Flora, Bd. 164, S. 133-143 (1975)
Zur S02-Resistenz von Flechten verschiedener Wuchsform V.
WIRTH
und R.
TURK
Botanisches Institut II der Universitat Wiirzburg, Wiirzburg
S02 Resistance of Lichens with Different Growth Forms
Summary To determine the S02 resistance of lichens pertaining to different groups of growth form their thalli were exposed to S02 in air (4 mg/m3 ) (determination of total resistance) or were submerged in Na2S20 s solution (determination of plasmatic resistance). As a viability criterion the CO 2 exchange of the thalli was measured with an infrared gas analyzer before and after S02 exposure or sulphite treatment. 4 crustose lichens, 5 foliose lichens, 3 fruticose lichens and 1 foliose gelatinous lichen were tested. The resistance of the individual species as determined by the fumigation experiments and the sulphite treatment varies considerably, also within the usually employed growth form groups. An arrangement of the species in order of their plasmatic resistance results in another sequence than an arrangement in order of their total resistance. Of all the tested species the crustose lichen Rhizocarpon geographicum showed by far the highest plasmatic resistance. Although crustose lichens show a tendency to a greater resistance and fruticose lichens to a lower resistance to S02 gas, there is no high correlation between growth form and S02 sensitivity. Neither can crustose lichens be considered as generally more resistant than foliose ones nor can foliose lichens be considered as more resistant than fruticose species, because some of the tested lichens did not fit in this often accepted sequence of decreasing resistance. Some crustose lichens (e. g. Pertusaria corallina) were for instance found to be more sensitive than foliose lichens (e. g. Xanthoria parietina), several foliose lichens (Parmelia glabratula, Lobaria pulmonaria) were less resistant than beard-like lichens (Alectoria fuscescens, A. pubescens). After 80 2 treatment the gelatinous lichen Collema cristatum is totally damaged. It is possible that anatomical-morphological features of the lichens influence the S02 resistance, and some results support this, however the species are still too manifoldly differenciated within the roughly defined growth form groups to reveal a high correlation between growth form and S02 sensitivity. It seems that lichens of moist and shady habitats are more easily damaged than those of dry sites. Epiphytic and silicate lichens apparently do not differ basically in their S02 resistance. Lichen species with a large ecological amplitude are best qualified for bioindicators of S02 pollution; lichens with a narrow ecological range are too sensitive to environmental changes not caused by S02.
Einleitung
In luftverunreinigten Gebieten ist die Flechtenflora auffallend verarmt. Zahlreiche Arten verschwinden mit abnehmender Distanz zu den urbanen und industrialisierten Zentren, was in einer Vielzahl von Arbeiten dokumentiert wurde (Zusammenstellung s. LEBLANC und RAO 1973). Das offenbar artspezifische, unterschiedlich weite Vordringen der Flechten in luftverunreinigte Bereiche ftihrte zu Versuchen, diese Pflanzen als 10 Flora, Bd. 164
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"Bioindikatore n" zur qualitativen Beurteilung von immissi(lnsbelasteten Gebieten zu verwenden (DE SLOOVER und LEBLANC 1968; GILBERT 1970a; HAWKS WORTH und ROSE 1970; LEBLANC et al. 1972; TRASS 1973). Das verschieden weite Vordringen von Flechtenarten in Stadt- und Industriebereiche ist auf eine unterschiedliche Resistenz der Sippen gegeniiber der Gesamtheit der hier einwirkenden, standortsverand ernden Faktoren zuriickzufUhren, wobei fUr die jeweiligen Arten verschiedene Einzelfaktoren von entscheidendem Einflu13 sein konnen. Eine wesentliche Rolle in Verbindung mit der Schadigung und dem Verschwinden von Flechten mu13 dem S02 zugeschrieben werden. Experimentelle Untersuchungen von HILL (1971), BORTITZ und RANFT (1972), PUCKETT et al. (1973) und TURK et al. (1974) iiber die S02-Resistenz von Flechten ergaben, da13 zwischen einzelnen Arten auf Grund von physiologischen, morphologisch-anatomischen und okologischen Gegebenheiten Unterschiede in der S02-Resistenz bestehen. , Zahlreiche Gelandeuntersuchungen zeigen, da13 die am weitesten vordringenden epiphytischen Flechtenarten dem Krustenflechtentyp angehOren und die ersten Strauch~ flechten in gro13erem Abstand, in bereits wesentlic4 luftreineren Gebieten folgen. Daraus wurde auf eine allgemein gro13ere Empfindlichkeit der Blatt- und besonders der Strauchflechten (in erster Linie Bart- und Bandflechten) geschlossen (FENTON 1960, 1964; PYATT 1970). GILBERT (1970b) erkennt zwar gewisse, parallel mit den Wuchsformtypen gehende Tendenzen in der S02-Empfindlichkeit an, betont aber, da13 von der Thallusorganisation nur mit Vorsicht auf die S02-Empfindlichkeit der Arten geschlossen werden kann. Tatsachlich meiden auch Krustenflechtenarten, z. B. parallel zu manchen Strauchflechten, urbane Bereiche und deren Umgebung (siehe z. B. LEBLANC ct al. 1972). Zieht man ferner die innerhalb der iiblicherweise unterschiedenen Wuchsformgruppen (Gallert-, Krusten-, Blatt- und Strauchflechten mit Bart-, Band- und Strauchflechten i. e. S.) noch verbleibende Mannigfaltigkeit der anatomisch-morphologischen Formen der Arten in Betracht, so sind diese Gruppen doch noch recht grob umrissen und ist eine enge Korrelation zur S02-Resistenz nicht unbedingt zu erwarten. In vorliegender Arbeit werden Vertreter verschiedener Wuchsform- bzw. Thallusorganisationstypen (Krusten-, Blatt-, Bart- und Gallertflechten) auf ihre Resistenz gegeniiber S02-Einwirkung untersucht, urn zu ermitteln, wie weit Zusammenhangc mit der Thallusorganisation bestehen.
Material und Methodik Die ausgewahlten Flechten gehoren den iiblicherweise unterschiedenen 4 groBen Gruppen der Gallert-, Krusten-, Blatt- und Strauchflechten an. Nach dem Sammeln wurden die Flechten in Kiihl-Heiztruhen (Fa. Rubarth, Hannover) bei 10 DC und einem 12stiindigen Licht (10000 Lux)-Dunkel- Wechsel aufbewahrt und taglich einmal bespriiht; sie wurden nach ein bis 2 Wochen "Vorkultur" fiir die Versuche herangezog en . Die Messung des CO 2-Gaswechsels erfolgte mit dem Ultrarotabsorptio nsschreiber (LANGE 1965; TURK et al. 1974) und wurde unmittelbar vor und nach der Begasung mit S02 bzw. Submersion in Na2S20s-Losungen sowie im AnschluB daran mehrmals in wochentlichem Abstand bei 10 DC und 20000 Lux vorgenommen.
S O2-Resistenz von Flechten verschiedener Wuchsform Art
Fundort
Gallertflechte: Collema cristatum (L.) WEB.
Lauda(Nordbaden), 270 m, Kalkstein
Krustenflechten: Lecanactis abietina (AeR.) KOERB. Lecanora varia (ERRR.) AeR. s. str. Pertusaria corallina (L.) ARNOLD Rhizocarpon geographicum (L.) DC.
Arber (Bohmerwald), 1050 m, Abies alba Muggenbrunn (Siidschwarzwald), 1000 m, Holz Schonau (Siidschwarzw.), 600 m, Grauwacke St. Wilhelm (Siidschwarzw.), 800 m, Gneis
Blattflechten: Hypogymnia bitteriana (ZARLBR.) KROG Parmelia glabratula LAMY (gegen P. fuliginosa) Parmelia omphalodes AeR. Parmelia saxatilis (L.) AeR.
Hinterzarten (Siidschwarzw.), 900 m, Pinus mugo SchOnau (Siidsehwarzw.), 650 m, Fagus sylvatica, im Waldesinnern SchOnau (Slidschwarzw.), 720 m, Silikatfels wie P. omphalodes
Strauchflechten (Untergruppe Bartflechten): Alectoria fuscescens GYELN. SchOnau (Siidschwarzw.), 700 m, Abies alba, im Waldesinnern RoBkogel bei Zirl (Tirol), 2250 m, Silikatfels Alectoria pubescens (L.) R. H. HOWE Usnea florida (L.) WIGG. SchOnau (Siidschwarzw.), 600 m, Larix decidua Die Werte der Nettophotosynthese und der Dunkelatmung wurden bei den Krustenflechten auf die Grundflache, bei den anderen Flechten auf das Trockengewicht bezogen. Zur Erfassung der Gesamtresistenz ("avoidance" und "plasmatic resistance" nach LEVITT 1972; siehe hierzu TURK et al. 1974) wurden die voll gequollenen Flechten in einer Kiivette (Inhalt 400 ml) mit einem S02-Luftgemisch begast, dessen Konzentration 4 mg S02/m3 Luft und des sen relative Luftfeuchtigkeit 96 % betrug. Nahere Einzelheiten zur Begasungsanlage s. TURK et al. (1974). Die S02-Aufnahme der Flechtenthalli hatte eine Abnahme der S02-Konzentration in der Begasungskiivette zur Folge. Diese Konzentrationserniedrigung (ca. 40 %) war fiir aIle untersuchten Flechtenarten annahernd gleich (vgl. auch TURK et al. 1974). Zur Bestimmung der plasmatischen Resistenz (weitgehende Ausschaltung der avoidance-Faktoren wurden die Thalli in Erlenmeyerkolben 24 Std. (12 Std. Licht/12 Std. Dunkel) lang in 50 ml 0,3 mM Na 2S20 5-Losung submergiert. Die Losungen wurden mit 5 mM Kaliumhydrogenphthalat auf pH 4 eingestellt. Nach der Sulfit-Behandlung wurden die Thalli griindlich in destilliertem Wasser gewaschen. AnschlieBend erfolgte die Messung des CO 2-Gaswechsels mit dem Uras. Die Nettophotosynthese und die Dunkelatmung wurden wie in TURK et al. (1974) angegeben berechnet. Jede Versuchsreihe wurde einmal wiederholt. Das Gewicht der lufttrockenen Proben der Strauch- und Blattflechten und annahernd auch der Krustenflechten betrug 0,5 g.
Ergebnisse
A. Begasungsversuche (Versuche zur Gesamtresistenz der Flechten) Nach Begasung mit 4 mg S02/m3 Luft schranken die Krustenflechten Rhizocarpon geographicum, Lecanora varia und Lecanactis abietina sowie die Bartflechte Alectoria pubescens die Nettophotosynthese urn 10-20% ein, die Bartflechten Alectoria fuscescens, Usnea florida und die Kruste Pertusaria corallina urn 30-50% (vgl. Abb. 1 und 2). 10·
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Abb. 1. Verlauf der relativen Nettophotosynthese und Dunkelatmung (in %bei den Normalwerte) nach 14stiindiger Begasung mit 4 mg S02/m3 bzw. Submersion in 0,3 mM Na 2S20 5 -Losung bei den Krustenflechten Rhizocarpon geographicum, Lecanora varia und Pertusaria corallina.
Die untersuchten Blattflechten zeigen ein sehr unterschiedliches Verhalten (Abb.3). Die auf Silikatfels gewachsenen Proben von Parmelia saxatilis und P. omphalodes sind nach S02-Gabe maBig, die rindenbewohnenden Hypogymnia bitteriana und vor allem Parmelia glabratula stark geschadigt. Die Gallertflechte Collema cristatum, eine calciphile Art, ist auBerordentlich in Mitleidenschaft gezogen; bei ihr fallt die Nettophotosynthese auf den Kompensationspunkt. Eine ausgepragte Erholung, die sich in einem Ansteigen der Nettophotosynthese nach der Depression im AnschluB an die Begasung auBert, ist nur bei Lecanora varia (Abb. 1) festzustelIen, doch wird die urspriingliche Nettophotosyntheserate (= 100%) nicht mehr erreicht. Die Schadigung des Photosyntheseapparates ist irreversibel. Die Dunkelatmung ist bei den meisten Artell nach Begasullg unverandert oder etwas erhiiht. Deutlich auBerlich sichtbare Schadbilder (Farbveranderungen infolge ChlorophylI.zerstiirung) traten nicht bei samtlichen starker in Mitleidenschaft gezogellen Arten auf;
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S02-Resistenz von Flechten verschiedener Wuchsform STRAUCHFLECHTEN
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Abb.2. Verlauf der relativen Nettophotosynthese und Dunkelatmung (in % der Normalwerte) nach 14stiindiger Begasung mit 4 mg S02/m3 bzw. Submersion in 0,3 mM Na2S20S-Liisung bei den Strauchflechten U snea florida und Alectoria fuscescens.
eine Beurteilung der Schiidigung von Flechten allein nach~ derartigen Veranderungen ist daher nur mit Einschrankung moglich (vgl. BORTITZ und RANFT 1972). Farbveranderungen treten im allgemeinen vor all em an den jungen Lobenenden auf. Bei Hypogymnia bitteriana waren ferner besonders die sorediosen Stellen ausgebleicht. B. Submersionsvcrsuche (Versuche zur plasmatischen Resistenz) In Abb. 4 sind die Ergebnisse der Versuche zur Gesamtresistenz (helle Saulen) denen zur plasmatischen Rcsistenz (dunkle Saulen) gegeniibergestellt. Die angegebenen Werte entsprechen dem Mittel von drei CO 2-Gaswechselmessungen, die in wochentlichem Abstand im AnschluB an die unmittelbar auf die Begasung folgende Messung vorgenommen wurden. Unter den vorliegenden Versuchsbedingungen (pH 4,0,3 mM Na 2S20 5) ist die ScMdigung der Flechten durch die Behandlung mit NatriumdisulfitlOsungen erheblich starker als nach der Begasung mit 4 mg S02/m3 Luft. Die Nettophotosynthese wird bei den meisten Arten vollkommen eingeschrankt. DaB nicht nur der Phykobiont, sondern auch der Mykobiont geschadigt ist, kann aus der starken Einschrankung der Dunkelatmung einiger Arten geschlossen werden.
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Abb.3. Verlauf der relativen Nettophotosynthese und Dunkelatmung (in % der Normalwerte) naeh 14stiindiger Begasung mit 4 mg S02/m3 bzw. Submersion in 0,3 mM Na2S205-Losung bei den Blattfleehten Hypogymnia bitteriana, Parmelia saxatilis, P. omphalodes und P. glabratula.
Unter den 3 Bartflechten erweist sich Usnea florida als resistenteste Art; sie erreicht noch 20% der ursprtinglichen Nettophotosyntheserate. Alectoria fuscescens s. str. und A.. pubescens sind nach der Sulfitbehandlung so stark geschiidigt, daB es zu keiner apparenten Photosynthese mehr kommt. Auch die Blattflechte Hypogymnia bitteriana und die Krustenflechte Pertusaria corallin a erreichen den Kompensationspunkt nicht mehr; die foliosen Arten Parmelia saxatilis und P. omphalodes zeigen noch geringe Photosyntheseraten. Unter den auf ihre plasmatische Resistenz gepriiften Arten ragt die silicole Krustenflechte Rhizocarpon geographicum heraus; diese relativ euryoke Art tiberstand die Sulfitbehandlung recht gut, indem sich die Einschrankung der Nettophotosynthese auf etwa 20 % belief. Bei den untersuchten Proben kam es im Laufe der Nachkultivierung mit einer Ausnahme zu keiner Erholung der Photosynthese; die unmittelbar nach der Submersion in N~S20D-Losungen erreichte Rate blieb annahernd konstant.
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SOz-Resistenz von Flechten verschiedener Wuchsform
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Abb.4. Mittel der Nettophotosynthese und der Dunkelatmung (in % der Normalwerte) nach Abklingen
Diskussion
Die unterschiedliche Resistenz verschiedener Flechtenarten gegeniiber 80 2- bzw. 8ulfit-Einwirkung wurde auch in vorliegender Untersuchung deutlich. Ordnet man die Arten nach dem Grad ihrer 8chiidigung, so ergibt sich bei den 80 2- Begasungsversuchen cine andere Reihenfolge als bei den 8ulfitversuchen; so zeigen die Krustenflechten Rhizocarpon geographicum und Pertusaria corallina relativ geringe Unterschiede in der Gesamtresistenz (80 2- Begasungsversuche), aber groBe in der plasmatischen Resistenz (8ulfit-Versuche); diese Verhaltnisse deuten auf wirksame "avoidance"-Mechanismen (im 8inne LEVITTS 1972; S. TURK et al. 1974) bei P. corallina (mit relativ geringer plasmatischer Resistenz) hin (vgl. Abb. 4). Die Begasungsversuche zeigten, daB das Resistenzverhalten der Axten nur relativ wenig mit dem Wuchsformtyp, wie er iiblicherweise bei Flechten umrissen wird, korreliert ist. Krustenflechten konnen nicht allgemein als unempfindlicher als Blattflechten,
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diese nicht als weniger empfindlich als Strauchflechten eingestuft werden: so erwies sich z. B. die Blattflechte Xanthoria parietina (vgl. TURK et al. 1974) mindestens ebenso resistent wie aIle untersuchten Krustenflechten, und mehrere Blattflechten (z. B. Parmelia glabratula, Lobaria pulmonaria, Platismatia glauca, Hypogymnia bitteriana) empfindlicher als die Bartflechten Alectoria fuscescens und A. pubescens. Lediglich unter den 4 getesteten Krustenflechten fand sich keine sehr empfindliche Art. Die S02-Resistenz scheint demnach weniger mit den Wuchsformtypen, die ja in sich durch eine Vielzahl morphologischer Abwandlungen mannigfaltig variieren, korreliert zu sein, als mit anderen Gegebenheiten. Zwar dtirften anatomische Unterschiede (Thallus-, Cortexdicke etc.) zwischen den einzelnen Arten eine groI3e Rolle flir die S02-Resistenz spielen, doch nur in einigen solcher Merkmale unterscheiden sich die Wuchsformgruppen prinzipiell. Hinsichtlich anderer Faktoren fallt z. B. auf, daI3 unter den starker geschadigten Flechten Arten bzw. Proben von hygrisch gtinstigen (relativ schattig-Iuftfeuchten) Standorten tiberwiegen, so etwa Usnea florida, Alectoria fuscescens, Parmelia glabratula und die bei TURK et al. 1974 aufgeflihrten Lobaria pulmonaria und Evernia prunastri, sowie die empfindlichste Krustenflechte Pertusaria corallina (aIle an schattigen Standorten gesammelt); dagegen stammen die besonders resistent en Proben, mit Ausnahme der aerohygrophytischen, schwer benetzbaren Lecanactis abietina, durchweg von mehr oder weniger offenen, ziemlich austrocknungsgefahrdeten Standorten, wie Rhizocarpon geographicum, Lecanora varia und die frtiher untersuchten Xanthoria parietina, Lasallia pustulata, Hypogymnia physodes und Parmelia acetabulum. Dbereinstimmend verhalten sich an verschiedenen Standorten eingesammelte Proben derselben Art unterschiedlich, z. B. sind Proben von Hypogymnia physodes aus niederschlagsreichen Gebirgslagen weniger resistent als solche von niederschlagsarmen, warmen Gebieten (unveroffentlicht). Die Ursache hierftir kann in verminderten "avoidance"-Mechanismen in der Thallusstruktur zu suchen sein: Flechten luftfeuchter und schattiger Standorte pflegen einen zarteren Thallus und eine dtinnen und weniger dichte Cortex tiber der Algenschicht zu besitzen als Flechten austrocknungsgefahrdeter Standorte, so daB ein Eindringen toxischer Substanzen in die Phykobiontenschicht erleichtert ist. Die Gallertflechte Collema cristatum ist durch gallertige Konsistenz des ungeschichteten Thallus und Blaualgenphykobionten ausgezeichnet, wahrend samtliche tibrigen untersuchten Arten Grtinalgen flihren. Die Behandlung mit 4 mg S02/ m3 Luft flihrt zu einer auBerst starken Schadigung. Ob diese auf eine besonders groBe Empfindlichkeit der Cyanophyceen-Phykobionten oder z. B. eher auf die besondere Thallusorganisation zurtickzuflihren ist, kann von diesen Versuchen her nicht beurteilt werden. Blaualgen konnen, legt man ihr sonstiges Resistenzverhalten zugrunde, eher als wenig empfindliche Arten gelten, die Sulfitversuche (mit allerdings relativ hohen Konzentrationen) konnten das nicht bestatigen. Die geringe S02-Resistenz konnte u. a. auch auf mangelnde "avoidance"-Mechanismen zurtickgehen, wie z. B. das Fehlen eines dichten Plektenchyms zum Schutze der Algen, die lockere Verteilung der Algen und der Hyphen im Thallus, die sehr starke Quellbarkeit und somit die starke Akkumulation von S02 bzw. des sen Folgeprodukten.
S02-Resistenz von Flechten verschiedeuer Wuchsfor m
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Die Resistenz der beiden epiphytischen Bartflechten Usnea florida und Alectoria fuscescens ist zwar vergle:chsweise maBig, aber angesichts des weitgehenden Fehlens dieser Gruppe in Industrie- und Stadtrandgebieten noch erstaunlich hoch. Es liegt hier nahe, das Verschwinden vieler dieser Arten auch bzw. mehr mit anderen Umweltveranderungen in Verbindung zu bringen. Sie fehlen heate weitgehend auch in der weiteren Umgebung von Stadten oder sind sehr kiimmerlich entwickelt. Viele in Waldern vorkommende Usnea-Arten vertragen bereits nicht einmal eine starkere, mit Absinken der Luftfeuchtigkeit verbundene Auflichtung des Waldes und kiimmern bzw. sterben abo Extremes Beispiel ist Usnea longissima, deren allgemeines Verschwinden (schon vor Jahrzehnten) zweifellos auf rein mikro- und gelandeklimatische Ursachen zuriickzuflihren ist (GAMS 1961, WIRTH 1974). Auch die von HAwKswoRTH et al. (1973) als Bioindikatoren fiir sehr gering SOz-belastete Gebiete angefiihrten Usnea articulata und U. ceratina sind mikroklimatisch stentike Arten, deren schon seit langem zu beobachtender Riickgang kaum mit einer SOz-ErhOhung in Zusammenhang gebracht werden kann, sondern vielmehr mit klimatischen (und das Substrat betreffenden) Veranderungen infolge forstwirtschaftlicher MaBnahmen. Gleiches diirfte flir mehrere Arten gelten, die bei HA WKSWORTH und ROSE (1970) als empfindlich und fiir gering S02-verunreinigte Zonen charakteristisch angesehen werden. Auf diese, iiberwiegend aerohygrophytischen, kiihle Habitate bevorzugenden Flechten ktinnen schon Standortsveranderungen, die zu einer Erwarmung und einer Herabsetzung der Luftfeuchte fiihren, etwa Eingriffe in die Waldstruktur, nicht ohne negativen EinfluB auf die Stoffbilanz bleiben. Einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden dieser Flechten und SOz zu sehen oder ihr Vorkommen mit bestimmten SOz-Gehalten der Luft zu parallelisieren, ist. in den meisten Fallen kaum berechtigt. Das Beispiel der recht hohen Resistenz von Lecanadis abietina, einer Flechte, die nach den MaBstaben von HA WKSWORTH und ROSE in Mitteleuropa als Bioindikator fiir wenig SOz-verunreinigte Bereiche eingestuft werden ktinnte, zeigt, daB die SOz-bezogene Interpretation von Flechtenvorkommen in weniger luftverschmutzten Gebieten problematisch ist. Als Bioindikatoren fiir die S02-Belastung eign:m sich am besten eurytike Flechten, wie z. B. Hypogymnia physodes, Xanthoria parietina, Evernia prunastri. Stentike Arten, wie sie bei man chen Autoren als Zeiger der Luftverschmutzung angefiihrt werden, reagieren schon auf geringe Umweltveranderungen, die nicht mit der S02-Belastung zusammenhangen, und sind deshalb als Bioindikatoren fiir S02-Immissionen ungeeignet. Wie die Ergebnisse auch dieser Arbeit zeigen, ist das S02 zweifelsohne einer der wesentlichsten fiir den Riickgang von Flechten verantwortlich zu machenden Faktoren. Dber den gefiihrten Nachweis der Schadigung von Flechten durch S02 (und HF) darf aber der EinfluB anderer, in ihrer Wirkung noch kaum bekannter Immissionen einerseits, klimatischer und edaphischer Veranderungen am Standort andererseits, nicht iibersehen werden. Diese Arbeit wurde im Rahmen eines Forschuugsprojektes von Herrn Prof. Dr. O. durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefordert.
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V. WIRTH und R. TURK
Zusammenfassung Zur Ermittlung der 802-Resistenz von Flechten verschiedener Wuchsformzugehiirigkeit wurden die Thalli mit 80 2 (4 mg/ma Luft) (Bestimmung der Gesamtresistenz) bzw. mit 0,3 mM Na 28 20 sLiisung (Bestimmung der plasmatischen Resistenz) behandelt. Als Vitalitatskriterium diente der CO 2-Gaswechsel vor und nach der 80 2- bzw. 8ulfit-Exposition. Es wurden 4 Krusten-, 5 Blatt-, 3 Bartflechten sowie eine foliose Gallertflechte untersucht. Die Resistenz der einzelnen Arten sowohl gegeniiber S02 als auch gegeniiber Na2S20s ist sehr verschieden, teilweise auch innerhalb der iiblicherweise unterschiedenen Wuchsformgruppen. Eine Abstufung der Arten nach ihrer plasmatischen Resistenz fiihrt zu einer anderen Reihenfolge als nach ihrer Gesamtresistenz. Die mit Abstand hiichste plasmatische Resistenz wies die Krustenflechte Rhizocarpon geographicum auf. Obwohl Krustenflechten eine Tendenz zu griiBerer, Bart- bzw. Bandflechten zu geringerer Resi· stenz gegeniiber S02-Gas zeigen, existiert keine enge Korrelation zwischen Wuchsform und S02Empfindlichkeit. Krustenflechten kiinnen nichtallgemein als resistenter als Blattflechten, diese als resistenter als Strauchflechten gelten; mehrere der getesteten Arten entsprachen in ihrem Resistenzverhalten nicht dieser Reihenfolge. Zum Beispiel erwiesen sich Krustenflechten (z. B. Pertusaria corallina) als empfindlicher als einige Blattflechten (z. B. Xanthoria parietina), manche Blattflechte (Parmelia glabratula, Lobaria pulmonaria) als weniger resistent als Bartflechten (Alectoria pubescens, A. fuscescens). Die foliose Gallertflechte Collema cristatum wurde durch die S02-Behandlung viillig geschadigt. Wenn anatomisch-morphologische Eigenschaften der Flechten EinfluB auf die S02Resistenz haben, wofiir es Hinweise gibt, dann sind die Arten innerhalb der grob umrissenen Wuchsformgruppen Krusten-, Blatt-, Bartflechten etc. offen bar noch zu mannigfaltig differenziert, als daB eine enge Korrelation zwischen Wuchsform und S02-Resistenz gegeben sein kann. Benetzbare Flechten feucht-schattiger Standorte scheinen im allgemeinen mehr geschiidigt zu werden als solche trockener Habitate. Epiphytische und silicole Flechten unterscheiden sich in ihrer SOz-Empfindlichkeit offenbar nicht prinzipiell. Als Bioindikatoren auf S02 eignen sich am besten euryiike Arten; steniike Flechten reagieren schon auf geringe, nicht S02-bedingte Umweltveranderungen.
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S02-Resistenz von Flechten verschiedener Wuchsform
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