Flora (1989) 182: 57 -67 VEB Gustav Fischer Verlag Jena
Die Wei den (Salix) der Sektio n Chamaetia und das Proble m der Entste hung der ark tisch en Floral) A. K. SKVORTSOV Botanischer Hauptgarten der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Moskau
Salix Section Chamaetia and the Problem of the Origin of the Arctic Flora Summa ry reticulata, S. vestita, S. nivalis, The Arctic-Alpine willow section Chamaetia is composed of 4 species: Salix its relationships being quite one, isolated ally taxonomic a as regarded been has section this now Until S. erythrocarpa. which is the renowned China Southwest us mountaino the of obscure. Author's investigation of willows some of these Chinese willows, and conservation centre of old Tertiary relics of deciduous flora - has revealed that Psilostigmatae, are very close to the especially those placed by CHOU et al. (1984) into sections Magnificae and which may even be placed, without phanera, S. be to species of the section Chamaetia. The nearest relative seems contemporary section Chamaetia the that conclude may we Thus . Chamaetia section the with much hesitation, groups. Whether other Arctic and boreal any via not and directly, stock descended from the primitive ancient-Tertiary Arctic-Alpine willows have a similar origin, remains to be investigated.
1. Einleitu ng ausgenommen) Die Gattung Salix umfaBt etwa 400 Arten, die fast aIle (recht wenige n. Die angehOre ich Florenre chen Holarktis chorologisch (und wohl auch herkunftsmiiBig) dem ung Ausdehn der ich hinsichtl auch als Lage ihre auf bezug in Arealtypen der Weiden sind - sowohl eilung der Unterabt he floristisc groBere eine kaum gibt es ltig; mannigfa iiuBerst und Umrisse reich an Salix-Arten Holarktis, die keine ihr eigenen charakteristischen Weiden besitzt. Besonders Ja, die Zwerg- und Arktis, die darunter Klima, m feuchtere und sind die Gebiete mit kiihlerem der arktischen enten Kriechweiden sind gerade eine der auffiiIligsten, bezeichnendsten Kompon tschaftliverwand der g Ermittlun die fUr Salix Flora und Vegetation. Deswegen kann die Gattung sein. rechend vielversp sehr Flora n arktische der und en temperat der chen Beziehungen zwischen n, welche echte Sektione Die worden. realisiert nicht bisher hen Versprec diese sind Doch ., Retusae KERN., arktische und arktisch-alpine Arten umfassen - vor aHem Chamaetia DUMORT in Europa und wie n Sektione borealen den von scheinen KERN. ix Glaucae PAX und Myrtosal V 1936; (NASARO mehrfach sie Nordasien so auch in Nordamerika isoliert zu sein. Deshalb wurden einer in h, einheitlic Details allen in nicht RECHINGER 1964; SKVORTSOV 1966, 1968), zwar nicht ist ich Tatsiichl ngefaBt. zusamme NASAROV T.) (DUMOR ia Chamaet besonderen Untergattung Es haben. ames Gemeins viel zu leugnen, daB aIle diese Weiden in ihrer Morphologie und Okologie mit in Striiuchle prostrate oder niedrige ne), gebunde en sind auBeralluviale (d. h. nicht an Alluvion (aIle Blattanlagen beschranktem jiihrlichem Zuwachs und beschrankter Zahl der Blatter pro SproB die Blatter klein tig; rinnenar sind schon in der ruhenden Knospe determiniert) ; die Blattstiele sind rven yom Seitenne der e ungsstell Abzweig die ; rundlich oder hochstens mittelgroB, relativ breit, oft am Ende stehen n) (Kiitzche enzen Infloresz die en; verschob Blattrand zum Mittelnerv gewohnlich 1) Herrn Prof. Dr. H. MEUSEL zum 80. Geburtstag gewidmet.
i
I !
,I
II I
I
I Ii
if!
58
444
A. K.
9
SKVORTSOV
normal beblatterter Sprosse, die Blutezeit ist spat; die Nektarien sind relativ groB, oft gelappt oder zu 2 bis 3 in einer Blute anzutreffen. Sehr charakteristisch sind die Knospen: ihre Deckschuppe ist lederig, und die AusmaBe folgen einer bestimmten Gradation, dem "arctica"-Typus (SKVORTSOV 1968: 43-44): die katzchentragenden Blattknospen sind einander ganz gleich, aber von den (zum Schlafen bestimmten) Reserve-Knospen scharf abgegrenzt. 1st nun aber die oben charakterisierte Gruppe monophyletisch, und entspricht sie wirklich dem subgenerischen Status? Sind die angefUhrten charakteristischen Merkmale nicht nur ein Ergebnis parallel entstandender Anpassungen an das extreme Klima? Parallele Entwicklung schien schon dem Verfasser (SKVORTSOV 1968: 77) durchaus nicht ausgeschlossen. In den neueren Dbersichten der amerikanischen und chinesischen Wei den (ARGUS 1973; DORN 1976; CHOU et al. 1984) wird die Untergattung Chamaetia nicht anerkannt. Die Annahme der Polyphylie der arktischen Weiden erfordert es, fUr jede Sektion (oder gar fUr einzelne Gruppen innerhalb der jetzt anerkannten Sektionen) ihre verwandtschaftlichen Bindungen, bzw. phylogenetischen Wurzeln, zu ermitteln. 1m vorliegenden Aufsatz wird ein Versuch unternommen, das Problem fUr die Sektion Chamaetia zu losen. Die Grundlage des Studiums bildeten auBer der eigenen Salix-Sammlung des Verfassers im Herbarium des Botanischen Hauptgartens in Moskau (MHA), folgende Materialien: Kollektionen des Herbariums des Botanischen Institutes Leningrad (LE); einige aus Kew (K) und Edinburgh (E) entliehene Herbarbelege, darunter Typen; Notizen, die der Verfasser in botanischen Anstalten von Lund, Giiteborg, Uppsala und Stockholm (LD, GB, UPS, S) wiihrend seines Aufenthaltes in Schweden 1973 gemacht hatte. Den Leitungen aller dieser Anstalten gebiihrt mein herzlicher Dank.
2. Die Sektion Chamaetia DUMORT Die am weitesten verbreitete und am besten bestimmte Art, und zugleich der nomenklatorische Typus der Sektion, ist S. reticulata L. - eine der eigenartigsten und elegantesten Weiden. Da sie so viele Male im speziellen und auch im popularen Schrifttum beschrieben und abgebildet wurde, kann ich hier auf ihre Beschreibung verzichten. Thr Areal ist fast zirkumpolar arktisch (ausgenommen Gronland und Island) mit zahlreichen Ausstrahlungen bzw. isolierten Fragmenten in der Subarktis, wo sie hauptsachlich an EntbloBungen basischer Gesteine gebunden ist, und in der alpinen Stufe der Gebirge der gemaBigten Zone Europas, Nordasiens und in geringerem MaBe auch Nordamerikas (Abb. l). Obwohl.sie in den Pyrenaen, den Alpen und auf der Balkan-Halbinsel vertreten ist, fehlt die Art dem Kaukasus und den Gebirgen Mittelasiens. In Eurasien und im ostlichen Nordamerika ist S. reticulata durchaus einheitlich. Dagegen gibt es im westlichen Nordamerika 2 Segregate. Das 1. ist die fUr die Konigin-Charlotte-Inseln endemische subsp. glabellicarpa ARGUS (1965), Canad. J. Bot. 43: 1021. Sie ist der typischen subsp. reticulata abgesehen von den Kapseln, die vollstandig (oder fast) kahl sind, vollig gleich. Das 2. Segregat, welches neuerdings auch als eine Unterart, subsp. nivalis (HOOK.) LOVE, LOVE et KAPOOR (1971), Arct Alp. Res. 3: 146, bewertet wurde, hat eine recht ausgedehnte Verbreitung im Hochgebirge des Rocky Mountains-Systems: von etwa 55° n. Br. in BritischKolumbien bis etwa 36° n. Br. im nordlichsten Neu-Mexiko (Abb. l). Fur diese Sippe wird auch von DORN (1976, 1977) und ARGUS (1986) Subspezies-Rang angenommen. Doch ist meines Erachtens eine solche Bewertung anfechtbar. Die Sippe wurde 2mal von solchen guten Beobachtem wie W. HOOKER und P. A. RYDBERG als selbstandige Art beschrieben: S. nivalis HOOK. (1838), Fl. Bor.-Am. 2: 152; S.saximontana RYDB. (1899), Bull. N. Y. Bot. Gard.l: 261. Und - was gewiB das Wichtigste ist - alle von mir durchgesehenen Herbarbelege von S. nivalis HOOK. (insgesamt uber 40) waren mit genugender Sicherheit bestimmbar; es wurden keine "Dbergangsformen" erkannt. S. nivalis unterscheidet sich von S. reticulata schon im allgemeinen Aussehen: sie neigt zum Polsterwuchs (Abb. 2), was bei S. reticulata nicht der Fall ist. Dabei sind die Sprosse von S. nivalis merklich dunner, die Blatter kleiner und die Katzchen kurzer als bei S. reticulata. Die bei S. reticulata auffallende purpurne Pigmentierung der Sprosse, Blattstiele, Blutenbrakteen und
Salix 'eel. Chamaetia und die arktische Flora
59
Abb. I. Gesamtareal der Gruppe Manificae s.1. (1) und Areale der Arlen der Sektion Chamaetia: Salix vestita (2), S. reticulata (3), S. nivalis (4, Nordamerika), S. erythrocarpa (4, N.-O. Asien).
p
60
A. K. SKVORTSOV
Knospenschuppen ist bei S. nivalis nie so intensiv und fehlt meisten s ganz. Dagegen bleiben bei S. nivalis vorjiihrige verdorrte Blatter oft an den Zweigen haften, was bei S. reticulata fast nie geschieht. Zum Unterschied von den immer stark gerunzelten Blattern von S. reticulata haben die Blatter von S. nivalis eine fast glatte Oberseite. Das konstanteste Unterscheidungsmerkmal ist schlieBlich, daB die Blatter von S. nivalis vollstandig ganzrandig und drusenlos sind, wiihrend die Blatter von S. reticulata einen sehr fein aber deutlich gekerbten Rand mit kleinen Drusen an den Einschnitten besitzen. Deshalb erscheint es mir hinreichend begrundet, S. nivalis den Artrang zuzusprechen. Ubrigens wird diese Auffassung auch von mehrer n amerikanischen Forschern geteilt (SMITH 1942; KELSO 1944; BRAYSHAW 1976).
Abb. 2. Salix nivalis HOOK. - Canada, Alberta, Banff National Park, Mt. Norquay , 6800', below snowbed . 23. VI. 1945. A. E. PORSILD, A. 1. BREITUNG 12202 (MHA).
Die 3. Art der Sektion, S. erythrocarpa KOMAROV (1914), Feddes Repert. 13: 165, sieht der vorangehenden sehr iihnlich (Abb. 3). N ur hat S. erythrocarpa noch kleinere AusmaBe; sie behalt noch bestandiger als S. nivalis verdorrte Blatter der vorhergehende n Jahre. Die Blattspreiten sind nicht gerunzelt, die Oberseite ist vollig glatt, der Blattrand driisenl os und ungekerbt; die Katzchen immer winzig klein und dazu ganz kahl oder nur mit sehr sparlich en Harchen besetzt. 1m Gegensatz zu S. nivalis ist die purpurne Farbung der Blattstiele und Katzch en (auch der Kapseln und Staubblatter) meistens sehr auffallend. Die Verbreitung der Art ist recht beschriinkt: bis jetzt sind nur etwa 12-15 Fundorte bekannt, die Mehrzahl davon in den Gebirgstundren Kamtschatkas (Hohen von 900-16 00m); auch auf der Halbinsel Koni (in der Niihe von Magadan) wurde diese
Salix sect. Chamaetia und die arktische Flora
61
Art gesammelt. Das von mir (SKVORTSOV 1968: 118) angegebene 3. Arealfragment im Becken des Flusses Morna ist zu streichen: diese Angabe war auf fehlerhafter Bestimmung sehr splirlichen Materials begrundet. Die 4. und letzte bisher bekannte Art der Sektion ist S. vestita PuRSH (1814), Fl. Amer. Septentr.: 610. Ihre enge Verwandtschaft mit S. reticulata ist unverkennbar. Doch ist das schon kein kriechendes und wurzelndes Spalierstrauchlein mehr wie die 3 vorigen Arten. Obwohl sie an besonders ungiinstigen Standorten an das Substrat angepreBt ist, bildet S. vestita normalerweise echte, sparrig verzweigte, recht zahe, 30-S0cm hohe Straucher. Dementsprechend dringt die Art weder in die hochalpine Stufen noch in das hohe Tundrengebiet vor. Obwohl sie im wesentlichen subarktisch und subalpin verbreitet ist, kommt die Art in Siidsibirien auch ziemlich tief in der Waldstufe vor: so z. B. im Todzha-Tal in der Tuvinischen Autonomen Republik auf Kalkgestein
Abb. 3. Salix erythrocarpa KOM. - Kamtschatka, Vulkan Klutschewski, obere alpine Stufe. 23. VII. 1927. P. T. NOVOGRABLENOV (MHA).
bei etwa 900-1 000 m; die Straucher sind hier bis 1 m hoch. Eine Wuchshohe bis 1 m wird auch fUr die Pflanzen der Rocky Mountains von DORN (1977) angegeben. Ebenso wie S. reticulata hat S. vestita rundliche oder elliptische, sehr stark gerunzelte Blatter, aber in der Blattnervation gibt es bedeutende Unterschiede: statt 2-4 Paar deutlicher Seitennerven bei S. reticulata haben die Blatter von S. vestita 4-8 Paar, und dabei ist ihre Abzweigung vom Mittelnerv nicht so stark zum Blattgrund verschoben wie bei S. reticulata (Abb. 4). Auch kann S. vestita bis 8 oder gar 10 Blatter pro SproB entwickeln, S. reticulata dagegen nur bis zu 4. Die Blatt- und Katzchenstiele bei S. vestita sind merklich kiirzer als bei S. reticulata. Die geographische Verbreitung von S. vestita ist sehr bemerkenswert: sie besteht aus 3 Tau-
a
62
A. K.
SKVORTSOV
Abb. 4. Salix vestita PURSH. - Altai, Leninogorsk (olim Ridder), Berg Krestowaja, obere Waldgrenze. 22. VIII. 1962. N. SUWOROWA (MHA).
sende Kilometer voneinander entfemten Gebieten. Das I. (aus welchem die Art zuerst beschrieben wurde) liegt im subarktischen Ost-Kanada; das 2. in den Rocky Mountains von etwa 45 bis 55° n. Br. (Abb. 1); in beiden amerikanischen Fragmenten sind die Fundorte sehr zerstreut. Das 3. Fragment ist auf die Gebirge Sud-Sibiriens beschriinkt (Altai-Sajan-Gebiet und das Gebirge nord6stlich des Baikal-Sees). Die Pflanzen aller 3 Arealfragmente sind voneinander nicht zu unterscheiden. Jedes dieser 3 Arealfragmente hat an und fUr sich offenbar v61lig naturliche, fur die Pflanzengeographie gar nicht ungew6hnliche Umrisse. Aber die Zusammengeh6rigkeit aller 3 ist ganz ungew6hnlich; ich kann kaum irgendeine andere Art der Blutenpflanzen nennen, welche gerade solche 3teilige Verbreitung hiitte. Ein Versuch, dieser Verbreitung eine Deutung zu geben, wird im letzten Abschnitt des vorliegenden Aufsatzes vorgenommen.
3. Verwandtschaft der Sektion Chamaetia DaB die Sektion Chamaetia unter den borealen Weidengruppen Europas, Nordasiens und Nordamerikas keine nahe Verwandten hat, ist ganz klar. Das hat auch DORN (1976: 2776) in seiner Obersicht der amerikanischen Weiden festgestellt: "The ancestors of the section are completely obscure".
F
Salix sect. Chamaetia und die arktische Flora
Abb. 5. Salix phllllcm SCHNEID. - Sikang, Tanpa. distr. Maoniu, ca 3100 H. SMITH PI. Sin. 12711 (MHA).
I11.S.I11.
63
rrutex 4-6111 altus. 4. X. 1934
Aber es gibt ja noch eine sehr reiche temperate Salix-Flora in China, die den europihschen und amerikanischen Forschem bis jetzt wenig bekannt ist. Den neuesten Angaben (CHOU et al. 1984) zufolge, besitzt China 257 Salix-Arten. Diese Zahl ist sicherlich bedeutend iibertrieben; doch auch falls wir die altere Angabe von HAO (1936) - 159 Arten - zugrunde legen und daraus noch diejenigen Arten ausschlieBen, die auch in der UdSSR vorkommen, so werden wir es immerhin mit wenigstens 120-130 spezifisch chinesischen Arten zu tun haben. Die Mehrzahl davon ist im Gebirge Siidwest-Chinas konzentriert. Und gerade diese Region ist ja das wichtigste, das beriihmteste Konservierungszentrum der Relikte der laubwerfenden temperaten tertiaren Flora. Sollten wir nicht einmal versuchen, gerade hier die Verwandtschaften der Sektion Chamaetia aufzufinden ? Bei Durchsicht der mir zuganglich gewesenen Materialien zeigte sich, daB unter den chinesischen Salix-Arten eine ganze Reihe unverkennbarer Verwandter der Sektion Chamaetia existieren. Das sind vor aHem: S. magnifica HEMSL., S. moupinensis FRANCH., S.fargesii BURK., S.omeiensis C. K. SCHNEID., S. kansuensis HAO, S. radinostachya C. K. SCHNEID., S. phanera C. K. SCHNEID.; sehr wahrscheinlich auch S. allochroa C. K. SCHNEID., S. amphibola C. K. SCHNEID., S. argyrophegga C. K. SCHNEID., S. pella C. K. SCHNEID., S. plocotricha C. K. SCHNEID.; S. ulotricha C. K. SCHNEID. Die taxonomische Gruppierung dieser Arten wurde von verschiedenen Autoren verschieden dargesteHt. SCHNEIDER (1961) verteilte die Arten auf 3 von ihm aufgestellte Sektionen: Magnifi-
64
A. K.
SKVORTSOV
cae, Eriostachyae und Psilostigmatae. Die letzten 2 sind meines Erachtens in SCHNEIDERS Fassung recht heterogen und enthalten sowohl mit der Sektion Chamaetia verwandte als auch ihr ziemlich fernstehende Arten. HAO (1936) hat der Sektion Magnificae einen breiteren und meines Erachtens richtigeren Umfang gegeben, so daB die Sektion in HAOS Fassung schon etwa die Halfte der von mir oben aufgezahlten Arten enthalt. Die iibrigen Arten gerieten bei HAO in die von ihm neu (aber illegitim: ohne lateinische Diagnosen) aufgestellten Sektionen Allochroae, Tedradeniae und Ernestiae. In der neuesten Ubersicht der chinesischen Weiden (CHOU et a1. 1984) werden fast alle von mir erwiihnten Arten in 2 Sektionen - Magnificae und Psilostachyae - eingereiht. Letztere ist wiederum ziemlich heterogen. Da ich zur Zeit noch nicht in der Lage bin, eine vollstandige eigene taxonomische Gliederung der chinesischen Weiden vorzuschlagen, werde ich einstweilen fUr die Gesamtheit der Arten, die ich oben als nahere Verwandte der Sektion Chamaetia aufzahlte, die Bezeichnung "Gruppe Magnificae s. 1." verwenden. Alle diese Arten sind an die obere Halfte der Waldstufe (d. h. Hohen von etwa 1500-3000m) gebundene Straucher oder kleine Baume (bis lO-12m hoch). Die geographische Verbreitung der meisten von ihnen scheint recht beschrankt zu sein, ist jedoch zur Zeit fUr jede einzelne Art kaum ganz genau festzustellen. Dagegen ist die Gesamtverbreitung der Gruppe gut bekannt: sie urnfaBt die Gebirgsregionen Siidwest-Chinas yom Siidosten der Provinz Gansu und von Siidwest-Shenxi bis Nordwest-Yunnan, auch Nord-Burma und den Ost-Himalaja. Echte alpine Arten gibt es in dieser Gruppe nicht; in ihrem Verbreitungsgebiet beginnt die alpine Stufe ab 3200-4000m. So konnen die Merkmale, die die Magnificae s. 1. mit den Chamaetia gemeinsam haben, durchaus nicht als konvergent erworbene Anpassungen an klimatische extreme Lebensraume gedeutet werden. SCHNEIDER (1916: 114), der lebende Exemplare von S. magnifica im Arnold Arboretum beobachten konnte, bemerkte am SchluB seiner Diagnose der Sektion Magnificae: "The living plants of S. magnifica look extremly distinct, scarcely resembling any other known willow". Als ich aber im August 1973 zu Besuch im Botanischen Garten Goteborg war und der inzwischen verstorbene Direktor, Prof. PER WENDELBO, mir ein dort kultiviertes Exemplar von S. magnifica zeigte, gewann ich einen ganz anderen Eindruck. Mich iiberraschte gerade die Ahnlichkeit mit S. reticulata und S. vestita! Der Strauch war 1 m hoch, mit recht starken, aber kurzen und gespreizten Zweigen - also nicht besonders geneigt, in die Hohe zu wachsen; seine Blatter waren sehr groB, auffallend rundlich-oval, und ihre Zahl pro SproB war sehr gering (Abb. 6). 1m ganzen konnen die Merkmale, die den Gruppen Magnificae s. 1. und Chamaetia gemeinsam sind, folgendermaBen dargestellt werden: Sprosse von beschranktem Zuwachs, mit beschrankter Zahl von Blattern (bis etwa lO pro SproB). Gradation der Knospen-Form und -AusmaBe yom "arctica"-Typus. Nur selten kommen sehr kleine Nebenblatter vor, meistens sind sie vollig reduziert. Die Blattstiele variieren in der Lange, ihr Querschnitt ist meistens ausgesprochen rinnig. Das Nervennetz der Blattspreite springt auf der Unterseite vor und ist auf der Oberseite oft vertieft. Die Infloreszenzen stehen am Ende normal beblatterter Sprosse; das oberste Blatt eines solchen Sprosses ist voll entwickelt (manchmal ist es sogar das groBte am Spro8) und tragt in seiner Achsel eine vollentwickelte Knospe. Die Bllitezeit ist spat: gleichzeitig mit der Beblatterung der Sprosse. Katzchen nicht sehr dicht, Bliiten oft (besonders in mannlichen Katzchen) quasi-vertizillat angeordnet. Brakteen diinn-membranos, blaB oder etwas braunlich, mitunter purpurn angelaufen, ofters etwas konkav, stumpf oder abgestutzt, kahl oder behaart. Nektarien meistens 2 (seltener bei ~ nur je eins), oft gelappt. Staubblatter kurz (2-4mm lang), Antheren rundlich, klein (e sic co 0,4 - 0,5 mm lang). Kapseln kurz gestielt oder sitzend, klein (gegen Reife 4 - 5 mm lang), kahl oder behaart. Griffel miiBig lang oder kurz. Narben seitwiirts abgebogen, sehr kurz (etwa O,2-0,4mm lang). Samen pro Kapsel etwa 8-15. Nach der Gesamtheit der Merkmale scheint S. phanera der Sektion Chamaetia besonders nahe zu sein. Sie konnte sogar dieser Sektion angeschlossen werden: sie unterscheidet sich von den Chamaetia-Arten eigentlich nur durch ihre in die Lange gezogenen Blatter und die meistens gut ausgebildeten, allerdings sehr kleinen Nebenblatter.
Salix sect. Chamaetia und die arktische Flora
Abb.6. Salix magnifica (MHA).
HEMSL. -
Botanischer Garten Giiteborg, kultiviert. 20. VIII. 1973. coli. A.
65
SKVORTSOV
4. VerwaDdtschaft nDd Geschichte Wir wollen jetzt versuchen, den festgestellten morphologisch-taxonomischen Zusammenhangen und chorologischen Tatsachen eine florengeschichtliche Deutung zu geben. Hinsichtlich der Phylogenie sind offenbar 2 grundlegende Feststellungen zu treffen: 1. Die Sektion Chamaetia ist entweder ein direkte Nachkomme der Gruppe Magnificae s. 1. Oder es sind beide Gruppen Geschwister und Nachkommen eines gemeinsamen, nicht sehr entfemten Ahnen, der den Typus der Magnificae zwar variiert aber grundsatzlich behalten hat, wahrend die Chamaetia einen abweichenden Weg in eine andere adaptive Zone einschlugen. - 2. Die Evolution der Sektion Chamaetia folgt in der Richtung einer fortschreitenden Reduktion und gleichzeitig einer gewissen Juvenilisierung (welche iibrigens fast immer mit Reduktion Hand in Hand geht) der vegetativen Sphare; die generative Sphare erlitt dabei nur eine Verkleinerung der Dimensionen. Tatsachlich stellen die 4 Chamaetia-Arten ein Musterbeispiel fiir eine Reduktionsreihe dar: S. vestita-S. reticulata-S. nivalis-S. erythrocarpa. Natiirlich bedeudet das nicht, daB diese Arten eine aus der anderen in dieser geraden Reihenfolge entstanden; jedoch scheint die Geschichte dieser Gruppe iihnlich verlaufen zu sein. Wie konnten wir diese phylogenetischen Vorgange an zeitliche und raumliche Koordinaten binden? Am einfachsten ware es, Siidwest-China zum Zentrum der Entstehung und anfanglichen Diversiftkation der Magnificae-Chamaetia-Gruppe anzusehen. Von bier aus drang der Urahn der Sektion Chamaetia nach Siidsibirien vor und erzeugte bier S. vestita, welche sich dann weiter nach 5
Flora, Bd. 182, 1-2
66
A. K. SKVORTSOV
Abb. 7. Salix magnifica HEMSL. - W. Sichuan, Wa-ssu county, Wen Chuan Hsien to Mupin, 7-10000', WILSON 1401 (K).
Nordost-Asien und tiber Beringien nach Nordamerika ausbreitete. Die nachfolgende Verschlechterung des Klimas zerriB das Areal der S. vestita in isolierte Fragmente und flihrte zur Entstehung von S. reticulata - wahrscheinlich irgendwo in Beringien. Endlich flihrte die fortschreitende adaptive Evolution zur Bildung, wiederum in der Beringischen Region, von S. nivalis und S. erythrcarpa. Es solI nicht behauptet werden, daB diese Schilderung die wirkliche Geschichte getreu wiederspiegelt. Vielmehr sol1ten wir diese Schilderung als ein quasi-historisches Schema bezeichnen. Doch hat soleh ein Schema meines Erachtens ein bestimmtes Existenzrecht, und zwar nicht nur deswegen, weil ahnliche SchluBfolgerungen bei den Pflanzengeographen sehr verbreitet sind. Ein solehes Schema enthalt ja nur ein Minimum an Hypothetischem. Wenn wir dagegen nach erweiterten, mit detaillierten raumlichen und zeitlichen Markierungen versehenen Rekonstruktionen streben, mtissen wir immer mehr hypothetische Elemente in unsere Rekonstruktion einschalten. Wenn schon die Probleme der fIoristischen Refugien und Entfaltungszentren, sowie der Wanderungswegeund -zeitraume des Holozans noch nicht vollig und widerspruchsfrei gelost sind - wie konnen wir diese Probleme flir die enorme Zeitspanne seit der Spat-Kreide anders als rein hypothetisch behandeln, besonders da die palaobotanischen Funde vollig unzureichend sind. Es ist jedoch sehr verlockend, eine solehe hypothetische Rekonstruktion vorzunehmen. Dafiir
Salix sect. Chamaetia und die arktische Flora
67
miissen wir die beiden folgenden Ausgangspunkte sozusagen axiomatisch annehmen: 1. Die Gattung Salix ist nicht in den Gondwana-Uindem entstanden. 2. Mehreren Erwagungen zufolge war die Gattung schon an der Schwelle des Tertiars in ihre Hauptgruppen aufgeteilt (SKVORTSOV 1968: 90). Dann konnen wir weiter annehmen, daB zu Beginn des Neogens die Gruppe MagnificaeChamaetia nicht nur ihre wesentlichen Merkmale erworben hatte, sondem schon, wenigstens teilweise, in Arten differenziert war, die den heutigen iihnelten. Diese Arten wurden zum Hochgebirgs-Bestandteil der laubwerfenden arktotertiaren Flora. Ihr Gesamtareal umfaBte vielleicht die ganze Holarktis. 1m Laufe des Neogens bekamen wohl aIle Arten (vielleicht S. nivalis und S. erythrocarpa ausgenommen) ihre jetzigen morphologisch-okologischen Charakteristiken. Die Verschlechterung des Klimas gegen Ende des Neogens fiihrte zur Spaltung der urspriinglichen Gruppe und zum Riickzug der an milderes Klima gebundenen Magnificae in ihr siidwestchinesisches Refugium, wahrend die Chamaetia-Arten sich an kalteres Klima anzupassen verstanden. Die Gestaltung der jetzigen Areale der Sektion Chamaetia (und vielleicht die Spaltung S. nivalis/S. erythrocarpa) erfolgte schon im Pleistozan und Holozan. Es bleibt zu untersuchen, ob auch andere arktische und arktisch-alpine Weiden gleich der Sektion Chamaetia direkte Nachkommen der primitiven arktotertiaren Ahnen und nicht der fortgeschrittenen borealen Gruppen sind.
Literatur ARGUS, G. W. (1973): The genus Salix in Alaska and the Yukon. Nat. Mus. Canada Publ. Bot. N 2. Ottawa. - (1986): Studies of the Salix lucida and Salix reticulata complexes in North America. Canad. J. Bot. 64, 3: 541-551. BRAYSHAW, T. C. (1976): Catkin bearing plants (Amentiferae) of British Columbia. Brit. Columbia Prov. Mus. Occas. Papers N 18. Victoria, B.C. CHOU, Y., FANG, CH., ZHAO, SH., Yu, CH., YANG, CH., & CHAO, N. (1984): Salix. In: Flora Reipublicae Popularis Sinicae. 20, 2: 81-381. Peking. DORN, R. D. (1976): A synopsis of American Salix. Canad. J. Bot. 54, 24: 2769-2789. - (1977): Willows of the Rocky Mountain states. Rhodora 79,819: 390-429. HAo, K. ,SH. (1936): Synopsis of Chinese Salix. Feddes Repert. sp. nov. Beih. 93: 1-123 et tab. 1-44. KELSO, L. (1944): The creeping willows of the central Rocky Mountains. BioI. Leaflet N 25: 1-9. NASAROV, M. I. (1936): Salix. In: KOMAROV, V. L. (ed.): Flora URSS 5: 24-216. Moskva-Leningrad (Russ.). RAUP, H. M. (1943): The willows of the Hudson Bay region and the Labrador peninsula. Sargentia 4: 81-127. RECHINGER, K. H. (1964): Salix. In: TUTIN, T. G., et al. (eds.): Flora Europaea I: 43-54. Cambridge. SCHNEIDER, C. K. (1916): Salix. In: SARGENT C. S. (ed.): Plantae Wilsonianae 3,1: 40-179. Cambridge. SKVORTSOV, A. K. (1966): Salicaceae. In: TOLMATCHEV A. I. (ed.): Flora Arctica URSS 5: 7-118. MosquaeLeninopoJi (Russ.). - (1968): Willows of the USSR (Russ.). Moscow. SMITH, E. C. (1942): The willows of Colorado. Arner. Midland Nat. 27,1: 217-252. Eingegangen am 27. Mai 1988 Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. ALEXEI KONSTANTINOVITCH SKVORTSOV, Botanischer Hauptgarten der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, 127276 Moskau, UdSSR.
5*