er nicht mit fertigen Vorstellungen arbeitet, sondern sich zur Bedeutung und zum Sinn der Erscheinungen erst durch das Fortschreiten seines Textes stufenweise n~ert. Er gibt zu, nichts v o n d e r Unsterblichkeit der Seele zu wissen, obwohl er sie sich unsterblich wfinschte, er bekennt, dab er die Ansicht von dem Widerspruch zwischen Seele und Leib nicht teile, weil ihm "der Leib nicht zur Last f~illt" und weil er sogar fiir vegetative Formen des Lebens Verst~indnis habe. Sein unstillbares Verlangen nach einer Seele fiberzeugt ihn jedoch, dab er ein Glaubensmensch, also ein religi6ser Mensch sei, obwohl ihm eine Begegnung mit Gott nicht gegeben gewesen sei. Den Begriff der Seele umreil3t er in seinem Buch einigemah sie sei fiir ihn "die letzte und h6chste Frage, die sich das Leben im Individuum selbst zu stellen vermag", "der Einklang von Fiihlen und Denken, die beschwingte Ausstihnung zwischen Leiden und Freuden des Lebens, Dankbarkeit gegenfiber dem Sein - und haupts~ichlich eine Revolte gegen das Nichts", sie sei das, was dem Menschen fiberhaupt ermOglicht, "sein eigenes Fragezeichen gegen das Fragezeichen des Seins" zu stellen, und was "am Menschen iiberhaupt das St~irkste ist". Trotzdem aber werde die Seele, nach t~apek, im Menschen unterdriickt. Doch von wem, wenn es nach seiner Meinung nicht der Leib sein kann? Dieser Unterdrficker sei die "Person", neben der Seele die zweite jener Komponenten, aus denen der Mensch besteht. Die Polarit~it Seele - Person stellt den eigenen Beitrag Capeks im Begriffssystem des Hinkenden Pilger dar, und von dem Moment an, da sie definiert wird, bildet sie auch jenen universellen Grundraster, den t~apek allen untersuchten Erscheinungen anlegt. Dem Leser des Hinkenden Pilger mag es in Hinblick auf den Untertitel seltsam erscheinen, wie wenig in dem Buch ausdriicklich von der "Welt" die Rede ist. Dies ist aber nicht n6tig, denn die Welt hat hier ein Synonym: es ist gerade die "Person", der eigentliche, wahre Botschafter der Welt im Menschen. Die Seele hat ihren Ursprung "in dem Willen des Ewigen und Unendlichen, ein Sein zu erschaffen, welches fiihlt, wahrnimmt und denkt und seinen Sinn und Ziel haben will"; die "Person" ist hingegen ein rein gesellschaftliches, menschliches Produkt: sie ist Beruf, Bediirfnis, Titel, sie ist mit ihrer Funktion bekleidet, mit ihrer Bedeutung, ihren Zugeh6rigkeiten, ihrer Dienstbarkeit sowie ihrer Gewichtigkeit in kleineren oder grtiBeren gesellschaftlichen Gebilden.

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Es ist wohl kein Zufall, dab dort, wo sich Comenius der Allegorie bedient, d.h. in der bildhaften Darstellung der Welt, auch (~apek die einzige allegorische Figur des Buches geschaffen hat - n~imlich beim Konstruieren der "Person" als Botschafter der Welt. Die "Person", die an einer Stelle des Hinkenden Pilger als Summa von Leib, Welt und Selbstgef~illigkeit definiert wird, bedeutet im Grunde genommen die Selbstentfremdung des Menschen, ein Sichaufgeben an das Ideal des Erfolgs und des Nutzens, der Tiichtigkeit und Anpassungsbereitschaft; je mehr "Person" im Menschen, desto weniger Seele. W~ihrend die Seele sich nach Leben sehnt, sehnt sich die "Person" nach Karriere. Die Seele zeichnet sich durch Innerlichkeit aus, die Person durch Utilitarit~it; die Seele durch Eigenheit, die "Person" durch Eigenliebe; die Seele durch Weisheit, die "Person" durch Schlauheit; die Seele durch sch6pferisches Wirken, die "Person" durch Handwerk und Kitsch. Mit der Seele greift der Mensch nach den ewigen Geheimnissen des Alls, mit der "Person" partizipiert er an der Zeitlichkeit. Die Seele ist "auf besondere Art passiv, geltungslos und unausgewiesen", die "Person" herrisch und habgierig. Obwohl die "Person" erst ein "sekund~ires Produkt" ist - denn der Mensch kommt nackt, ohne soziale Prtitentionen zur Welt -, vermag sie die Seele aus dem Menschen v611ig zu verdr~ingen und sich for den ganzen Menschen auszugeben. Die Seele kann hingegen die Person aus dem Menschen nicht verdr~ingen, weil der Mensch schon durch den unvermeidlichen Existenzkampf, d. h. den Kampf um einen "aktuellen Platz in der menschlichen Gesellschaft", fatalerweise zur "Person" wird. Welche Aufgabe wird also an ihn immer wieder gestellt: er soll auch Seele, ja mehr Seele als "Person" sein! Und welch ein Risiko, durch keinen Beistand erleichtert! Der grundstitzliche Konflikt liegt also bei Capek nicht auBen, sondern innen, er spielt sich nicht zwischen dem Menschen und der Welt ab, sondern im Inneren des Menschen, zwischen seiner unvermeidlichen Abh~ingigkeit von der Welt und seiner Seele. Zum Unterschied von Comenius' Herz stellt die Seele bei t~apek keinen Zufluchtsort, kein Tusculum aul3erhalb der Welt dar, sondern sie ist ein streitbares Element, das bem(iht ist, dem Botschafter der Welt die M6glichkeit abzuringen, dab sich das Leben in seiner Ganzheitlichkeit realisieren kann. Seele bedeutet Kampf gegen Partikularit~it - wir denken daran, dab Josef (~apek die Seele an die Spitze seiner Hierarchie der Werte in einer Welt stellte, wo kollektivistische Parolen wie Rasse, Volk, Klasse, Partei in den schrecklichsten Partikularismen wahr wurden. Die Welt stellt bei Capek eigentlich das adaquate GegeniJber zur "Person" dar, w~ihrend das Gegeniiber zur Seele das Sein selbst ist. Comenius mit seinem Labyrinth war nicht der einzige Taufpate von t~apeks Hinkendem Pilger- es gab auch andere: Pascal als Verfasser der Pensdes und Platon mit seinen Dialogen, vor allem mit dem Phaidon. Dazu nur einige kurze Anmerkungen: Was Platon betrifft, hat t~apek wie dieser die

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Seele zur Achse seiner Betrachtungen gemacht (dab Platons Auffassung der immer wiederkehrenden Seele, bzw. der Seelenwanderung, (2apek nicht zu iiberzeugen vermochte, steht auf einem anderen Blatt) und lernte von ihm viel dariiber, wie ein intellektueller Dialog dramatisch-kompliziert und attraktiv zugleich aufzubauen ist. Auch Pascal hat die literarische Gestalt des Hinkenden Pilgers beeinflul3t, und zwar einerseits durch die Konzeption des Werkes als offenes Ganzes, andererseits durch die Konzeption des Werkes als Lesetagebuch. Pascal war allerdings von den angefiahrten Autoren der modernste und folglich ~ r (~apek der n~ichste: durch seinen Empirismus, seine vorurteilsfreie, prim~ir auf Introspektion gegriindete Untersuchung des Menschen, seinen stets unruhigen Geist, durch die Theorie der Mitte, durch sein Engagement in der Praxis dieser Welt - auch dem Umstand zutrotz, dab das augenf'~illige Elend dieser Praxis den Sinn einer solchen Teilnahme immer wieder problematisiert - und schliel31ich durch das Bediirfnis zu glauben (wenn auch nicht an Gott). Meine Pointe ist einfach. Ein altes Werk bleibt nicht dadurch lebendig, dal3 die Wissenschaft es in ihre gegenw~tigen Systeme einbezieht, sondern dadurch, dal3 die Literatur selbst es in ihren Prozel3 integriert: als einen niitzlichen Impuls. Die tschechische Literatur, die sich um die Mitte der 30er Jahre fiir die existentialen Fragen 6ffnete, begann damals die Angst vor einer Welt zu reflektieren, in der der einzelne nicht nur vom natiJrlichen Tod bedroht ist, sondern auch vonder unnatiJrlichen, von totalit~iren Regimen und dem nahenden Krieg vorbereiteten Vernichtung. Die Stellung des einzelnen im Sein und in der Welt wurde damals zum pfim~iren Thema der tschechischen Literatur. Wenn der Schriftsteller Josef Capek auf der Suche nach einem Ausdruck fiir seine Lebensbilanz Comenius begegnet war, so war es natfirlich ein Zufall, allerdin~s kein iJberraschender, sondern ein - sozusagen - "geh6riger" Zufall: hatte Capek doch ohnehin zur Parabel, Allegorie und Kontemplativit~it geneigt und als ehemaliger Avantgardist schrak er nicht einmal vor Experimenten mit alten Meistern zuriick. Er versuchte also, sich selbst dieselben Fragen zu stellen, die an der Schwelle des Dreil3igj~rigen Krieges seinen Vorg~inger beunruhigten, und dariiber hinaus versuchte er auch, von denseiben literarischen Pr~imissen auszugehen. Das Ergebnis war eine sehr freie polemische Variation auf die Grundt6ne des Labyrinth. Ich war hier bemiiht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Werke zu benennen. Ich m6chte nur noch eines sagen. In Hinblick auf die Begegnungen des Piigers bleibt das Labyrinth auf einer Ebene: der Pilger begegnet Philosophen, Theologen usw. ~ihnlich wie den Repr~isentanten anderer St~inde. Capeks Buch rollt dagegen zwei Ebenen auf: die der Begegnungen, und die der Metabegegnungen: das heif3t Begegnungen mit dem Tod, der Seele, der "Person", der Natur usw., aber daneben auch Begegnungen mit Comenius, Platon, Pascal und allen anderen, die hier direkt oder mittelbar zitiert werden. (~apek akzeptiert sie, korrigiert oder lehnt sie ab, doch vor allem

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kn~ipft er an sie an - auch durch Distanzierung oder Negation. Der, dem es nicht gegeben war, Gott zu begegnen, und dem daher auch die Alternative einer Flucht aus der Welt nicht gegeben war, sucht und f i n d e t - tiber Abgriinde der Zeiten, Barrieren der Konfessionen und Mauern der Privatleben hinweg - Seelen (Seelen, nicht "Personen"!), die sich immer bemiihen, den einzelnen zu retten, ein Modell fiir das wiirdige Los des einzelnen in dieser leidvollen Welt zu schaffen. Von diesem Standpunkt aus stellt die Begegnung yon Comenius' Labyrinth und Capeks Hinkendem Pilger noch etwas mehr dar als nur eine Begegnung zweier tschechischer Biicher aus zwei verschiedenen Epochen.

Prag