Die verbalkategorien des deutschen: Ein beitrag zur theorie der sprachlichen kategorisierung

Die verbalkategorien des deutschen: Ein beitrag zur theorie der sprachlichen kategorisierung

283 Lingua 93 (1994) 283-3 12. North-Holland Reviews Elisabeth Leiss, Die Verbalkategorien sprachlichen Kategorisierung. 344 S. DM 140,OO. Rezensi...

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Lingua 93 (1994) 283-3 12. North-Holland

Reviews Elisabeth

Leiss, Die Verbalkategorien

sprachlichen Kategorisierung. 344 S. DM 140,OO. Rezension

von Klaus-Peter

95 15, NL-2300 RA Leiden,

des Deutschen:

Berlin/New

Lange,

Vakgroep

York:

Duits,

Ein Beitrag zur Theorie der Walter

de Gruyter.

Universiteit

1992. vi +

Leiden,

Postbus

Nederland.

I. Ziel und Au@au der Arbeit Ziel dieser Erlanger Habilschrift ist es, am Beispiel des Deutschen zu zeigen, da13 die verbalen Kategorien Aspekt, Genus verbi, Tempus und ansatzweise Modus in einem die Einzelkategorien iiberschreitenden Zusammenhang stehen. Der Grundgedanke

ist Guillaume

(1965:

11 [ 19291) entnommen:

‘Aspekt, Modus und Tempus beziehen sich nicht, wie es die traditionelle Grammatik lehrt, auf Phanomene unterschiedlicher Natur, sondem auf inteme Phasen eines einzigen Phlnomens: der Chronogenese; kurz, Aspekt, Modus und Tempus reprasentieren ein und dieselbe Sache als unterschiedliche Momente ihrer selbst betrachtet.’ Eine weitere Grundannahme besteht in dem semiotischen Unterschied symbolischer lexikalischer Zeichen, die auf die Gegenstande der Rede verweisen, und deiktischer Zeichen, die ‘den Ort .. . rekonstruieren, von dem aus auf die Welt verwiesen wird’ (S. 7) also gewisser grammatischer Zeichen, die von Jakobson (1971: 347 [1965]) als shifters bezeichnet werden. Eine dritte Grundannahme besteht darin, dal3 sich Kategorien nach dem Prinzip der Ikonizitat ‘tiber Wortstellungsregularitlten realisieren lassen’ (S. 9), indem z.B. die Relation ‘Vor(her) und Nach(her)’ mit den Inhalten ‘bekannt’ und ‘bekannt’ bzw. Thema und Rhema korreliere. Die Arbeit ist folgendermaben aufgebaut: Im ersten Kapitel werden die genannten Grundprinzipien dargelegt. Im zweiten Kapitel, dem Aspektkapitel, gibt die Autorin einen informativen historischen Uberblick tiber die Aspektdiskussion und geht der Frage nach, ob Aspekt eine universale oder einzelsprachliche Kategorie sei. Nachdem sie zu dem Ergebnis gekommen ist, dal3 Aspekt eine universale Kategorie sein miisse, prtift sie, inwieweit sich Aspekt im Deutschen finden lasse. Da aber Aspekt im Deutschen nicht wie in den slawischen Sprachen in Paaren vorliegt, verwendet sie 0024-3841/94/$07.00 1994 -

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einen betrachtlichen Teil des Kapitels darauf, Aspekte von Aktionsarten und ‘Verbalcharakteren’ (den Charakteren der Grundverben) zu unterscheiden. Aspekte t&en (such im Deutschen) nur in Paaren auf, Aktionsarten und Verbalcharaktere aber nicht. Einen wesentlichen Teil des Kapitels nimmt die semantische Grundanalyse des Aspekts ein (‘Innen- vs. Aubenperspektive’), und ein besonderer Abschnitt ist dem Aspekt im Gothischen gewidmet. Das dritte Kapitel befaljt sich mit der Bestimmung der Funktion des Passivs. Die Autorin stellt darin das Passiv als eine weitere perspektivische Kategorie (‘Handlungsund Geschehensperspektive’) dar und kommt darin zu einer universalen Passivdefinition. Dabei kommt sie zu dem SchluB, dalJ das Zustandspassiv sich dieser Definition entziehe und verbkategorial anders eingeordnet werden miisse, namlich als ‘Resultativum’. Damit falle das Zustandspassiv aber such mit den mit sein umschriebenen Perfektformen gewisser Verben zusammen und miisse gemeinsam mit ihnen beschrieben werden. Dies geschieht im vierten Kapitel. Das ftinfte Kapitel befaljt sich im wesentlichen mit der Frage, ob es im Deutschen ein Futur gebe und - nachdem diese Frage mit ja beantwortet ist - auf welche Verben dieses Tempus beschrankt sei. Die Autorin greift dabei wieder auf den von ihr im Aspektkapitel herausgearbeiteten Perspektivierungsunterschied zurtick. Das sechste Kapitel enthalt eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse. 2. Besprechung

einzelner Punkte

Das Aspektkapitel ist von folgender These beherrscht: ‘Aspektualitat ist keine Nebenerscheinung, die auf andere Kategorien abfarbt oder gar ihren kategorialen Bau start. Wir haben es hier vielmehr mit einem unentbehrlichen Baustein innerhalb der Kategorienarchitektonik des Verbs zu tun’ (S. 22). Fur Leiss ist Aspekt die ‘Basiskategorie’ innerhalb des verbalen Kategoriensystems. Sie halt es aber fur moglich, dal3 ‘Aspekt immer noch nicht das Basiselement darstellt’ (S. 23). Im Rest der Arbeit wird dieser Gedanke aber nicht wieder ausgefiihrt. Aspekt bleibt fur sie die Basiskategorie. Der Leser erwartet nun ihre Definition des Aspekts. Hier schiebt sich aber zunachst die obenerwahnte Diskussion ein, ob Aspekt eine einzelsprachliche oder universale Kategorie sei. Auf S. 29 heiljt es dann in der Tat: ‘Zunlchst muI eine Kerndefinition der Kategorie des Aspekts erarbeitet werden. Bis jetzt wurde diese Kategorie nur eingekreist’. Auf S. 33 finden wir dann endlich den Versuch einer semantischen Beschreibung des Aspekts: ‘Ein Verbalgeschehen

kann grundsatzlich

auf zwei unterschiedliche

Arten

betrachtet

werden:

einmal als unteilbares Ganzes, zum anderen ohne diesen Totalitatsbezug. Im ersten Fall ist impliziert, daI3 der Sprecher sich auI3erhalb des Geschehens befindet; nur so kann er ein Geschehen als Ganzes mehr

wahmehmen;

vollstandig

Konturen potentiell

im zweiten Fall ist er Teil des Verbalgeschehens.

wahrgenommen

werden.

Es ist kein Ganzes

mehr;

Dieses kann so nicht es werden

somit

keine

mehr sichtbar. Mit einem Wort, das Geschehen wird als nicht begrenzt und damit als unabgeschlossen erfahren. Es handelt sich urn zwei unterschiedliche Perspektiven.’

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Die Anwendung ‘Im Deutschen Uns bleiben

auf das Deutsche findet sich auf S. 3940: gibt es keine Verdoppelung

der Perspektiven,

also nur die Aktionsartverben

jedenfalls

und die Grundverben.

nicht tiber Verbpaare.

Das Verhlltnis

zwischen

bei-

den besteht darin, dab die Aktionsartverben die dem Grundverb entgegengesetzte Perspektive zum Ausdruck bringen. Grundverben sind im Deutschen uberwiegend innenperspektivierend: liehen,

k-hen,

laufen.

selten. Dazu gehoren

AuRenperspektivierende

kommen

undfinden.

Grundverben

sind

Die Aktionsartverben

Auhenperspektivierung auf, woftir die grenzbezogene Bedeutung ist. Da die Prafixe auberdem nicht semantisch leer sind, kommt Perspektive

zu einer zusatzlichen

laufen mit enflaufen. balen Aspektpaaren

Durch

Modifikation

die lexikalische

dagegen

LuBerst

in der Regel

der Prafixe verantwortlich es neben dem Wechsel der

der lexikalischen

Bedeutung

im Deutschen

weisen

Semantik:

der Prafixe

man vergleiche

wird das Bilden

von ver-

verhindert.’

Der Leser wilnscht sich nun dringend eine genauere Analyse deutscher Verben, wobei dann in der Tat gezeigt wird, da8 die beiden genannten Perspektiven such tatdchlich im deutschen Verbsystem wirksam sind. Statt dessen wird auf S. 4748 eine Art logische Definition der beiden Perspektiven prasentiert: ’ 1. Verben, balhandlung

die mit sich selbst identisch in beliebig

Phasen

konnen

lieben;

die geliebten

2. Verben, erobern,

die nicht

Kinder

so bleibt

Verb benannt

sind Kinder,

mit sich selbst und erblicken

werden

bleiben.

Phasen,

mit dem gleichen

ahbrechen

weiter unterteih

viele

man die vom Verb realisierte

das Resultat werden.

immer

gleich:

Man nehme

bleiben.

ganzheitliche

(Ausdruck!) Verbalsituationen

(!) Ver-

die jeweiligen

als Beispiel

die jetzt und jetzt und jetzt etc. geliebt

identisch

geben

Zerteilt

das Verb

werden.

. Verben wieder,

wie finden, die nicht

konnen.’

Im volligen Gegensatz zu ihrer eigenen Aussage auf S. 47, da8 sie ‘bei der Beschreibung der Verbalkategorien nicht von einem apriorischen Ansatz’ ausgehe, ist ihr Vorgehen hier und in allen Kapiteln des Buches deduktivistisch. Dementsprechend sind alle mehr empirischen Aussagen Implikationen. Die erste Implikation ist die ‘A&en-’ bzw. ‘Innenperspektive’ des Sprechers. Vgl. das Zitat von S. 33. Die zweite Implikation besteht in der Wahl imperfektiver bzw. perfektiver Verben. ‘Mit der Wahl eines imperfektiven Verbs ist gleichzeitig die Wahl einer Innenperspektive verbunden. Ein Verb perfektiven Aspekts impliziert (!) immer AuBenperspektivierung’ (S. 34). (Ich sehe hier einmal vom genauen Wortlaut des letztes Satzes ab. Leiss kann doch wohl nicht meinen, da8 perfektive Verben AuBenperspektive implizieren, wo sie doch oben gesagt hat, da8 die Grundannahme teilbares/unteilbares Verbgeschehen AuBen-IInnenperspektive impliziert. Sie kann doch wohl nur meinen, dal3 A&en- bzw. Innenperspektive das Entstehen oder Vorhandensein von perfektiven bzw. imperfektiven Verben impliziert.) Dritte Implikation: Im Deutschen liegt kein Aspektsystem vor, sondem ein Aktionsartsystem.

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Vierte Implikation: Grundverben haben Innenperspektivierung, Prafixverben haben Augenperspektivierung. ‘Im Dt. gibt es keine Verdoppelung der Perspektiven, jedenfalls nicht iiber Verbpaare. Uns bleiben also nur die Aktionsartverben und die Grundverben. Das Verhaltnis zwischen beiden besteht darin, dab die Aktionsartverben die dem Grundverb entgegengesetzte Perspektive zum Ausdruck bringen’ (S. 39). Ftinfte Implikation: Da es im Deutschen keine Verdoppelung der Perspektiven mittels Verbpaaren gibt, liegt nur eine ‘Affinitat’ zwischen Grund- und Aktionsartverben einerseits und einem Aspekt anderseits vor (S. 37, 39, 40, 41). Mit dem Begriff der Affinitat ist aber nicht mehr gemeint als eine Intuition der Ahnlichkeit. Er ist also relativ wertlos. Soweit die gedankliche Struktur des Abschnitts 2.3 des Aspektkapitels. Der Rezensent weist aber darauf hin, daB diese Struktur sich nicht im augeren Aufbau des Abschnitts widerspiegelt und da13 es groger Miihe bedurfte, eine derartige Ordnung in den in sich kreisenden Gedanken von Leiss zu entdecken. Abschnitt 2.4 nimmt dann die Aspektdiskussion noch einmal im Grundsatzlichen auf. Hier nun ist es nicht die Wahmehmung des Verbgeschehens als unteilbares oder teilbares Ganzes (wie in 2.3), sondem die Innen- und Augenperspektive, die als Grundprinzip der Analyse dient. ‘Es ist sinnvoll, die Innen- und AuRenperspektivierung und keine andere Opposition als die Basisopposition anzusetzen, solange man all die mit Aspekt assoziierten Merkmale davon ableiten kann’ (S. 46). Dies mulj den Leser in Verwirrung sttirzen, da jetzt der Deduktionsmechanismus wiederum in anderer Weise in Bewegung gesetzt wird. Spatestens an dieser Stelle sieht sich der Rezensent nicht mehr in der Lage, den Argumentationsstrangen von Leiss zu folgen. Das Aspektkapitel (auf dem alle weiteren Kapitel aufbauen) mul3 als grtindlich miglungen betrachtet werden. Ein klares Fortschreiten der Gedanken ist nicht zu erkennen. Alles steht mit allem in Zusammenhang. Was Grundgedanke, was abgeleiteter Gedanke ist, wird, je weiter das Aspektkapitel voranschreitet, immer unklarer. Hinzu kommt eine enttauschende Empiriefeme. Kein einziges der behandelten deutschen Verben wird einer nennenswerten semantisch-funktionalen Analyse unterworfen. Obwohl doch die Arbeit als fundamentale Auseinandersetzung mit den deutschen Verbalkategorien prasentiert wird, werden im gesamten Aspektkapitel deutsche Verben nur erwahnt, namlich (in der Reihenfolge ihres ersten Vorkommens) jagen,

erjagen, arheiten, kommen, finden, laufen, entlaufen, helagern, liehen, erohern, singen, lachen, sterhen, offnen, treffen, erbliihen, erlauben, verbliihen, antrefien, trammen, andauern, bliihen, schlafen, wachen, frieren, wohnen, sein, bleiben, streicheln, jlattern, liicheln, sickern, suchen, verlassen, husten, abhusten und hiisteln. Nirgends wird der Versuch gemacht, diese Verben auf primarer zu kategorisieren, etwa als durative oder ingressive Zustandsverben

bliihen, schlafen, wachen, frieren, lacheln, bliihen), als Positions- oder Bewegungsverben lassen), als mutativ-transformative Verben psychische Verben (suchen, jinden, lieben),

semantischer

Basis

(lachen, triiumen, husten, hiisteln vs. sterben, erbliihen, ver(laufen, wohnen, sickern, kommen, ver(erjagen, erobern, iiffnen, abhusten), als als Hilfsverben (sein, bleiben) u.a.m. Erst

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wenn man sich im Klaren ist iiber die semantischen Grundbedeutungen bzw. -funktionen dieser Verben, kann doch sinnvollerweise iiber PerfektivitBt/Imperfektivitat gesprochen werden, denn erst auf der Grundlage der primaren Bedeutungen bekommen Aussagen tiber diese Kategorie tiberhaupt einen Sinn. (Dann erst wird z.B. klar, da8 das russischen Perfektiv bei durativen Zustands- oder Positionsverben eine andere Funktion hat als bei ingressiven bzw. mutativen Verben, was Leiss bei ihrer Betrachtung des russischen Aspektsystems vbllig ubersieht.) Dann wird es moglich, den semantischen Unterschied zwischen die helagerte Stadt und die eroherte Stadt nicht auf einen Aspektunterschied zuriickzuftihren, wie Leiss es (S. 40) tut, sondem auf den Unterschied zwischen einem durativen Positionsverb und einem mutativen Verb (die im Russischen jeweils ihre Aspektpaare bilden). Die Gleichungen ‘Grundverben - Innenperspektive - nichtholistisch - teilbar’ und ‘Prafixverben - Auljenperspektive - holistisch - unteilbar’ (siehe such S. 50) sind ein Gewaltstreich. Dazu nur dies: Unteilbarkeit, ihr Ausdruck fur Ingressivitat, geht nattirlich nicht ohneweiteres zusammen mit einer holistischen Sicht. Man vergleiche: Er tritt in das Zimmer hinein vs. Er hetritt das Zimmer. Beide Satze sind aus Leiss’ Sicht teilbar, d.h. ingressiv, aber nur der letztere bietet eine holistische Perspektive. Vgl. Lange (1991). Das Aspektkapitel enthalt zahlreiche Aussagen, von denen der Rezensent behaupten mochte, daB nicht nur er sie nicht verstehen kann. Z.B. : ‘Die Mehrzahl der hinsichtlich Aktionsart und Aspekt nicht markierten Verben sind additiv und teilbar’ (S. 48). Es geht hier urn die Grundverben, die ein Geschehen ausdriicken, das man sich in einzelne Phasen zerteilt vorstellen kann. So weit, so gut. Dann heil3t es aber: ‘Sie implizieren’ (Jetzt implizieren die Verben etwas!) ‘dal3 der Betrachter an der Verbalsituation unmittelbar beteiligt ist oder sich im gleichen Umfeld wie diese befindet’. Abgesehen davon, darj sich diese Aussage im Widerspruch zu frtiheren Aussagen befindet, ist sie vollig unbegreiflich. Denn wie sollte der Betrachter (Leiss meint wohl den Sprecher) immer dann an der besprochenen Situation beteiligt oder in ihrem Umfeld sein, wenn er sich eines Grundverbs bedient? Weiter: ‘Fur Verben wie suchen gilt die unmittelbare Parallelitlt von Verbalereignis und Betrachter.’ Das gilt doch nur fur das Prasens, nicht aber fur die anderen Tempora. Was sol1 also eine solche Aussage? Und weiter: ‘Da der Standpunkt des Betrachters ausdehnungslos ist’, - wieso hat der Betrachter keine Ausdehnung? 1st er ein korperloses Wesen ? Das kann sie doch nicht meinen! ? Aber es steht dort so. - ‘ist diese Parallelitat als Inklusionsbeziehung zu verstehen (womit wir wieder bei der Innenperspektive waren)‘. Unbegreiflich: der Sprecher ist, ausdehnungslos, im Suchvorgang vorhanden und betrachtet ihn von innen. ‘Die raumliche Parallelitat von Betrachter und Verbalereignis wird sekundlr als temporale Parallelitlt, d.h. als Gleichzeitigkeit interpretiert’. Unvorstellbar: Es liegt nur eine raumliche Parallelitat - was such immer das heifien mag - vor, die erst sekundar als zeitlich interpretiert wird. Wie aber ist es erkenntnismaljig moglich, ein VerbalEREIGNIS zunachst rein r&tmlich zu begreifen, ohne dab sich das such in einem zeitlichen Rahmen darstellt? Kant wird sich bei solchen Auberungen im Grabe umdrehen.

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Einen weiteren Ausflug ins Surrealistische unternimmt Leiss, wo sie behauptet, daB ihre fur den verbalen Bereich erzielten Ergebnisse such auf Substantive angewendet werden kiinnen. Allerdings mu&en ihre Ergebnisse - man staune! - nun genau umgekehrt angewendet werden. ‘So kann eine Reihe der “untypischen” Kontinuativa mittels des Prlfixes Ge- sekundar in holistische Substantive transfotmiert werden. Das Kontinuativ Wusser wird so zu Gewiisser. Durch das Prafix wird ein partitives Substantiv begrenzt und mit einer Auljenperspektive versehen’ (S. 51-52). In welchem Sinn sollte Wasser ein teilbares Substantiv sein? Und wieso hat es Innenperspektive? Gliicklicherweise hat es sie nicht, denn sonst mu&e ja - urn in Leiss’ Gedankenwelt zu bleiben - der Betrachter/Sprecher jedesmal ertrinken, wenn er von Wasser (nicht von Gewiisser) spricht. Das Passivkapitel besteht aus dreizehn Unterkapiteln, in denen elf Thesen iiber das Passiv diskutiert werden. Es trifft sich dabei gut, dal3 Leiss im letzten der Unterkapitel die vorgetragenen Thesen zusammenfagt. Das gibt dem Rezensenten die Moglichkeit, einige Thesen dieser Liste kurz zu besprechen. (I) Die Funktion des Passivs ist es, ein defnites des direkten Objekts zu vermeiden (3.2).

Patiens

in der syntaktischen

Wenn das die Funktion des Passivs ist, dann gibt es nur ein Passiv Verben. Diese These steht im Gegensatz zu These (7) Das (definite)

Position

von transitiven

Pass& ist der definite Pol einer Definitheits-llndefnitheitskategorie.

Es giht such ein indefinites

Passiv

(3.6).

In 3.6 versucht Leiss den Widerspruch wegzuerklaren: ‘Das Vorhandensein unpersonlichen Passivs ist daher kein Hindernis fur die hier vorgetragene

eines Passiv-

theorie, im Gegenteil. Das unpersonliche Passiv ist ein indefinites Passiv und es ist als solches durch unsere Funktionsbestimmung des (personlichen) Passivs als Definitheitskategorie prognostizierbar’. (Deduktivismus!) ‘Das grammatische Merkmal der Definitheit ist ohne seinen Gegenpol nicht vollstlndig beschreibbar’ (S. 109). Nattirlich bedarf das Merkmal der Definitheit seines Gegenpols der Indefinitheit. Aber die Indefinitheit finden wir logischerweise an den Objekten aktiver Satze. Es ist absurd, den Gegenpol zu definiten Objekten in unpersonlichen Passivsatzen zu sehen. These (1) kann such aus anderer Sicht nicht uberzeugen. Warum sollte es ausgerechnet im Deutschen die Funktion des Passivs sein, ein definites Patiens in der syntaktischen Position des direkten Objekts zu vermeiden. Gibt es nicht geniigend deutsche Aktivsatze, in denen das Objekt clefinit ist und bei denen es vollig unnotig erscheint, an ihrer Stelle einen Passivsatz zu verwenden? Z.B.: ‘Es fahrt Sie einer unserer Mitarbeiter’. ‘Die Gegenposition zur Agensreduktionsthese vertritt Eisenberg’ (S. 86).

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Wenn Leiss recht hatte, diirfte es im Deutschen keine Passivsatze mit indefiniten Subjekten geben. Es gibt sie zuhauf.’ Leiss scheinen sie entgangen zu sein, denn sie bespricht nur Passivsatze mit definiten Subjekten (etwa S. 122). Selbst verwendet sie aber in ihrem eigenen Text immer wieder Passivsatze mit indefiniten Subjekten. Besonders interessant dabei ist, daR darunter Satze sind, die es aus mehreren Grunden nach ihrer Meinung nicht geben darf, namlich Passivsatze, die indefinite Subjekte, definite Agensangaben und die aus Aktivsltzen bekannte Abfolge Agens-Patiens zeigen und dariiber hinaus nun such noch eine Handlungsperspektive und keine Geschehensperspektive bieten. Z.B. ‘... und hier wurden in jungster Zeit von den Sprachtypologen Daten und Erkenntnisse erarbeitet und bereitgestellt, die in diesem Umfang und dieser Vielfalt erstmalig zur Verfugung stehen’ (S. 74). Welcher Passivsatz ware naturlicher als dieser? Aber es durfte ihn laut Leiss eigentlich gar nicht geben, denn Passivsatze haben definite Subjekte, und sie haben eine immer zusltzlithe Agensangabe, ‘die das implizit vorhandene Agens nur verdoppelt. Mit anderen Worten, die Agensangabe in Passivsatzen ist, wie jede Angabe such, als zusltzliche Pradikation zu verstehen. Zusatzliche Pradikationen konnen durch die sogenannte utzd ZWZY Probe ermittelt werden’ (S. 87). Nun miige der geneigte Leser selbst die und-zwar-Probe durchfiihren und feststellen, daB sie, sollte sie uberhaupt einigermaRen gelingen, zu einem kommunikativ anderen Satz fuhrt. Die Agensangabe gehort hier offensichtlich an ihren Platz, steht also vor dem Patiens. Dabei bildet sich die naturliche ikonische Abfolge des Aktivsatzes nach. Auch das darf laut Leiss nicht sein: ‘Der wesentliche Unterschied zwischen Aktiv und Passiv besteht darin, dalj sich die Verbalgerichtetheit in Bezug auf die vorgegebene Linearitat der Aul3erungskette unterscheidet. Liegt Parallelitlt zwischen nattirlicher Linearitat und Verbalrichtung vor, so handelt es sich urn eine unmarkierte Konstruktion. In akkusativischen Sprathen wie dem Deutschen ist das die Aktivkonstruktion. Beim Passiv wird die Linearitat der sprachlichen Kette erneut genutzt, nur diesmal in umgekehrter Richtung. Durch die beim Passiv vorliegende kontraikonische Konstruktionsweise entsteht ein Zuwachs an Information . ..’ (S. 153). Doch weit gefehlt: Es ist ein empirisches Fakturn, dal3 such Passivsatze mit transitiven Verben oft genug das Agens zuerst nennen. Dazu nur noch ein Beispiel, das der Rezensent der Wocheq~~t Nr. 10 (4.3.1993, S. 26) entnimmt. Dort heil3t es zunachst von Norman Mailer, daR er in den Jahren 1984 bis 1986 dem amerikanischen PEN-Club vorstand. Dann: ‘Von Gtinter Grass wurde er damals scharf kritisiert, weil er den damaligen US-AulJenminister Shultz eingeladen hatte’. Und schliel3lich widersprechen solche Passivsatze den Thesen (4) und (5):



Ein Seitenblick

auf das Niederlandische

sein. Das Niederlandische wimmeh feldposition bei Passivsltaen. Z.B.: minister van landbouw, Iandischen Agrarminister

Bukman’. Bukman

dtirfte in diesem

Zusammenhang

nicht uninteressant

geradezu von indefiniten (rhematischen) Subjekten in Vor‘Een bijzondere rol is hierbij gespeeld door de Nederlandse Wortlich: ‘Eine besondere gespielt worden’.

Rolle

ist dabei

von dem nieder-

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(4) Das Vorhandensein

von Passiv und Antipassiv legt den SchluJ nahe, daj3 in einer Sprache zwei Perspektiven - die Handlungsperspektive und die Geschehensperspektive - zur Realisierung drsngen (3.5). (5) Das Passiv ist eine Perspektivierungskategorie, nes’ ermiiglicht (3.5).

die die Wahl zwischen zwei ‘Origi-

Satze wie die zitierten - und etwa such ihr Beispielsatz auf S. 86 (‘Direkt neben einer Osloer Klinik zur Heilung Drogenstichtiger ist von der norwegischen Polizei das groljte Mohnfeld des Landes entdeckt und vernichtet worden.‘) - bieten nun gerade eine Handlungsperspektive. Eine Handlung ist ein von Personen ausgehendes Geschehen, und damit haben wir es hier zu tun, nicht mit Ereignissen. Aus Platzgrthrden konnen nicht alle Thesen von Leiss tiber das Passiv besprochen werden. Im vierten Kapitel untemimmt es Leiss, das sein-Perfekt (Perfekt von ingressiven Verben) und das sein-Passiv (Zustandspassiv) als eine einzige grammatische Kategorie zu rekonstruieren, die sie ‘das Resultativum’ nennt. ‘Sltze wie “Sie ist gekommen”, “Sie ist gestorben”; “Die Ausstellung ist eroffnet”, “Die Koffer sind abgeschickt” hatten im Grunde also dieselbe resultative Bedeutung. Solche Konstruktionen seien intransitiv, im Grunde ergativ’ (S. 169). Was bewegt sie zu dieser Annahme? ‘Es ist sinnvoll’, sagt sie auf S. 164, ‘hinter der einheitlichen Ausdrucksseite eine einheitliche Information zu vermuten’. Zu ihrer Rechtfertigung setzt sie sich mit Helbig (1987) auseinander, der davor gewamt hatte, alle Konstruktionen semantischen Nenner zu bringen. + Partizip II:

der Art sein + Partizip II unter einen gemeinsamen Es handelt sich urn folgende Vorkommensarten sein

A. Das Problem ist umstritten. Er ist auf seine Brille angewiesen. B. Der Lehrer ist erholt.

C. Die Stadt ist von zwei Millionen Menschen hewohnt. D. Die Frucht ist gereift. Der Kranke ist gestorhen. E. Das Fenster ist ge6ffnet. Leiss bekennt, da8 sie emsthafte Probleme mit Satzen wie (C) hat. ‘Da ich alle sein + Partizip II-Formen als Resultativa klassifizieren will, habe ich es mit unerwtinschten Ausnahmen zu tun’ (S. 184). Auch Satze wie (A) ‘mochte’ sie ‘nicht als blolje Homonyme von sein + Partizip II eingestuft sehen’ (S. 185). Aber sogleich verweist sie den Leser auf eine ‘Verwandtschaft zwischen dem Resultativum sein + Partizip II und dem Stativ sein + Adjektiv’ (Partizipien wie in A seien wie Adjektive nicht abgeleitet) und stellt fest, da8 sich Stative von Resultativen nur durch das Merkmal ‘Zustandsbedeutung’ bzw. ‘Nachfolgezustand’ unterschieden, da8 sie also ‘inhaltlich ahnlich’

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(S. 186) seien. Es ist ihr dabei erstens entgangen, da8 Sltze wie A gar keine Zustandsbedeutung haben. Und mit Hinweisen auf ‘Verwandtschaft’ und ‘Ahnlichkeit’, die zwischen Resultativa und Satzen wie C vorliegen ~011, lal3t sich nicht tiberzeugend argumentieren. Zweitens ist ihr entgangen, da8 es such Resultative mit haben gibt: Das Pferd hat die Fesseln handagiert. Leiss’ Versuch, eine grammatische Kategorie des Resultativums im Deutschen zu begrtinden, mu8 als vollig gescheitert angesehen werden. Ein schwerwiegender Mange1 dieses Kapitels liegt such darin, dal3 die Vorgangslesart von Satzen wie D mit Stillschweigen tibergangen wird. Im Tempuskapitel geht es Leiss im wesentlichen datum zu zeigen, da8 das Deutsche eine unvollstandige Futurkategorie besitzt. ‘Additive Verben’ (d.h. durative Verben) ‘bewirken

futurischen

Zeitbezug’

(d.h. durch

werden + Infinitiv)

‘und nonadditive

Verben’ (d.h. ingressive Verben) ‘bewirken die Modalisierung von werden + Infinitiv’ (S. 203). Auf S. 214 wird aber die erste Hllfte dieser Behauptung eingeschrlnkt, und zwar durch den Hinweis darauf, da8 bei eindeutiger Prlsensfixierung der Verbalhandlung (etwa durch Temporaladverbien oder den Kontext) werden + Infinitiv nur modal gelesen

werden

kann. Ihr Beispiel:

Sie geht nicht ans Telefon. Sie wird in der Bade-

wanne sitzen. Die zweite Halfte der Behauptung wird aufrechterhalten und folgendermaBen begriindet: Werden sei ein inchoatives und duratives Verb (S. 214215). Das passe nicht optimal zum Merkmal der Nonadditivitat (Ingressivitat) der perfektiv-terminativen Verben und lose den modalen ‘ReinterpretationsprozeB (S. 215) aus. Diese Argumentation ist vbllig mislungen, denn das Copula-Verb werden ist nicht inchoativ. Es bezeichnet nicht den Beginn eines Vorgangs, sondem insgesamt den Vorgang des Hineingeratens in einen Zustand oder des Erlangens einer Artzugehorigkeit. Das ist an Leiss’ eigenen Beispielen zu erkennen: Er wird alt. Es wird hell. Sie wird Lehrerin. Zu jedem Zeitpunkt des vorgestellten Zeitraums liegt ein anderer Grad des Prldikats vor. Am Anfang ist der Gegenstand noch nicht alt, hell, Lehrerin, spater sehr wohl. Das Copula-Verb werden ist also, in Leiss’ Terminologie, nonadditiv. Wie kann Leiss da behaupten: ‘Unterteilt man diese Ereignisse in Teilabschnitte, so kann jedem der Teile der gleiche Wahrheitswert zugeordnet werden’ (S. 215). An keiner Stelle des Tempuskapitels wird der Versuch gemacht, durch Textstelleninterpretation die zentrale Hypothese tiber die modale Bedeutung von werden + Infinitiv bei nonadditiven Verben zu erhlrten. Aber der Versuch ware ohnehin mil3lungen. Zusammenfassend mug folgendes gesagt werden: Leiss’ Text fehlt es an gedanklither Disziplin. Die Formulierungen sind schwammig, keine einzige Definition ist eindeutig. Man mu8 zu oft unterstellen, da8 das Richtige gemeint ist. Bis zum Schlul.3 ist nicht klar, was Leiss eigentlich unter Aspekt versteht. Relevante Literatur, etwa Lobner ( 1988) oder Herweg (1990) scheint unbekannt zu sein. Diese Rezension ist eindeutig negativ ausgefallen. Der Rezensent hat lange gezogert, den vorstehenden Text der linguistischen Gffentlichkeit bekannt zu machen. Er

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tut es nun doch, und zwar in der Uberzeugung, dal3 es sich bei dieser Arbeit urn ein Paradebeispiel fur ein in sich geschlossenes deduktivistisches und zirkulares System handelt, das - obwohl es mit hohem Anspruch und durchaus mit gewissen stilistischen Qualitaten daherkommt - in absoluter Empiriefeme verharrt und damit aus wissenschaftstheoretischer Sicht als interessanter Fall gelten mug.

Literatur Guillaume, G., 1965 [1929]. Temps et verbe. ThCorie des aspects, des modes et des temps. Paris: Champion. Helbig,

G., 1987. Zur Klassifizierung

Zustandspassiv). schen:

M., 1990. Zeitaspekte

tionen. Jakobson,

Wiesbaden:

(Hrsg.),

1990, Bd. 1, 97-104. Lobner,

tlber des Passiv

Writings

215233. Aspekt

II (Was

Das Passiv Tiibingen:

ist ein

im DeutNiemeyer.

und temporalen

Konjunk-

Tubingen: zu einer

Mouton.

aus linguistischer

- Akten

Sicht.

des 25. Linguistischen

In: R. Pogarell, Kolloquiums,

C. WeiR Paderborn

Niemeyer. integralen

Aktionsart. In: U. Ehrich, H. Vater (Hrsg.), Zeitreferenz. Tiibingen: Niemeyer.

SSDI 0024-384

im Deutschen, von Tempus,

II. Den Haag/Paris: Kants

der Linguistik

S., 1988. Ansltze

Germanique,

Universitatsverlag.

1991. Die Urteilsarten

Neue Fragen

mit sein + Partizip

en Linguistique

- Die Bedeutung

Deutscher

R., 1971. Selected K.-P.,

der Konstruktionen

de Recherche

Akten des Kolloquiums

Herweg,

Lange,

In: Centre

semantischen

Theorie

Temporalsemantik

von Tempus,

- Beitrlge

Aspekt

und

zur Linguistik

der

1(93)E0026-4

Rint Sybesma, Causatives and Accomplishments: The Case qf’ Chinese ba. Holland Institute of General Linguistics, 1992. xii + 205 pp. Reviewed by Grant Goodall, Department of Languages and Linguistics, University of Texas at El Paso, El Paso, TX 79968, USA. The ba-construction is probably one of the most well-known features of Mandarin Chinese syntax. It involves the positioning of the direct object, together with the word ha, to the left of the verb, as in (1). (1) Wo ba Zhang San da-si-le. hit-die-LE I BA ‘I killed Zhang San.’ This is in contrast

to the canonical

SVO order (without

ha) seen in (2).