Mechanisms of Ageing and Development Elsevier Sequoia S.A., Lausanne - Printed in The Netherlands
VITALITAT, A L T E R N U N D B I O L O G I S C H E R W I R K U N G S G R A D MULTIZELLUL,g, REN SYSTEMS
EINES
W. BEIER, K.-H. BREHME und D. WIEGEL Institut fiir Biophysik des Bereiches Medizin der Karl-Marx-Universitiit Leipzig, Leipzig (D.D.R.) (Eingegangen am 4. September, 1972)
ZUSAMMENFASSUNG Wachstum und Differenzierung kennzeichnen die Entwicklung E(t) biologischer Systeme. Simultan kommt es in Organismen zu einer Fehlentwicklung F(t). Die Vitalit~it V(t) (eine Zeitfunktion als Mass fiir die Lebensf/ihigkeit von Organismen) geht durch Lrberlagerung aus Entwicklung und Fehlentwicklung hervor. Der Wirkungsgrad w(t) biologischer Systeme wird als Vitalit/it pro biologische Entwicklungseinheit definiert. Es werden biophysikalische Modelle des Alterns von Organismen diskutiert. SUMMARY Growth and differentiation are basic processes for the development E(t) of biological systems. Simultaneously with development takes place an error development F(t). The time function vitality V(t) is the result of these two simultaneous processes and represents a possibility for measurements of the viability of organisms. The efficiency w(t) of a biological system is defined as the quotient of vitality and the function of development. Some biophysical models of ageing in biological systems are discussed.
Da das Altern eines Organismus ein/iusserst komplexer Prozess ist, haben wir versucht, die mit dem Altern verknfipften zeitlichen Ver/inderungen durch eine komplexe Zustandsvariable V(t) des Organismus zu beschreiben 1-6. Diese Gr6sse nennen wir Vitalit/it. Sie wird durch folgenden Ansatz definiert V(t) = E(t) - - F(t)
(1)
Die Entwicklung E(t) eines Organismus umfasst in der allgemeinsten Form alle Ver/inderungen seiner biologischen Strukturen und Funktionen. Wir nehmen an, dass der biologischen Entwicklung ein genetisches Programm zugrunde liegt, was bei fehlerloser Realisierung dem Organismus eine optimale Lebensf/ihigkeit erteilt. Mech. Age. Dev., 1 (1972/73) 313-318
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Durch komplexe /iussere und innere Ursachen bedingt, entstehen im Organismus irreversibel biologisch fehlerhafte Elemente. Die Anreicherung dieser Fehler wird in der Zeitfunktion F(t) erfasst. Zur Realisierung und Aufrechterhaltung aller lebenswichtigen biologischen Funktionen verbleibt dem Organismus der vitale (d.h. der biologisch fehlerfrei aktive) Entwicklungsanteil, seine Vitalifiit V(t). Definitionsbereich der drei Funktionen ist die Lebensdauer des betrachteten Organismus 0 ~< t ~< T vom Zeitpunkt der Geburt (oder Konzeption) bis zum Zeitpunkt des Todes T. Wir identifizieren die biologische Entwicklung E(t) mit der biologischen Masse, Mbiol(t), und betrachten weiterhin die physikalische Masse naherungsweise als ReprS.sentant der "Biomasse". Wir wollen damit zum Ausdruck bringen, dass wir die biologische Entwicklung E(t) in grober N/iherung als messbare Massenwachtsumsfunktion re(t) deuten.
E(t) ~- re(t) Wir haben dabei bewusst von den gegenw~irtig einer Messung schwer zuganglichen Entwicklungsaspekten der Differenzierung, Anpassungsf~ihigkeit, Organisation u.a. abstrahiert. Betrachten wir die Geschwindigkeit der Fehleranreicherung als proportional zur Entwicklung, so lautet die "Fehlerhypothese":
dF/dt = iT(t) = ~E(t)
(2)
Unter Voraussetzung einer konstanten Fehlerrate # und Fehlerfreiheit des Systems zur Zeit t ~-- 0 erh~ilt man F(t) als Zeitintegral
F(O -- #
E(0 dt
(3)
Aus den ersten drei Gleichungen ergeben sich fiir die Vitalit~it V(t) zwei M6glichkeiten einer expliziten Darstellung.
V(t)
E(t)-- # [ i/
l
E(t) dt
(4a)
0
1
V(t) = - - E(t) - - r(t) #
(4b)
Das Altern eines Organismus definieren wir als zeitliche Abnahme seiner Vitalit~it.
A(t) = - - d V / d t
- - O(t)
(5)
Wir nehmen an, unser idealisierter Organismus stirbt, wenn seine Vitalitat verschwindet. Dann kann die Fehlerrate # unter Verwendung von Gleichung (4a) bestimmt werden. 314
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# = E(T)/
(6)
E(t) dt jo
Den biologischen Wirkungsgrad w(t) eines Organismus zur Zeit t definieren wir als das VerMiltnis seiner Vitalit~t zu seiner Entwicklung (7)
w(t) = V(t) / E(t)
Der Wirkungsgrad kann als spezifische Vitalit/it betrachtet werden. Ein idealer Organismus beginnt das Leben zur Zeit t = 0 mit dem Wirkungsgrad w(0) = 1 und am Ende des Lebens verschwindet seine spezifische Vitalit/it w ( T ) = O. Um die Brauchbarkeit dieser komplexen Zustandsgr6ssen zu prfifen, haben wir einige Folgerungen, die aus den Definitionen resultieren, mit klinischen und gerontologischen Erfahrungen verglichen. A. Entwicklungsfunktionen vom Typ Verhulst-Pearl, v. Bertalanffy oder Gompertz (Sigmoiden mit S/ittigungswert E~) f/ihren im fortgeschrittenen Alter zu einem linearen Abfall der Vitalit/it und des biologischen Wirkungsgrades. Es gilt l)(t) ~ - - # E~ und w ( t ) ~ --/~ wegen /~(t) -+ 0
und
E ( t ) -~ Eoo
ffir hinreichend grosse Zeiten t. Entsprechend zeigen Messungen von Strehler 7, dass physiologische Funktionen (Grundumsatz, Wassergehalt, Schlagvolumen, Vitalkapazit/it...) oberhalb eines Alters von 30 Jahren n/iherungsweise linear abfallen. Auch Shock verzeichnet diese Tatsache als eine wesentliche Erscheinung im Alternsgang des Menschen 8. Ffir unsere Untersuchungen haben wir die sigmoidalen Entwicklungsfunktionen so normiert, dass der S~ittigungswert 1 (entsprechend 100K) wird. e(t) -- E(t) / E~.
e (t)
1,o 0~8 te Entwicklungen el't)
/ //././" 0~"
Z/~,/ /_/j.
"
Typ : I~'hulst - Pearl
~:
Go.,p.~,.
Typ : V. Bertolonffy
.
.
.
.
......
t~2. 0
[~ht~ l 0
Abb. 1. D e r sigmoidale Verlauf von drei normierten Entwicklungsfunktionen (Wachstumsfuktionen) o Parameterwerte: eo "~ 0.05; tk =max --- 12 Jahre; T ~ 72 Jahre. M e c h . A g e . D e v . , 1 (1972/73) 313-318
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V(t)
~G°mpertz
Vifoli~t va) bei gegebener
1,0
Entwicktung yam Typ
q8
Verhuls t - Pearl
.....
0,6' CV. O,Z 0
/ 0
.
.
12
. 21,
.
. 36
~,[3ahre] t 1,8
60
72
t
Abb. 2. Vitalit~itskurven zu den drei gegebenen Entwicklungsfunktionen.
Unter diesen Voraussetzungen f~.llt der Zeitpunkt maximaler Vitalitfit in die Altersklasse van 20 Jahre bis 35 Jahre. Das Maximum einer beachtlichen Anzahl messbarer Zustandsvariablen f~illt aber gerade in diesen Zeitabschnitt. B. Strehler et al. 9 bestimmten aus umfangreichen Messungen und statistischer Auswertung derselben den spezifischen Lipofuszingehalt in menschlichen Herzmuskeln als Funktion des chronologischen Alters. Strehlers Zeitfunktion ~(t) gibt ftir jeden Zeitpunkt t das Verh~ltnis der gefundenen Masse an Alterspigment P (in fester Form) zur totalen Trockenmasse an Herzmuskelfaser, M, innerhalb einer Volumeneinheit des Myokards an.
~(t)
P(t) =
M(t)
Den Zeitpunkt maximaler Vitalitfit, t v = m a x , und die Fehlerrate, # , haben wir nach Vorgabe des Entwicklungsstandes e0 zum Zeitpunkt (t ~- 0) der Geburt (oder Konzeption), des Zeitpunktes maximaler Entwicklungsgeschwindigkeit t~ = max und der mittleren Lebenserwartung T ffir vier Entwicklungsfunktionen berechnet (Tabelle I).
0,101 ~ Vitolit6tsmodell Experimente /_/ 0~08- I (Strehler ef at 1959] / T-J Theorien //" ~" 0,06"1, (Carpenter 1969) / / ~
/ ~ . 1 ~ ..~~ 1.00
t [hfon a t e]
800
1200
Abb. 3. Mittelwerte ~e mit Streuung -k A~e des van Strehler et al. gemessenen spezifischen Lipofuszingehalts menschlicher Herzmuskeln in den verschiedenen Altersklassen, Aus einer Diffusionstheorie van Carpenter resultierende Funktionen der Lipofuszinanreicherung sind diinn oder gestri.chelt eingezeichnet. Die stark ausgezogene Funktionskurve ~ (t) folgt aus der allgemeinen, van uns angenommenen spezifischen biologischen Fehlerentwicklung w*(t). 316
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TABELLE I ZEITPUNKT tv-max DER MAXIMALEN VITALIT.~T UND SPEZIFISCHE FEHLERRATE /~ FOR VERSCHIEDENE ENTWICKLUNGSFUNKTIONEN Entwicklungstyp
eo
t ~ = max
T
Verhulst-Pearl v. Bertalanffy v. Bertalanffy Gompertz
0.045 0.045 0 0.05
12 12 13 12
72 72 72 72
a a a a
tv E max a a a a
22.5 35.1 31.2 29.5
a a a a
0.017 0.02 0.02 0.019
a-1 a-1 a -1 a -1
Betrachten wir P ( t ) als proportional zur biologischen Fehlerentwicklung ~(t) und M ( t ) als proportional zur Entwicklung e(t), dann verl/iuft ~(t) proportional zur spezifischen biologischen Fehlerentwicklung
~(t)
~ ( t ) ~- Y - e(t)
-- Y" w*(t)
Wenn man von einer Lebensdauer T _ 72 Jahre ausgeht, so gilt ffir w * ( t ) die Wertetafel von Tabelle II. TABELLE II ALTERSABH.~NGIGKEIT DES FEHLERWIRKUNGSGRADES w*(t) t (Jahre)
w*(t) ""
0
12
24
36
48
60
72
84
0
0.08
0.02
0.37
0.56
0.78
1.00
1.24
Eine Absch/itzung aus den Messdaten Strehlers ergab ~(T) _ 0.045 4- 0.015. Damit ist y bestimmt und ~:(t) kann aus w*(t) berechnet werden. Die berechnete Funktion (einschliesslich Streuung) steht mit den gemessenen Werten ~ 4- A~ in gutem Einklang. In jungen Herzmuskeln erfolgt die Pigmentanreicherung "schleichend". Aus einer Diffusionstheorie von Carpenter 1° resultieren ebenfalls Kurven, welche den Ergebnissen Strehlers gut angepasst werden k6nnen. C. Die Erfahrung zeigt, dass multizellul/ire Systeme mit innerer Regelung der Wachstumsprozesse nach einem Zeitpunkt maximaler Entwicklungsgeschwindigkeit einen "steady state" anstreben, wodurch Altern und Tod bedingt werden. Die Frage: "Gibt es eine biologische Entwicklung ohne die damit verbundene Erscheinung des Alterns?" ist bereits h~iufig diskutiert worden. Die Erfahrung zeigt, dass alle multizellul/iren biologischen Systeme, die sich durch eine innere Regelung der Wachstumsprozesse auszeichnen, fiber ein Maximum an Vitalit~it hinweg mit der Zeit altern und schliesslich sterben. Es wird aber auch die Ansicht vertreten, dass eine Population von Einzellern (Klonen) nicht altert, so lange ihnen ihre Umwelt ein optimales Wachstum erMech. Age. Dev., 1 (1972/73) 313-318
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m6glicht11,lL A u c h entartetes kanzerogenes G e w e b e entwickelt sich ohne innere Systemregelung f/Jr sich o p t i m a l ohne zu altern, so lange es die ~iusseren Bedingungen zulassen 13. Ffir nicht alternde Systeme h~itte m a n ffir alle Zeiten t zu fordern A ( t )
= O.
Au s (4a) und (5) resultiert dann u n m i t t e l b a r die Differentialgleichung/~(t) - - # • E ( t ) mit der b e k a n n t e n L6sung E ( t ) = Eo • el~t Die E n t wi ck l u n g muss v o m M a l t h u s t y p sein, und die Entwicklungskonstante, k, muss mit der Fehlerrate # fibereinstimmen.
LITERATUR 1 W. Beier und W. Rotzsch, Zur Theorie des Alterns, Dtsch. Gesundheitswes., 26 (1971) 194. 2 W. Beier, W. Rotzsch, G. Leutert und W. Ries, Zur Molekularbiologie des Alterns (2. Mitteilung) Ein mathematisches Modell des Alterns eines multizellul~iren Systems, Z. Alternsforsch., 22 (1970) 333. 3 W. Rotzsch, W. Beier, G. Leutert und W. Ries, Zur Molekularbiologie des Alterns (1. Mitteilung) Das Altern als zellul/ires und molekulares Problem, Z. Alternsforsch., 22 (1970) 325. 4 K.-H. Brehme, W. Beier und D. Wiegel, Entwicklung, Vitalitfit und Altern biologischer Systeme, Z. Alternsforsch., 24 (1971) 69. 5 W. Beier, K.-H. Brehme und D. Wiegel, Eine M6glichkeit zur Ermittlung des wahrscheinlichen biologischen Alters, Z. AlternsJbrsch., 24 (1971) 77. 6 W. Beier, K.-H. Brehme und D, Wiegel, Biophysikalische Aspekte des Alterns multizellul~irer Systeme: Fortschritte der experimentellen und theoretischen Biophysik, im Druck. 7 B. L. Strehler, Time, Cells and Aging, Academic Press, New York, 1962. 8 N. W. Shock, Physiological aspects of aging in man, Ann. Rev. Physiol., 23 (1961) 97. 9 B. L. Strehler, D. D. Mark, A. S. Mildvan und M. V. Gee, Rate and magnitude of age pigment accumulation in the human myocardium, J. Gerontol., 14 (1959) 430. 10 D. G. Carpenter, Biological aging as a diffusion phenomenon, Bull. Math. Biophys., 31 (1969) 487. 1l L. Hayflick und P. S. Moorhead, The serial cultivation of human diploid cell strains, Exp. Cell Res., 25 (1961) 585. 12 L. Hayflick, The limited in vitro lifetime of human diploid cell strains, Exp. Cell Res., 37 (1965) 614. 13 A. D. Bershadsky und V. J. Gelfand, Aging and malignization of cell strains, Cytology, 12 (1970) 423.
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