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„Beweisgestütztes Vorgehen“ contra „übergeordnetes Krankheits- und Heilungsverständnis“
Homöopathie: „evidencebased“ oder Placebo? Wir erleben derzeit einen Paradigmenwechsel in der ausgeübten praktischen Medizin: Neue, aber auch lang etablierte Verfahren werden einer kritischen Wertung unterzogen; vieles Bewährte scheint nicht mehr haltbar. Expertenmeinung und Hochschulwissen müssen ebenso dieser Kritik standhalten wie alternative Verfahren: von der „Eminenz-basierten Medizin“ zur „evidence-based medicine“ – korrekt übersetzt also einer beweisgestützten Medizin. St. H. Nolte Die evidence-based medicine (EbM, von engl. evidence: „Beweis, Nachweis, Hinweis“) stützt sich auf Informationen, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen. Die deutsche Übersetzung des Begriffs evidence-based medicine mit „evidenzbasierte Medizin“ ist falsch und sehr irreführend. Korrekter ist „beweisgestützte Medizin“, da evident im Deutschen „augenscheinlich, offenkundig, einleuchtend“ [1] heißt – also eigentlich genau das Gegenteil von dem, was mit evidence gemeint ist: da „offensichtlich“ natürlich einen anderen Inhalt hat als „erwiesenermaßen“. So wirkt die Homöopathie offensichtlich, aber nicht erwiesenermaßen auf einen bestimmten Endpunkt hin. Sie ist also
positiv evidenzbasiert, aber nicht „evidence-based“. Was ist evidence-based medicine? Es ist „… der gewissenhafte ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung.“ [2]
Die EbM beruht auf der Anwendung wissenschaftlicher Methoden, die das ganze
Spektrum medizinischer Tätigkeit umfassen und auch lang etablierte medizinische Traditionen, die noch nie systematisch hinterfragt wurden, kritisch werten. Das ist zunächst gut, führt aber zu erstaunlichen Ergebnissen und lässt sich oft schlecht in die Praxis umsetzen: Beispielsweise ist die Auskultation zur Diagnosestellung einer Pneumonie bei Säuglingen und Kindern der Zählung der Atemfrequenz unterlegen: Im ersten Lebensjahr ist eine Atemfrequenz von > 50, danach von > 40 praktisch beweisend für eine Pneumonie [3], während Auskultationsbefunde interindividuell nur schlecht reproduzierbar sind und häufig mit Röntgenbildern nicht korrelieren („klinische Pneumonie ohne radiologisches Korrelat“).
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Die Ursprünge der evidenzbasierten Medizin Die Idee der evidenzbasierten Medizin lässt sich auf das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von britischen Ärzten entwickelte Konzept der medical arithmetic zurückführen [4]. 1753 veröffentlichte James Lind die Ergebnisse seines Versuchs, den Skorbut mit Orangen und Zitronen zu behandeln. Diese Studie ist als erste kontrollierte klinische Studie zu sehen. Die Bezeichnung „evidenzbasiert“ findet sich erstmals in dem 1793 publizierten Artikel An attempt to improve the Evidence of Medicine des schottischen Arztes George Fordyce. Im deutschsprachigen Bereich kommt dem in Wien tätigen, ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis (1818–1865) die Erstautorenschaft für die Einführung der „systematischen klinischen Beobachtung“ in die medizinische Forschung zu (1848).
Kritik an der EbM Eine gute Beweisführung ist in vielen Bereichen der Medizin nicht durchführbar oder zu umständlich, denn fast alle ärztlichen Handlungen, die völlig unstrittig sind, wie eine Appendektomie bei Appendizitis, sind nicht evidenzbasiert und werden es nicht sein können. Außerdem ist das Fehlen von bewiesenem Nutzen und Fehlen von Nutzen nicht das Gleiche. Die häufig geforderten und zitierten Metaanalysen zeigen: Je mehr Daten in großen Studien zusammengezogen werden, desto schwächer ist die Wirkstärke. Außerdem bleiben Kausalitäten ungeklärt; statistisch kann man oft nur von Korrelationen sprechen, nur selten von gesicherten Zusammenhängen. Ein Hauptproblem sind die Endpunkte – und damit ist EbM immer nur so gut wie ihre Fragestellung: Wenn ich zum Beispiel die Frage stelle, ob ein Paracetamolzäpfchen bei einem Säugling nach zwei Stunden das Fieber besser senkt als ein Placebo, wird die Antwort immer positiv sein, wenn ich aber den Endpunkt anders definiere, zum Beispiel, wie es dem Patienten nach einer Woche geht, wird die Antwort unentschieden ausfallen. So werden Trugschlüsse bei den Endpunkten und vor allem Surrogat-Marker in medizinischen Studien diskutiert. Zudem gilt: Studien mit einer großen Anzahl von Probanden sind in der Regel nicht ohne Weiteres auf einen speziel-
Abb. 1: Homöopathische Arzneimittel werden ganz individuell ausgewählt – das erfordert erfahrungsgestützte Studien statt solche mit großen Fallzahlen inhomogener Kollektive
len Einzelfall anwendbar: Große Zahlen liefern ein statistisch gesehen genaues Ergebnis, von dem man jedoch nicht weiß, auf wen es zutrifft. Kleine Zahlen liefern ein statistisch gesehen unbrauchbares Ergebnis, von dem man aber besser weiß, auf wen es zutrifft. Schwer zu entscheiden, welche dieser beiden Arten von Unwissen die nutzlosere ist [5].
Value- oder human-based Medicine Die Forderung, den Wert einer medizinischen Behandlung für den einzelnen Betroffenen zu beurteilen, führt zum Begriff value based medicine (VbM) [6]. Dieser Wert im Kontext zum einzelnen Menschen betrachtet (biopsychosoziales Modell) wird als human-based medicine (HbM) bezeichnet [7]. EbM kann bestenfalls ein erster Schritt auf dem Weg zur HbM sein. Hiervon sind wir weit entfernt und bewegen uns immer weiter fort: DMP´s (disease-management-Programme) verwalten evidence-based – wie der Name schon sagt, die Erkrankung, nicht den kranken Menschen. Möglichkeiten zur Messung des Lebensqualitätsgewinns mit einer Maßeinheit namens „Qualy“ sind absurde Beispiele eines Individualisierungsversuches, der an der persönlichen Bedürfnishierarchie des Einzelnen scheitern muss.
Von der Eminenz zur Evidenz Bei aller genannten Einschränkung hat die EbM unstrittig Erfolge zu verzeich-
nen: Äußerungen medizinischer „Experten“ (eminenzbasierte Medizin) und medizinisches Wissen können mehr als bisher hinterfragt werden. Ein Mindestmaß an überprüfbaren Belegen reicht nicht mehr aus, eine zunehmend skeptische Kollegenschaft zu beeindrucken. Reine Behauptungen müssen durch anerkannte Argumente ersetzt werden, welche die einschlägige medizinische Literatur untermauern muss.
Wirkung und Wirksamkeit – Zielrichtungen eines Umdenkens Von der Wirkung als Beseitigung eines Krankheitssymptoms (wie Fiebersenkung durch Paracetamol) muss die Wirksamkeit, die Heilung einer Erkrankung, abgegrenzt werden. Die Wirksamkeitsnachweise der Schulmedizin sind in der Regel Wirkungsnachweise, die durch einen zu kurz gegriffenen Endpunkt charakterisiert sind. Wenn sich zum Beispiel die Frage stellt, ob eine HPV-Impfung eine HPV-bedingte Präkanzerose an der Cervix verhindern kann, scheint dies dem gegenwärtigen Wissensstand nach positiv beantwortet werden zu können. Ob aber die betroffene Patientin möglicherweise aufgrund eines carcinosinischen Miasmas eine andere Neoplasie bekommt, bleibt völlig unbeantwortet und ist durch zu kurze Laufzeiten der Studien sowie fehlende ganzheitliche Betrachtungsweise auch nicht zu beantworten. Aus homöopathischer Sicht müssen klinische Studien über längere Zeiträu-
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me laufen, um die Langzeitwirkung und die Langzeitwirksamkeit, aber auch die unerwünschten Folgen oder Nebeneffekte der Behandlung aufzuzeigen. Erfahrungsgestützte Studien müssen gegenüber großen Fallzahlen inhomogener Kollektive in den Vordergrund treten, denn sie sind der individualisierten Vorgehensweise der Praxis angepasst. Der Zielpunkt muss letztendlich die Wirksamkeit im genannten Sinne und nicht die Wirkung sein [8]. Es muss eine vorurteilsfreie Offenheit gegenüber den vom herrschenden Paradigma abweichenden Therapiemethoden geben, da sich sonst ein Bias, ein systematischer Fehler, einschleicht, wenn eine Therapie von vornherein als wirkungslos angesehen wird [9,10].
Was wirkt eigentlich in der Medizin? Es ist heute extrem schwierig, den Wirksamkeitsnachweis einer Arznei placebokontrolliert zu führen, denn der Placeboeffekt kann außerordentlich wirkungsvoll sein. In der neuesten Ausgabe der JAMA [11] wird eine Studie beschrieben, bei der Probanden einen vorher definierten Schmerzreiz unter einem „teuren“ (2,50 USD) und einem „billigen“ (0,10 USD) Placebo auszuhalten hatten. Bei 85% der Probanden, die das „teure“ Präparat erhalten hatten, aber nur bei 61% derjenigen, die das „billige“ Präparat erhalten hatten, ließ das subjektive Schmerzempfinden nach der Medikamenteneinnahme deutlich nach. Was wirkt also in der Medizin?
Wie kann man den Placeboeffekt (sonst oder anders) nutzen? Ist Homöopathie ein „intelligentes Placebo“? Die Psychotherapieforschung der letzten Jahre hat drei wesentliche Wirkfaktoren herausgestellt, die allen psychotherapeutischen Verfahren schulenübergreifend gemeinsam sind und sich in Metaanalysen vieler Studien als wirksam erwiesen haben [12]: • den Beziehungsaspekt • den Klärungsaspekt • den Problembewältigungsaspekt Es lohnt sich, die homöopathische Behandlung unter diesen Aspekten zu betrachten: Der Beziehungsaspekt wird geprägt durch die persönliche Arzt-Patient-Beziehung, die Erwartungen und Hoffnungen des Patienten, das unvoreingenommene Entgegenkommen des Arztes und die Aussicht einer längerfristigen Begleitung. Der Klärungsaspekt ergibt sich häufig bereits durch die lange und vorbereitete Anamnese, die Betrachtung der individuellen Symptomatik, die Würdigung und Wertung individueller Lebensumstände sowie die Frage nach Ursachen – und zwar sowohl nach äußeren („Folge von …“) als auch nach inneren unter besonderer Berücksichtigung der Geistes- und Gemütssymptome (Kummer, Kränkung etc.). Die Problembewältigung erfolgt durch die Auswahl einer geeigneten Arznei sowie durch die allgemeinen Ratschläge zur Lebensführung, aber auch dadurch, dass überspannte Heilserwartungen gedämpft und die Sinnlosigkeit einer bloßen Symptombeseitigung
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ohne Heilung erläutert werden. Unterstützt wird sie nicht zuletzt dadurch, dass der Druck von dem Patienten genommen wird, dem er sich von innen und außen ausgesetzt fühlt. Der Patient wird in seiner Gesamtheit akzeptiert: „Was ist das für ein Mensch?“ (Matthias Dorcsi [13]) dcs
Damit ist die Homöopathie ein therapeutisches System mit einem übergeordneten Krankheits- und Heilungsverständnis, welches über ein biologisch-mechanisches Denken hinausgehend dem Heilen und Helfen verpflichtet ist. Dies steht nicht im Gegensatz zur evidencebased medicine, sieht aber andere Endpunkte, weil nicht eine kurzfristige Wirkung, sondern die letztendliche Wirksamkeit einer Therapie auf den ganzen Menschen in seinen Lebenszusammenhängen im Vordergrund steht.
Dr. med. Stephan Heinrich Nolte Kinder- und Jugendarzt Neonatologie – Psychotherapie – Homöopathie Alter Kirchhainer Weg 5 35039 Marburg Tel. (0 64 21) 16 22 66
[email protected]
Literatur [1] Wahrigs Deutsches Wörterbuch. Gütersloh: Bertelsmann; 1974. [2] Sackett DL, Rosenberg WMC, Gray JAM et al. Evidence-based Medicine: What It Is and What It Isn‘t. British Medical Journal. 1996;312:71-72. [3] WHO: Guidelines for Integrated Management of Childhood Illness (IMCI). 2005. [4] Black W. Arithmetic and Medical Analysis of the Diseases and Mortality of the Human Species. London; 1789. Zitiert nach [6]. [5] Beck-Bornholdt H-P, Dubben HH. Der Schein der Weisen. Irrtümer und Fehl-
[6] [7] [8] [9]
urteile im täglichen Denken. Reinbek: Rowohlt; 2003. Artikel „Evidenzbasierte Medizin“. de.wikipedia.org/wiki/Evidenzbasierte_Medizin. Spahn G. Integrative Onkologie – Von der „evidence-based medicine“ zur „human based medicine“. KIM 2008;49,1:8-14. Gebhardt KH. Homöopathie und beweisgestützte Medizin. AHZ 2006;251:161-163. Shang A, Huwiler-Müntener K, Nartey L et al. Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? Comparative study of placebo-controlled trials
[10] [11]
[12]
[13]
of homoeopathy and allopathy. The Lancet 2005;366:726-732. Kleijnen J, Knipschild P, ter Riet G. Clinical trials of homoeopathy. BrMedJ 1991; 302:316-323. Waber RL, Shiv B, Carmon Z et al. Commercial Features of Placebo and Therapeutic Efficacy. JAMA 2008;299:1016-1017. Grawe K, Donati R, Bernauer F. Psychotherapie im Wandel – von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe; 2001. Dorcsi M. Homöopathie. Bd.1: Medizin der Person. Heidelberg: Haug; 1982.
Detailliertere Darstellungen • Halterer K, Righetti M. Klassische Homöopathie – Zum Nachweis von Wirksamkeit und Nutzen. Schweiz Zschr Ganzheitsmed 1999;1 (Teil 1–3, Literaturverzeichnis in Teil 3). • Walach H, Jonas WB, Ives J et al. Research on homoeopathy: State of the Art. J Altern and Complement Med 2005;11:813-829.