Public Health Forum 16 Heft 61 (2008) http://www.elsevier.de/phf
Forschung und Praxis – Schaffung eines Dialoges auf Augenho¨he Detlef Ru¨sing
Die Versorgung von Menschen mit Demenz geho¨rt zu den gro¨ßten und schwierigsten Aufgaben unseres Gesundheitssystems. Unterschiedliche Gruppen und berufliche Disziplinen sind an der (Prima¨r) Versorgung von Personen mit Demenz beteiligt. Dazu za¨hlen neben den versorgenden Angeho¨rigen vor allem Mediziner, professionell Pflegende, Psychologen, Ergo- und Physiotherapeuten sowie Vertreter angrenzender Disziplinen. Eine ada¨quate Versorgung Demenzerkrankter durch die genannten Berufsgruppen und Angeho¨rige ist nur durch einen bidirektionalen Austausch zwischen Versorgenden und Forschenden mo¨glich. Sowohl in der medizinischen als auch der pflegerischen Versorgung hat es große wissensbasierte Fortschritte gegeben. Dies war mo¨glich, weil Erkenntnisse aus der Forschung in die Praxis implementiert und dort evaluiert wurden. Allerdings sind allein im Jahre 2007 in wissenschaftlichen Journalen u¨ber 30.000 Artikel zum Thema Alzheimer und Demenz vero¨ffentlicht worden. Nimmt man jedoch die Gruppe der Prima¨rversorger als Empfa¨nger, so ergeben sich aus der Vielzahl an Artikeln mehrere Probleme. Kein Protagonist dieser Gruppe ist – rein zeitlich gesehen – in der Lage, die fu¨r ihn relevanten Artikel zu lesen, inhaltlich zu erfassen oder gar daraus resultierende Erkenntnisse in die Praxis zu implementieren. Allein dies ist bereits ein gewichtiger Grund, warum wissenschaftliche Erkenntnisse nicht genu¨gend Einzug in die Praxis hal-
ten. Erschienene Literatur mu¨sste zudem – damit sie anwendbar und nutzbar wird – objektiv gesichtet, u¨berpru¨ft und zielgruppenspezifisch aufbereitet werden. Ein weiteres Problem – insbesondere fu¨r die nicht-medizinischen Berufe der Prima¨rversorgung – besteht in der Sprachbarriere‘‘. Ob’’ schon mittlerweile international unza¨hlige Studien und Ero¨rterungen zu beispielsweise pflegerischen Themen publiziert werden, sind diese zumeist in der internationalen Wissenschaftssprache Englisch vero¨ffentlicht. Zudem haben sie einen – selbst bei Vero¨ffentlichung in deutscher Sprache – wissenschaftlichen Sprachduktus, der von mo¨glichen Zielgruppen in der Regel nicht beherrscht wird. Die Ergebnisse mu¨ssten zielgruppengerecht aufbereitet und es mu¨sste zudem den Praktikern die Mo¨glichkeit gegeben werden, etwaige Erfahrungen bei der Implementierung in ihre Praxis an Kollegen in Praxis und Wissenschaft zuru¨ckzumelden. Sa¨mtliche bereits angesprochenen Probleme potenzieren sich, wenn Angeho¨rige als Zielgruppe des Transfers begriffen werden. Dies ist aber unbedingt notwendig, da u¨ber 60 Prozent der Demenzerkrankten in der eigenen Ha¨uslichkeit von Angeho¨rigen versorgt werden. Denkt man an wissenschaftliche Erkenntnisse der letzten Jahre, insbesondere zum Umgang mit herausforderndem Verhalten (BMG, 2007) und zur Milieugestaltung bei Demenzerkrankten, besteht geradezu eine Verpflichtung, diese Erkenntnisse an pflegende Angeho¨rige
zum Wohle der Betroffenen und zur Entlastung der Angeho¨rigen selbst weiterzugeben. Zudem gehen Forschungsarbeiten ha¨ufig inhaltlich an den Praktikern vorbei‘‘. Viele Forschungen mit ’’ wissenschaftlichem Anspruch ignorieren die Komplexita¨t der Realita¨t. An dieser Stelle sind Praktiker und Forschende gefragt. Es braucht einen Dialog auf Augenho¨he; einen Dialog, in dem Praktiker Forschenden mitteilen, zu welchen praxisrelevanten Themen und Problemen sie Erkenntnisse beno¨tigen und in dem Praktiker und Wissenschaftler Forschungsfragen gemeinsam entwickeln. Ein solcher Dialog existiert bislang nicht. Das Dialogzentrum Demenz (DZD) besteht als eine Sa¨ule der Landesinitiative Demenz Service ’’ NRW‘‘ seit 2005 und wird vom Ministerium fu¨r Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW finanziert. Das DZD ist inneruniversita¨r am Institut fu¨r Pflegewissenschaft der Privaten Universita¨t Witten/Herdecke gGmbH verankert. Im Mittelpunkt der Arbeit des DZD steht die Befo¨rderung des Dialoges zwischen Forschung ¨ berbru¨ckung und Praxis sowie die U der genannten Probleme des Wissenstransfers. Das DZD eruiert und vermittelt Bedarfe, Wissen sowie Fragen in beide Richtungen und versteht sich als Mittler und Drehscheibe eines wissenschaftlichen, aber praxisversta¨ndlichen Dialoges der beteiligten Disziplinen und vor allem der gestaltenden Menschen. Zur Befo¨rderung des Dialogs zwischen Forschung und Praxis ist es
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eine Kernaufgabe des DZD, Ergebnisse zu sichten, aus Praxissicht zu bewerten und durch eine versta¨ndliche Sprache fu¨r die Praxis nutzbar zu machen. Dies geschieht etwa durch ein dreimonatig erscheinendes Forschungsmonitoring, welches wie sa¨mtliche Arbeiten und Recherchen des DZD auf der Homepage des Institutes vero¨ffentlicht wird. In dem letzten Forschungsmonitoring des DZD beispielsweise wurde eine Studie fu¨r die Praxis u¨bersetzt‘‘, ’’ welche Praktiken auf wissenschaftlicher Basis Ru¨ckendeckung und Besta¨tigung ihrer Arbeit vermittelte. Diese Studie – zwar aus Taiwan belegte, dass Erinnerungsarbeit‘‘ ’’ mit Demenzerkrankten einen signi-
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fikant positiven Effekt auf die Verbesserung kognitiver Funktionen und einen nachweisbaren positiven Effekt auf depressive Symptome bei Demenzerkrankten hat (Wang, 2007). Ein weiterer Schwerpunkt ist die Befragung von Praktikern in der Versorgung Demenzerkrankter hinsichtlich ihrer Wissensbedarfe und Versorgungsprobleme. Das DZD systematisiert zudem bereits erforschtes Wissen und kommuniziert die aus den Praktikerfragen generierten Forschungsfragen an die Wissenschaft. So hat zum Beispiel das Dialogzentrum soeben eine Befragung von Praktikern der (teil)stationa¨ren, ambulanten und Akutversorgung von Menschen
Literatur siehe Literatur zum Schwer- punktthema. www.elsevier.de/phf-literatur doi:10.1016/j.phf.2008.11.009 Detlef Ru¨sing (MScN) Leiter des Dialogzentrum Demenz Private Universita¨t Witten/Herdecke gGmbH Stockumer Str. 10 58453 Witten
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mit Demenz zu Wissensbedarfen, Problemen und Herausforderungen der ta¨glichen Arbeit abgeschlossen (Ru¨sing et al., 2008).
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Literaturverzeichnis Ru¨sing D, Herder K, Mu¨ller-Hergl C, Riesner C. Der Umgang mit Menschen mit Demenz in der (teil)stationa¨ren, ambulanten und Akutversorgung – problematische Situationen, Wissensbedarfe und Selbsteinscha¨tzungen. Eine deskriptive Studie.
Pflege und Gesellschaft, 2008;13(4) und Wang JJ. Group reminiscence therapy for cognitive and affective function of demented elderly in Taiwan. International Journal of Geriatric Psychiatry 2007;22(12):1235–40.
Hinweise und Downloads Landesinitiative Demenz Service NRW: /http://www.demenz-service-nrw.deS. Dialogzentrum Demenz: /http://www.dialog zentrum-demenz.deS: Tehmenbezogene Arbeitspapiere und Forschungsmonitoring zum Download.
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