Osteopathische Medizin
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Emotional Tissue – eine Annäherung Bernhard Hartwig*
Zusammenfassung Psychoemotionale und physische Traumata können Dysfunktionen vor allem der bindegewebigen Strukturen bedingen. Hierdurch werden somatische Marker kreiert, die anstehende kognitive Entscheidungsprozesse erschweren können. Der folgende Artikel geht der Frage nach, welchen reziproken Einfluss hierbei osteopathische Techniken besitzen.
Schlüsselwörter Myofasziales Release, Unwinding, Bindegewebe, somatische Marker, psychoemotionales Trauma, kognitive Entscheidung
Abstract Psycho emotional and physical trauma can cause dysfunctions within the connective tissue structures. This creates somatic markers, which obstruct pending cognitive decision procedures. The follwoing article is looking into the matter, which reciprocal influence osteopathic techniques do possess.
Keywords Myofascial Release, unwinding, connective tissue, somatic marker, psycho emotional trauma, cognitive decision
Das Gewebegedächtnis Die Fähigkeit des (Binde-) Gewebes, emotionalen Stress zu speichern, wird in der Osteopathie von vielen Autoren, unter anderem von T. Liem, G.F. Meert, R. Schleip, J.E. Upledger und E. Wühr, als eine mögliche Ursache für myofasziale Dysfunktionen diskutiert. Patienten mit in der Vergangenheit erlebten schweren traumatischen Ereignissen (Verkehrsunfälle, Fahrradstürze, Verlust von nahen Angehörigen etc.) leiden besonders häufig unter chro-
nisch rezidivierenden Wirbelsäulenund/oder Thoraxbeschwerden, Myogelosen sowie unter funktionellen vegetativen Störungen: Herzrasen, Zittern, Verdauungsbeschwerden, vermehrtes Schwitzen, Atemnot mit oder ohne zusätzlicher posttraumatische Belastungsstörung. Durch osteopathische Techniken, wie z.B. Unwinding oder myofasziales Release, können die im Gewebe „gespeicherten“ emotionalen Energien wieder freigesetzt und ein Gleichgewicht der Gewebestrukturen hergestellt werden. Jeder Osteopath, der ein emotionales Release bei einem Patienten miterlebt hat, wird diese emotionale Energiefreisetzung in Form von verschiedensten, teils heftigen vegetativen Reaktionen, Weinausbrüchen, Schreien usw. sicher niemals vergessen. Welche Erklärung gibt es bisher für ein solches emotionales Release? In der Februar-Ausgabe 2013 widmet sich die Zeitschrift GEO dem Thema unter der Überschrift „Das Gedächtnis des Körpers“. Die in diesem Bereich forschenden Experten1 konnten demnach wissenschaftlich nachweisen, dass Erlebnisse aus unserer frühen Kindheit oder traumatische Ereignisse wie Unfälle häufig über Jahre in den „Knochen“ stecken und uns dahingehend beeinflussen, „wie wohl wir uns in unserer Haut fühlen, wie wir uns in Beziehungen verhalten und wie anfällig wir für psychische Erkrankungen sind“ [1]. Gerade schlimme Erfahrungen brennen sich hierbei besonders tief in das emotionale Gewebegedächtnis ein. Das interstitielle Bindegewebe bildet nicht nur die Transitstrecke für den
zellulären Stoffaustausch, sondern ist gleichzeitig auch die Endstrecke der psychoemotionalen Stressreaktion. So werden Makrozyten bei Stress durch nervale Impulse und Botenstoffe veranlasst, Entzündungsmediatoren (z.B. Histamin, Serotonin, Prostaglandine, Leukotriene, Bradykinin, Zytokine) auszuschütten [2]. Fibrozyten bilden vermehrt kollagene Fasern, v.a. um die nozizeptiven Nervenendigungen herum [3]. Dies kann wiederum zu vermehrten Schmerzsensationen führen, aber auch myofasziale Dysfunktionen fördern. „Zeit heilt nicht die Wunden (...) Zeit konserviert sie. Sie sind nicht verloren, sie sind verkörpert“. [1] Es ist somit nicht verwunderlich, dass solche Patienten neben psychischen und vegetativen Symptomen vor allem körperliche Leiden in Form von muskuloskelettalen, myofaszialen Erkrankungen aufweisen. Eine Behandlung solcher auch im Körper verankerter Beschwerden sollte somit nicht allein auf Gesprächstherapie oder Psychoanalyse beruhen. „Energiezysten“ im Gewebe entstehen zumeist dann, wenn die auftreffende Energie auf das Gewebe zu hoch ist, um sie selbstkorrektiv abzubauen, wenn an der gleichen Stelle alte Verletzungen nicht vollständig verheilt sind und wenn zum Zeitpunkt des Traumas der psychoemotionale Zustand sehr unausgeglichen ist [4]. Entsprechend dem Energieerhaltungssatz der Physik (die Gesamtenergie in einem abgeschlossenen System bleibt konstant) muss diese im Körper gespeicherte Energie erst aus dem Gewebe wieder gelöst werden, um eine Homöostase in
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Dr. med. Bernhard Hartwig studierte Humanmedizin in Regensburg und Erlangen; seit 1993 niedergelassen als Allgemeinarzt in Parkstein/ Oberpfalz mit Schwerpunkt Osteopathie, Naturheilverfahren, Sportmedizin, Sozialmedizin, biologische Medizin (Universität Mailand). Oberstarzt der Reserve, Leiter des Klinikmoduls am Universitätsklinikum Greifswald. Ausbildung zum Osteopathen von 1997 bis 2002 am DFO in Neutraubling und von 2002 bis 2003 an der DAAO in Isny und Philadelphia. Langjähriger Vorstand und Vorsitzender des BVO und der BAO; Dozent für Osteopathie/Komplementärtherapien an der Steinbeis-Hochschule Berlin und mehreren Osteopathiefachschulen. Er ist Chefherausgeber der Zeitschrift Osteopathische Medizin.
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Beispielsweise Beatrice Beebe, Professorin für Medizinische Psychologie an der Columbia University; Antonio Damasio, Professor für Neurologie an der University of Southern California; Vincent Felliti, Professor für Medizin am California Institutes of Preventive Medicine
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14. Jahrg., Heft 3/2013, S. 4–6, Elsevier GmbH, www.elsevier.de/ostmed
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den myofaszialen Strukturen und somit eine Verminderung der psychosomatischen Traumafolgen zu erreichen. Neueste Studien konnten diesbezüglich die Wirksamkeit körperorientierter Psychotherapie belegen. Die Experten empfehlen deshalb eine Therapie in Verbindung mit körperbezogenen Behandlungen (z.B. Tanztherapie, funktionelle Entspannung) [1]. Gerade osteopathische Release-Techniken führen zu einem Energieausgleich im Gewebe und somit zur Entspannung und zur Harmonisierung aller bindegewebigen, myofaszialen Strukturen. Man fühlt sich wieder wohl in seiner Haut – und dieses Wohlgefühl kann eine Stabilisierung der psychoemotionalen Faktoren entscheidend begünstigen.
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Abb. 1: Verhältnis von Informationsmenge zu Entscheidungsqualität
Somatische Marker „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) postulierte im 17. Jahrhundert der Philosoph René Descartes und prägte damit unser Menschenbild bis in die
jüngste Zeit: die Trennung von Geist und Körper. Eine Trennung von Körper und Geist wäre nach neueren Forschungen aber fatal: So erleichtert uns das emotionale Erfahrungsgedächtnis, eine neue
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ORIGINALIA Situation zu interpretieren. Haben wir mit Situation A früher schlechte Erfahrungen gemacht, wird die ähnliche Situation B heute diese Erfahrungen „reaktivieren“ und ungute Gefühle auslösen. Dieses Prinzip gilt auch für positive Erlebnisse, hierbei werden entsprechend positive Emotionen induziert. Wie wir eine Situation bewerten, in welcher Stimmung wir sind, drücken wir mit unseren somatischen Markern aus. Ein somatischer Marker ist eine den Körper betreffende Wahrnehmung. Dabei können alle Körperempfindungen als somatische Marker fungieren. Somatische Marker lenken die Aufmerksamkeit auf ein positives oder negatives Erlebnis, das eine bestimmte Handlungsweise nach sich ziehen kann. Auf diese Weise nehmen wir eine Körperempfindung z.B. als intuitives Start- oder Stoppsignal bezüglich einer bestimmten Entscheidung wahr [5]. So haben wir bei einer anstehenden Entscheidung vielleicht ein ungutes Gefühl im Bauch. Es schnürt uns die Luft ab. Oder es geschieht das Gegenteil: Wir fühlen uns leicht und frei, wir atmen tief durch, wir empfinden Freude und könnten singen [6]. Der Hirnforscher Antonio Damasio bezeichnet diese emotionalen körperlichen Signale als überlebenswichtig. Auf diese somatischen Marker ist unser Gehirn angewiesen, um die alltägliche Flut an Informationen – allerdings unbewusst – vorzusortieren. In wissenschaftlichen Studien konnte nachgewiesen werden, dass das Verhältnis von Informationsmenge zu Entscheidungsqualität nicht linear oder proportional ist. Es gleicht vielmehr
einer Glockenkurve, die erst deutlich ansteigt, um dann nach dem Erreichen des Optimums wieder abzufallen (Abb. 01) [7], d.h. nur ein gewisser Grad an Informationsdichte führt auch zu besseren Entscheidungen. Somatische Marker treffen deshalb eine Art Vorauswahl (positiv oder negativ) aus dieser Informationsflut, sind aber keineswegs für menschliche Entscheidungsprozesse ausreichend. Häufig folgen den markierten Situationen rationale Denkprozesse, und es findet eine abschließende Selektion statt. Somit wäre zu mutmaßen, dass somatische Marker auch die Genauigkeit und Nützlichkeit von kognitiven Entscheidungsprozessen erhöhen, indem viele weitere Wahlmöglichkeiten ausgeschlossen werden [5]. Folglich darf nach Damasio Descartes wie folgt korrigiert werden: „Sentio ergo sum: Ich fühle, also bin ich“. [1]
ren, die wiederum diese somatischen Marker beeinflussen. Überschießende emotionale körperliche Signale erschweren aber eine angemessene kognitive Entscheidungsfindung. So gesehen stellen sich folgende Fragen: Könnte sich eine Harmonisierung myofaszialer Strukturen durch osteopathische Techniken auch positiv in Hinblick auf eine Homöostase der somatischen Marker auswirken? Kann folglich eine mutmaßlich durch überschießende somatische Marker verursachte Falschbewertung einer anstehenden kognitiven Entscheidung verhindert oder zumindest abgemildert werden? Um diesen interessanten Themenkomplex hinreichend beantworten zu können, wären in Zukunft aussagekräftige, wissenschaftliche osteopathische Studien wünschenswert.
Fazit
Korrespondenzadresse: Dr. med. Bernhard Hartwig Marktplatz 1 92711 Parkstein
Somatische Marker sind für Entscheidungsprozesse in unserem Leben wichtig. Psychoemotionale, traumatische Erlebnisse können häufig zu Angststörungen und anderen psychischen Störungen, aber auch zu myofaszialen und muskuloskelettalen Erkrankungen füh-
Literatur [1] [2]
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Possemeyer I (2013) Das Gedächtnis des Körpers. Geo 2: 80–91 Mutschler E (2001) Arzneimittelwirkungen – Lehrbuch der Pharmakologie und Toxikologie, 8. Aufl. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Wühr E (2008) Kraniofaziale Orthopädie. Bad Kötzting: Verlag für Ganzheitliche Medizin Dr. Erich Wühr GmbH Strunk A (2013) Fasziale Osteopathie. Stuttgart: Haug
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[7]
Damasio A (1997) Descartes‘ Irrtum – Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: List Thormann H (2010) So treffen Sie bessere Entscheidungen: Mit Ihren Gefühlen und somatischen Markern. www.kreativesdenken.com/artikel/besserentscheiden-mit-somatischen-markern-gefühlen. Zugriff 05. 05 2013 Zeuch A (2010) Feel it. Weinheim: Wiley VCH
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