Körperliche Aktivität bei multimorbiden Patienten

Körperliche Aktivität bei multimorbiden Patienten

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Public Health Forum 18 Heft 66 (2010) http://www.elsevier.de/phf

Ko¨ rperliche Aktivita¨t bei multimorbiden Patienten Timo Hinrichs und Ulrike Trampisch Schmerzzusta¨nden tra¨gt ko¨rperliche Aktivita¨t zur Schmerzreduktion bei (Ambrose et al., 2003). Selbst hochaltrige und gebrechliche Patienten profitieren in Hinblick auf ko¨rperliche und geistige Funktionsfa¨higkeit (Paw et al., 2008; Rejeski und Mihalko, 2001). Zusammenha¨nge zwischen ko¨rperlicher Aktivita¨t und Multimorbidita¨t sind kaum untersucht: Wa¨hrend Kaplan et al. (2001) in einer Ko¨ lterer (u¨ber 65 Jahre) zeigen horte A konnten, dass Menschen ohne chronische Erkrankungen ha¨ufiger ko¨rperlich aktiv waren als chronisch Kranke, fanden Hudon et al. (2008) bei Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 69 Jahren keine Assoziation zwischen der Anzahl chronischer Erkrankungen und ko¨rperlicher Aktivita¨t. Bertoldi et al. (2006) konnten in einer bevo¨lkerungsbasierten Querschnittsanalyse 35- bis 65-Ja¨hriger einen negativen Zusammenhang zwischen der Anzahl eingenommener Medikamente (als Indikator der Morbidita¨t) und ko¨rperlicher Aktivita¨t feststellen. Fujiwara et al. (2000) zeigten in einer prospektiven Kohortenstudie an 65- bis 84-Ja¨hrigen zwar einen Zusammenhang zwischen dem Vorliegen verschiedener chronischer Krankheiten und der Abnahme funktioneller Kapazita¨t u¨ber einen 4-Jahres-Zeitraum, sie untersuchten jedoch nicht, ob Mehrfacherkrankung sich gegebenenfalls zusa¨tzlich negativ auswirkte. Auf Grundlage der vorliegenden Evidenz haben das American College of Sports Medicine und die American Heart Association im Jahr 2007 zeitgleich zu Empfehlun-



gen zur ko¨rperlichen Aktivita¨t gesunder Erwachsener (Haskell et al., 2007) erstmals auch Empfehlungen zur ko¨rperlichen Aktivita¨t a¨lterer Menschen herausgegeben. Diese beru¨cksichtigen das Vorliegen chronischer Erkrankungen und funktioneller Einschra¨nkungen und fordern eine Integration pra¨ventiver und therapeutischer Maßnahmen (Nelson et al., 2007). Spezifische Empfehlungen zu ha¨ufigen Gesundheitsproblemen oder deren Kombinationen hingegen fehlen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft fu¨r Rehabilitation fordert in der Rahmenverein’’ barung fu¨r den Rehabilitationssport und das Funktionstraining die Ausrichtung von Rehabilitationszielen an dem gesamten Lebenshinter’’ grund der Betroffenen (BAR, 2007) im Sinne der Internationalen Klassifikation der Funktionsfa¨higkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und verla¨sst somit die klassische, diagnosebezogene Sicht auf Multimorbidita¨t. Die ICF beurteilt die Gesundheit eines Menschen aufgrund von Ko¨rperstrukturen, Ko¨rperfunktionen, Aktivita¨ten und Teilhabe vor dem Hintergrund von Kontextfaktoren, sowohl aus Therapeutenals auch Patientensicht (Schliehe, 2006). In der Praxis bereitet die Umsetzung von Empfehlungen zu ko¨rperlicher Aktivita¨t bei multimorbiden Menschen besondere Probleme. ¨ ngste vor negativen gesundheitliA chen Folgen, Unsicherheit und Unwissenheit bezu¨glich Art, Ha¨ufigkeit, Umfang und Intensita¨t der Aktivita¨t bestehen nicht nur auf Seiten der Patienten und Angeho¨rigen (Cohen-Mansfield et al., ’’



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Gesundheitsberichte aus verschiedenen La¨ndern (u.a. Niederlande, Kanada, USA) zeigen, dass wesentliche Teile der Bevo¨lkerung an Multimorbidita¨t, hier definiert als das gleichzeitige Vorhandensein von zwei oder mehr Krankheiten, leiden (Fortin et al., 2005; van den Akker et al., 1998; Weiss et al., 2007). Wa¨hrend in Deutschland bereits im Alter von 40 bis 54 Jahren rund 40% der Bevo¨lkerung u¨ber mindestens zwei Krankheiten berichten, so steigt dieser Anteil auf etwa 80% unter den 70- bis 85Ja¨hrigen. 24% dieser Hochaltrigen leiden gar unter fu¨nf und mehr Erkrankungen (Wurm und TeschRo¨mer, 2006). Multimorbide Patienten haben eine reduzierte Lebensqualita¨t (Fortin et al., 2006), sie nehmen das Gesundheitssystem u¨berproportional in Anspruch (Flocke et al., 2001; Rochon et al., 1996) und sie besitzen ein erho¨htes Risiko fu¨r unerwu¨nschte Arzneimittelinteraktionen (Zhen et al., 2001), Pflegebedu¨rftigkeit und Mortalita¨t (Gijsen et al., 2001; Pompei et al., 1988). Ko¨rperliche Aktivita¨t spielt sowohl in der Pra¨vention als auch in der Therapie zahlreicher chronischer Erkrankungen, beispielsweise der Koronaren Herzkrankheit, des Diabetes mellitus oder der Arthrose, eine weithin anerkannte Rolle (Fries, 1996; Nelson et al., 2007). Krankheitsu¨bergreifend verbessert sie das ko¨rperliche und psychische Wohlbefinden, reduziert de¨ ngstlichkeit pressive Symptome, A und Stress (Byrne und Byrne, 1993; Petruzzello et al., 1991). In der Behandlung von chronischen

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2003), sondern auch auf Seiten der ¨ rzte und Therapeuten (Eakin A et al., 2007). In der Vermittlung ko¨rperlicher Aktivita¨t an multimorbide Patienten nimmt der Hausarzt eine zentrale Rolle ein. Die umfassende Kenntnis des Gesundheitszustandes seiner Patienten erlaubt ihm die Beurteilung der Eignung fu¨r Aktivita¨tsprogramme (Resnick et al., 2008). Er hat die einzigartige Mo¨glichkeit, einen Großteil der chronisch kranken Bevo¨lkerung zu erreichen. So haben 96% aller 65- bis 84-Ja¨hrigen einen Hausarzt und suchen diesen ca. sechsmal im Jahr auf (Saß et al., 2009). Das Vertrauensverha¨ltnis zwischen Hausarzt und Patient tra¨gt wesentlich zur Compliance bei (Falvo et al.,

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1980). Die wesentlichsten Hu¨rden bezu¨glich einer Fo¨rderung der ko¨rperlichen Aktivita¨t seiner Patienten stellen fu¨r den Hausarzt fehlende Zeit, fehlende Kenntnisse sowie fehlende Vergu¨tung dar (Balde et al., 2003; Eakin et al., 2007). Die hohe gesundheitliche Bedeutung ko¨rperlicher Aktivita¨t fu¨r multimorbide Patienten ist unbestritten. Deren Vermittlung kann in idealer Weise durch den Hausarzt erfolgen. Aufgrund der genannten Hu¨rden bedarf es zur Gestaltung und Umsetzung von Aktivita¨tsprogrammen auf Grundlage einer eingehenden Gesundheitsbeurteilung im Sinne der ICF allerdings einer engen Kooperation mit spezialisierten Berufsgruppen wie z.B. Fach-



Literatur siehe Literatur zum Schwer- punktthema. www.elsevier.de/phf-literatur Der korrespondierende Autor erkla¨rt, dass kein Interessenkonflikt vorliegt. doi:10.1016/j.phf.2009.12.016 Dr. med. Timo Hinrichs Ruhr-Universita¨t Bochum Lehrstuhl fu¨r Sportmedizin und Sporterna¨hrung Overbergstraße 19 44780 Bochum [email protected]

a¨rzten fu¨r Physikalische und Rehabilitative Medizin, Sport-, Physiooder Ergotherapeuten.

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Einleitung Große Teile insbesondere der a¨lteren Bevo¨lkerung leiden an Multimorbidita¨t. In der Therapie zahlreicher Erkrankungen spielt ko¨rperliche Aktivita¨t eine anerkannte Rolle. Eine wesentliche Aufgabe in der Vermittlung ko¨rperlicher Aktivita¨t an multimorbide Patienten kommt dem Hausarzt zu. Zur Gestaltung und Umsetzung von Aktivita¨tsprogrammen auf Grundlage einer umfassenden Gesundheitsbeurteilung bedarf es allerdings der engen Kooperation mit spezialisierten Berufsgruppen.

Schlu¨sselwo¨rter: Ko¨rperliche Aktivita¨t=physical activity, Multimorbidita¨t=multimorbidity, chronische Erkrankung=chronic disease, Hausarzt=general practitioner, ICF=ICF

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