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ScienceDirect Neurophysiol. Lab. 41 (2019) 113–118
FALLBERICHT/CASE REPORT
Dystoner Tremor? – ein Fallbericht Dystonic tremor? – a case report David Weise ∗ Klinik für Neurologie, Schmerztherapie und Schlafmedizin, Asklepios Fachklinikum Stadtroda GmbH, Bahnhofstr. 1a, D-07646 Stadtroda, Germany Eingegangen am 17. April 2019; akzeptiert am 17. April 2019 Online verfügbar seit 26 . April 2019
Zusammenfassung Die neue Klassifikation von Tremor, der häufigsten Bewegungsstörung basiert auf einem 2-AchsenPrinzip, einer phänomenologischen Beschreibung des Tremors inklusiver klinischer Charakteristika zum einen und einer ätiologischen Einordnung zum Anderen. Anhand eines Fallbeispiels von einer Patientin mit einem mutmaßlich dystonen Tremor soll diese neue Klassifikation angewendet und die Herausforderungen der differentialdiagnostischen Einordnung dargestellt werden. Schlüsselwörter: Tremor; essentiell; Parkinson; Dystonie; somatosensibel evozierte Potentiale; Inhibition
Summary The new classification of tremors, the most frequent movement disorder, is based on two axes, a phenomenological description of the tremor including clinical characteristics on the one hand and an etiological classification on the other hand. On the basis of the case report of a patient with presumably dystonic tremor the new classification was applied to the challenges of the differential diagnostics discussed. Keywords: tremor; essential; Parkinson; dystonia; somatosensory evoked potentials; inhibition
∗ Korrespondenzadresse: Priv.-Doz. Dr. med. habil. David Weise, Klinik für Neurologie, Schmerztherapie und Schlafmedizin, Asklepios Fachklinikum Stadtroda GmbH, Bahnhofstr. 1a, D-07646 Stadtroda. E-mail:
[email protected] https://doi.org/10.1016/j.neulab.2019.04.003
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1. Einleitung Der Tremor, definiert als eine unwillkürliche, rhythmische, oszillierende Bewegung eines Körperteils, stellt die häufigste Bewegungsstörung dar. Die Klassifikation des Tremors stellt jedoch häufig den Kliniker vor eine besondere Herausforderung. Im letzten Jahr wurde eine neue, überarbeitete Tremorklassifikation publiziert [2]. Grundlage der aktuellen Tremorklassifikation ist ein 2-Achsen-Prinzip: Die phänomenologische Beschreibung des Tremors erfolgt auf der ersten Achse, während die Ätiologie auf der zweiten Achse abgebildet wird. Basierend auf einem klinischen Phänotyp erfolgt in einem zweiten Schritt die ätiologische Zuordnung, wobei mehrere Ätiologien zu einem Phänotyp (und umgekehrt) führen können. Damit folgt diese Klassifikation den Dystonien, welche ebenfalls gemäß neuer Einteilung auf diesem Prinzip von Phänotyp und Ätiologie basiert [1]. Für die Phänomenologie sind anamnestische Angaben (wie Alter bei Beginn oder Familienanamnese), die Tremorcharakteristik (wie Aktivierungsbedingungen oder topographische Verteilung), zusätzliche Zeichen (als Hinweis auf Systemerkrankungen) und schließlich Labortests (wie strukturelle oder nuklearmedizinische Bildgebung) entscheidend. In der zweiten Achse der neuen Tremorklassifikation erfolgt die Unterteilung nach spezifischen Ätiologien, welche erworben, genetisch determiniert oder idiopathisch sein können. Mittels dieses Fallberichts sollen die neue Klassifikation des Tremors angewendet und die Tücken und Schwierigkeiten der differentialdiagnostischen Einordnung dargestellt werden.
2. Fallbericht Eine 73-jährige Patientin wurde uns zur weiteren Abklärung eines progredienten Zitterns der Hände eingewiesen. Das Zittern hatte vor ca. 20 Jahren im Bereich der linken Hand eingesetzt und trat bei Aktivierungsbedingungen, nicht in Ruhe auf. Seit ca. 1,5 Jahren wurde nun auch ein Zittern der rechten Hand wahrgenommen, welcher die Patientin als Rechtshänderin zunehmend im Alltag einschränkte. So könne sie insbesondere Überkopfarbeiten, wie z.B. beim Haare kämmen nicht mehr so gut bewältigen. Auch die Schrift sei aufgrund des Zitterns unleserlicher geworden. Von Anderen sei ihr gesagt worden, dass der Kopf gelegentlich wackele. Ein Zittern eines anderen Körperteils war der Patientin bisher selbst nicht aufgefallen. Lediglich die Stimme wurde als ,,heiser“ und ,,kraftloser“ nach längeren Telefonaten beschrieben. Nach Belastung und bei Aufregung nehme das Zittern insgesamt zu. Ob sich das Zittern durch Alkoholkonsum bessere konnte bei nahezu fehlendem Alkoholgenuss nicht beurteilt werden. Eine Großmutter väterlicherseits hätte ebenfalls gezittert. Eine Dauermedikation nahm die Patientin nicht ein, auch war keine zwischenzeitliche Einnahme von Neuroleptika erinnerlich. In der Vergangenheit war eine zwischenzeitliche Behandlung mit Levodopa erfolgt unter dem Verdacht auf eine Parkinsonerkrankung. Dieser Verdacht
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war auf eine leichte Hypokinese und Tonuserhöhung des rechten Armes, eine Hyposmie und ein Ansprechen im formalen Levodopa-Test (mit 200 mg löslichem Levodopa) begründet worden. In der Folge konnte nuklearmedizinisch mittels FP-CIT-SPECT eine normale Dopamintransporterdichte konstatiert werden, so dass die Differentialdiagnose eines Parkinsontremors wieder verworfen und Levodopa (ohne negativen Effekt) wieder abgesetzt wurde. Eine SchädelMRT war abgesehen von einer leichten, als mikroangiopathisch eingestuften Leukenzephalopathie altersentsprechend. In der klinischen Untersuchung fiel eine leichte Fehlstellung des Kopfes mit Laterocaput nach rechts und Torticaput nach links mit einem nur intermittierend auftretenden, myokloniformen Kopftremor (,,nein-nein“) auf. Es bestand eine etwas heisere, ,,gepresste“ Stimme mit auch leichtem Stimmtremor (beim Halten eines Tones auffällig) sowie ein an Intensität fluktuierender (fein- bis mittelschlägiger), positionsabhängiger, eher niederfrequenter, links-betonter Haltetremor der Hände (besonders ausgeprägt beim Halten der Hände über dem Kopf) bei nur sehr leichter kinetischer Komponente. Durch Berühren des linken Unterarmes mit der rechten Hand konnte der Tremor etwas unterdrückt werden, als Hinweis auf einen sensiblen Trick. Die Spiralenzeichnung wie auch die Schrift war mit beiden Händen leicht tremorüberlagert. Die sonstige neurologische Untersuchung war nicht wegweisend. Hinweise auf ein hypokinetisch-rigides Syndrom fanden sich nicht. Zusatzdiagnostisch konnte in der Tremoranalyse (der linken Hand) ein niederfrequenter Haltetremor mit einer Frequenz von 4,5 Hz objektiviert werden, welcher sich beim Halten eines Gegenstandes in der Amplitude verstärkt. In der Ableitung der Medianus-SEP fielen sehr amplitudenhohe kortikale Potentiale vor allem rechts im Sinne von Riesen-SEPs auf (Abb. 1). Das EEG war unauffällig. Zusammenfassend konnte der klinische Befund als segmentaler Aktionstremor mit Beteiligung des Kopfes, der Stimme und links-betonter der Arm sowie gewisser Positionsabhängigkeit beschrieben werden. Daneben fanden sich aber auch (leichte) dystone Zeichen hinsichtlich der Kopfhaltung, der (spasmodischen) Dysphonie wie auch des sensiblen Tricks. Anamnestisch ist die positive Familienanamnese erwähnenswert, eine Alkoholresponsivität kann nicht beurteilt werden.
3. Diskussion Die häufigsten und somit differentialdiagnostisch relevantesten Tremorformen sind der gesteigerte physiologische, der medikamenten-induzierte, der essentielle, der Parkinson- und der dystone Tremor. Zur differentialdiagnostischen Einordnung von Tremores siehe Tabelle 1. Für einen medikamenten-induzierten Tremor ergab sich bei fehlender Medikamentenanamnese kein Hinweis. Die klinische Präsentation und der Verlauf
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Abb. 1. Kortikale Medianus SEPs der Patientin aus dem Fallbeispiel, oben (blau) Ableitung kortikal rechts bzw. unten (grau) Ableitung kortikal links nach elektrischer Stimulation des linken bzw. rechten N. medianus. Tabelle 1. Gegenüberstellung von häufigen differentialdiagnostisch-relevanten Tremorformen. Essentieller
Parkinson
Dystoner
+ − ++ +++ + −/++ +++ ++ −
+ + + ++ ++ +/+ + + ++
Tremor Positive Familienanamnese Alkoholresponsivität Ruhetremor Lateralisierung Kopfbeteiligung Stimm-/Gesichtsbeteiligung Beinbeteiligung Bradykinese Sensibler Trick
+++ ++ + + +++ ++/+ + − −
(Beginn mit Mitte 50 Jahren, Asymmetrie, Kopf- und Stimmbeteiligung) sprechen klar gegen einen gesteigerten physiologischen Tremor. Ein Parkinsontremor konnte letztlich klinisch bzw. paraklinisch mittels nuklearmedizinischer Untersuchung ausgeschlossen werden. Differentialdiagnostisch sind somit bei positiver Familienanamnese, Beteiligung von Kopf, Stimme und Hände ein essentieller Tremor (oder essentieller Tremor plus) denkbar. Ein Therapieversuch mit Primidon 62,5 mg wurde von der Patienten aufgrund von ausgeprägter Übelkeit und Erbrechen nicht vertragen, der Effekt konnte bei promptem Absetzen nicht beurteilt werden. Insgesamt gingen wir aufgrund der klinisch zwar subtilen, aber eindeutigen dystonen Phänomene zusammen mit dem Riesen-SEP von einem dystonen Tremor aus. Auch eine positive Familienanamnese findet sich häufig bei Dystonien,
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genauso auch ein Ansprechen auf Alkohol [7]. Wir empfahlen zunächst einen Behandlungsversuch mit Trihexyphenidyl. Riesen-SEP werden als Ausdruck eine kortikalen Hyperexzitabilität infolge einer Störung zentraler Inhibitionsmechanismen interpretiert. Sie sind nicht krankheits-spezifisch, finden sich jedoch typischerweise oder häufig bei der familiärer Myoklonusepilepsie [9], bei der Creutzfeld-Jakob-Erkrankung oder bei hypoxischen Hirnschäden mit Myoklonien [3] vor, interessanterweise vor allem am kontralateral zu den Myoklonien gelegenen Kortex. Die Pathophysiologie der Dystonie (und der dystonen Tremores) ist nicht hinreichend verstanden. Man geht jedoch von einer (funktionellen) Netzwerkerkrankung mit Beteiligung der Basalganglien, des Zerebellums aber auch des sensomotorischen Kortex aus [5]. Dabei scheint eine gestörte Inhibition eine wichtige Rolle zu spielen [8]. Die Zusatzdiagnostik auf Ebene des individuellen Patienten ist bei idiopathischen (oder genetischen) Dystonien in der Regel nicht erfolgsversprechend. Als Hinweis auf eine gestörte Inhibition auf kortikaler Ebene wurden bei Patienten mit Dystonie jedoch vergrößerte kortikale SEPs beschrieben [4]. Die Untersuchung der Medianus-SEPs kann also bei Patienten mit Myoklonus, aber auch mit Dystonie (oder beidem) in der klinischen Routine hilfreich zur differentialdiagnostischen Einordnung hilfreich sein [6].
Interessenskonflikt Der Autor erklärt, dass für die vorliegende Arbeit keine Interessenskonflikte vorliegen.
Literatur [1] A. Albanese, K. Bhatia, S.B. Bressman, M.R. Delong, S. Fahn, V.S.C. Fung, et al., Phenomenology and classification of dystonia: a consensus update, Mov Disord. 28 (2013) 863–873, http://dx.doi.org/10.1002/mds.25475. [2] K.P. Bhatia, P. Bain, N. Bajaj, R.J. Elble, M. Hallett, E.D. Louis, et al., Consensus Statement on the classification of tremors from the task force on tremor of the International Parkinson and Movement Disorder Society, Mov Disord. 33 (2018) 75–87, http://dx.doi.org/10.1002/mds.27121. [3] A. Bouwes, D. van Poppelen, Koelman, H.T.M. Johannes, M.A. Kuiper, D.F. Zandstra, H.C. Weinstein, et al., Acute posthypoxic myoclonus after cardiopulmonary resuscitation, BMC Neurol. 12 (2012) 63, http://dx.doi.org/10.1186/1471-2377-12-63. ´ H. Streitová, J. Dufek, V. Znojil, P. Daniel, I. Rektor, Change in lateralization of [4] P. Kanovsky, the P22/N30 cortical component of median nerve somatosensory evoked potentials in patients with cervical dystonia after successful treatment with botulinum toxin A, Mov Disord. 13 (1998) 108–117, http://dx.doi.org/10.1002/mds.870130122. [5] S. Lehéricy, M.A.J. Tijssen, M. Vidailhet, R. Kaji, S. Meunier, The anatomical basis of dystonia: current view using neuroimaging, Mov Disord. 28 (2013) 944–957, http://dx.doi.org/10.1002/mds.25527. [6] K. Ng, S. Jones, The ,,enhanced N35“ somatosensory evoked potential: its associations and potential utility in the clinical evaluation of dystonia and myoclonus, J Neurol. 254 (2007) 46–52, http://dx.doi.org/10.1007/s00415-006-0237-5.
118 · D. Weise [7] S.A. Norris, H.A. Jinnah, A.J. Espay, C. Klein, N. Brüggemann, R.L. Barbano, et al., Clinical and demographic characteristics related to onset site and spread of cervical dystonia, Mov Disord. 31 (2016) 1874–1882, http://dx.doi.org/10.1002/mds.26817. [8] A. Quartarone, M. Hallett, Emerging concepts in the physiological basis of dystonia, Mov Disord. 28 (2013) 958–967, http://dx.doi.org/10.1002/mds.25532. ˜ [9] J. Salas-Puig, A. Tunon, M. Diaz, C.H. Lahoz, Somatosensory evoked potentials in juvenile myoclonic epilepsy, Epilepsia 33 (1992) 527–530.