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SPORT OT
rthopadie ¨ raumatologie
Zusammenfassung Der Rollstuhlsport stellt einen Teilbereich des Behindertensportes dar. Behindertengerechte Sportarten beinhalten physiologische, spezifische Bewegungsabla¨ufe der erhaltenen Funktionen. Restfunktionen werden gesta¨rkt und Ausgleichsbewegungen trainiert. Eine Versta¨rkung der Behinderung ist dabei unwahrscheinlich. Das Verletzungsrisiko ist sportartspezifisch und durch die Behinderung nicht erho¨ht. Der betreuende Arzt von Rollstuhlsportlern sollte u¨ber Kenntnisse der sportartspezifischen Bewegungen, der Behinderung und deren spezifischen Komplikationen verfu¨gen. Die genaue Untersuchung der unsensiblen Ko¨rperbereiche ist bei einer Verletzung/Unfall essentiell. Bei geringstem Zweifel sollte ein Ro¨ntgenbild zum Frakturausschluss durchgefu¨hrt werden. Schlu¨sselwo¨rter Rollstuhlsport – medizinische Betreuung – akute Verletzung – internistische/urologische Probleme
S. Albrecht
Medical care of injuries in wheelchair sports Summary Wheelchair sports is only a part of all the different sports that are practiced by handicapped persons. The sport performed by a handicapped person should take care of the residual functions to guarantee that the specific movement is physiologic. Under this conditions the residual functions get stronger, compensation movements are trained and then an amplification of the handicap is unlikely. The risk of an injury is sports specific and not elevated by the handicap. Beside the knowledge of the sport specific movements of the wheelchair sportsmen it is important to know the possible medical like dehydration, hypo-/hyperthermia, decubital ulcers and autonomic hyperreflexia. After an crash or fall out of the wheelchair the clinical examination of the parts without sensibility is essential. In any case of doubt of a fracture an X-ray should be done. Key words Wheelchair sport – medical team – acute injuries – medical problems
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SportOrthoTrauma 24, 166–173 (2008) Elsevier – Urban&Fischer www.elsevier.de/SportOrthoTrauma doi:10.1016/j.orthtr.2008.06.001
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Medizinische Betreuung bei Verletzungen im Rollstuhlsport Silvia Albrecht Orthopa¨die, Schweizer Paraplegiker Zentrum Nottwil
Rollstuhlsport, ein Bereich des Behindertensportes
I
m Behindertensport stellt der Rollstuhlsport (Abb. 1) nur einen Teilbereich der von behinderten Athleten durchgefu¨hrten Sportarten dar. Begonnen hat der Rollstuhlsport in den Nachkriegsjahren, als Sir Ludwig Guttmann 1944 bisher bettla¨gerige Querschnittsgela¨hmte in den Rollstuhl setzte und sie zum Sport motivierte. Er war der Ansicht, dass der Sport diesen Behinderten zu mehr Lebensfreude und Tatkraft, gesteigerter Selbsta¨ndigkeit und erho¨htem Selbstbewusssein und -vertrauen verhilft und zudem ein ta¨gliches Training fu¨r den Alltag darstellt. Fu¨r ihn bildete der Sport fu¨r einen frischen Querschnittsgela¨hmten zudem eine Rehabilitationsform und Therapie. Der Sport im Rollstuhl stellt so auch ein Sicherheitstraining im Rollstuhl mit besserer Beherrschung des Rollstuhls dar und verbessert die Ausdauer, Geschicklichkeit und Koordination [9]. Dies kann fu¨r einen behinderten Menschen im Rollstuhl im Alltag von großer Bedeutung sein. U¨ber den Sport wird so unter anderem mit der systematischen Schulung sportspezifischer Bewegungsabla¨ufe eine besseres Ko¨rperbewusstsein vermittelt. Dies kann bei einem Querschnittsgela¨hmten kurz nach der Verletzung auch bedeuten, ein neues Ko¨rperbewusstsein seines vera¨nderten Ko¨rpers zu erarbeiten.
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Diesbezu¨glich eignet sich auch das Schwimmtraining nach McMillian, welches stufenweise aufgebaut ist. Dies beginnt mit der Wassergewo¨hnung und verla¨uft u¨ber Abbau von Hilfen, u¨ber U¨bungen zur Rotation, zum Auftrieb, zur Erhaltung der Gleichgewichtslage zum selbsta¨ndigen Schwimmen. Eine Behinderung kann den ko¨rperlichen, geistigen und seelischen Bereich betreffen und bedeutet in der Sportmedizin eine funktionelle Sto¨rung, die Sport nicht ohne Einschra¨nkung betreiben la¨sst. So entstehen entsprechend der Funktionseinschra¨nkungen 4 verschiedene Gruppen von Behinderungen (Tabelle 1). Dabei wird rasch klar, dass mehrere Diagnosen zu Verlusten mehrerer Funktionen fu¨hren. Gleichzeitig wird ersichtlich, dass nicht jede Sportart fu¨r unterschiedliche Funktionseinschra¨nkungen gleich geeignet ist. Wichtig fu¨r den Behindertensport ist auch die Tatsache, dass jede Behinderung einzigartig ist. So la¨sst die Frakturho¨he bei einer Querschnittsla¨hmung keine Aussage u¨ber den Funktionsverlust zu und auch bei gleichem neurologischem Niveau kann der Funktionsverlust unterschiedlich sein (Tabelle 2). Die Restfunktion bildet somit nicht nur Grundlage fu¨r die Einteilung in die richtige Startklasse einer jeweiligen Sportart, um einen fairen Wettkampf zu garantieren, sondern ist von gro¨ßter Bedeutung bezu¨glich der
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Sportanlasses Kenntnisse u¨ber die sportartspezifischen Bewegungsabla¨ufe wie auch u¨ber die Behinderungen und deren Komplikationen verfu¨gen sollte. Am Beispiel des Rollstuhlsportes sollen diese Kenntnisse fu¨r Sportorthopa¨den/-traumatologen in der medizinischen Betreuung bei Verletzungen der behinderten Athleten verbessert werden.
Unterschiedliche Rollstuhlsportarten Der Rollstuhlsport wird allgemein als Sitting -Sport bezeichnet. Die Be’’zeichnung Rollstuhlsport wird als U¨berbegriff verwendet und beinhaltet auch Sportarten wie Gewichtheben und Langlauf, welche nicht im eigentlichen Sinne im Rollstuhl ausgefu¨hrt werden. So erfolgt das Gewichtheben auf der Liegebank und der Langlauf in einer Art Schlitten. Als weitere Rollstuhlsportarten sind zu nennen: Skibobfahren, SchlittenHockey, Curling, Biathlon, Badminton, Tennis, Tischtennis, Basketball, Unihockey, Bogenschießen, Schwimmen, Leichtathletik mit mehreren Disziplinen im Bereich Fahren und Werfen, Geschicklichkeitsparcoursfahren, Rugby, Elektro-Unihockey und Handbikefahren u.a. Einige dieser Sportarten sind gleich zu Beginn der Rollstuhlsportentwicklung entstanden, andere wurden erst durch die Entwicklung von geeigneten Rollstu¨hlen oder Rollstuhlschlitten mo¨glich [10]. Vorreiter fu¨r diese Entwicklungen waren und sind meist die Betroffenen selbst (Abb. 2). Wa¨hrend fu¨r einige Sportarten die Technik fu¨r ihre Entstehung notwendig war, konnten fu¨r andere Sportarten die Regeln von den Nichtbehinderten u¨bernommen werden [17]. Einige Sportarten wurden erst durch Regelanpassungen fu¨r ’’
Abbildung 1 Beliebte Rollstuhlsportart – Rollstuhlfahren auf der Bahn auf diversen Distanzen aus dem Bereich Leichtathletik/Fahren. (Zur Verfu¨gung gestellt von der Schweizer Paraplegikervereinigung).
Tabelle 1. Verschiedene Formen von Funktionseinschra¨nkungen. Mental Psychisch
Sensorisch
Motorisch
Metabolisch Kardiopulmonal
Down-Syndrom Geistige Behinderung Zerebralparese
Sehscha¨digung Blindheit Geho¨rlosigkeit Zerebralparese Querschnitt
Amputation Dysmelie Poliomyelitis Zerebralparese Querschnitt
Chronische Polyarthritis Koronare Herzkrankheit Asthma Osteoporose
Tabelle 2. Definition einer behindertengerechten Sportart [22]. Der spezifische Bewegungsablauf bezieht sich auf die erhaltene Funktion und ist im Wesentlichen physiologisch. Die Restfunktionen werden gesta¨rkt und Ausgleichsbewegungen trainiert. Das Verletzungsrisiko ist sportartspezifisch normal, wird durch die Behinderung nicht wesentlich erho¨ht und eine Versta¨rkung der Behinderung ist unwahrscheinlich.
Einscha¨tzung der sportlichen Leistungsfa¨higkeit und Risikoeinscha¨tzung, um eine geeignete und behindertengerechte Sportart zu evaluieren. In diese Betrachtungen muss selbstversta¨ndlich auch immer der ganze Mensch mit seinen Wu¨n-
schen und seiner Psyche einbezogen werden. Aus der Definition einer behindertengerechten Sportart wird ersichtlich, dass ein Sportorthopa¨de/-traumatologe bei der Betreuung eines behinderten Athleten oder eines
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Es haben sich aber auch vollkommen neue Sportarten entwickelt, hier ist als Beispiel der Rollstuhlslalom zu nennen. Rugby und Elektro-Unihockey sind zwei Beispiele fu¨r Sportarten, welche im Verlauf entstanden sind, da sie speziell fu¨r Tetraplegiker geeignete Sportarten darstellen.
Internationale und nationale Wettka¨mpfe Sa¨mtliche Rollstuhlsportarten entwickeln sich sta¨ndig weiter und werden vor allem immer beliebter, was sich in den steigenden Mitgliederzahlen niederschla¨gt. In den meisten Sportarten werden neben regionalen nationale Wettka¨mpfe und auch schon internationale wie Europa- und Weltmeisterschaften durchgefu¨hrt. Besonders beliebt sind Rollstuhlsportarten im Bereich Leichtathletik/Fahren und all diejenigen, die an den Paralympics durchgefu¨hrt werden. Einige Sportarten wie z. B. das Handbikefahren entwickeln sich nicht nur in Richtung Spitzensport sondern auch in Richtung Breiten- und Hobbysport, da diese Sportart vom Tetraplegiker ebenso ausgefu¨hrt werden kann wie vom Fußga¨nger.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum nicht-behinderten Sportler Abbildung 2a und b Rollstu¨hle und ihre Vera¨nderungen durch die Entwicklungen. (Zur Verfu¨gung gestellt von der Schweizer Paraplegikervereinigung).
Rollstuhlfahrer mo¨glich (Rollstuhltennis, Rollstuhlbadminton). Im Tennis darf bei den Behinderten der Ball 2x aufspringen und im Badminton wurde die Feldbegrenzung verkleinert, obwohl im gleichen Spielfeld gespielt wird. So ko¨nnen
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Behinderte auch mit Nichtbehinderten in der gleichen Sportart spielen. Wettka¨mpfe werden jedoch getrennt durchgefu¨hrt. Manche Sportarten werden integrativ auch im Wettkampf mit Nichtbehinderten durchgefu¨hrt, so z. B. der Rollstuhltanz.
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Leichte akute Verletzungen Mehrere Studien haben gezeigt, dass sich die Verletzungsmuster der Rollstuhlsportler nicht wesentlich von den nichtbehinderten Athleten in den gleichen Disziplinen unterscheiden [3,5,10,14,15,17,20]. Somit wird erneut ersichtlich, dass die Kenntnis der sportartspezifischen Bewegungsabla¨ufe, Stressfaktoren
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und Verletzungsmuster in der Betreuung von Rollstuhlsportlern wichtig ist. Am ha¨ufigsten werden bei den akuten leichten Verletzungen Blasen, Schu¨rfungen, Muskelverha¨rtungen, Zerrungen, Verstauchungen, Kontusionen und oberfla¨chliche Verbrennungen genannt [3,4,10,11,12]. Die Verletzungslokalita¨t scheint vom Sport und von der Behinderung abha¨ngig zu sein. Wa¨hrend die Schu¨rfungen, Verstauchungen und Kontusionen bei den Basketballern, Rugbyspielern und Bahn- und Straßenleichtathleten eher an den Ha¨nden und Fingern lokalisiert sind, finden sich diese Verletzungen bei den Schwimmern eher an den Fu¨ßen [21]. Insgesamt liegt die Verletzungsrate mit einem Wert von 9,3 Verletzungen/1000 Athleten-Expositionen (AE) im Rollstuhlsport im Vergleich zum American Football mit 10,1/ 1000 AE oder Fußball mit 9,8/1000 AE tiefer, aber ho¨her als beim Basketball mit 7,0/1000 AE [3]. Dies zeigt deutlich, dass die Sportausu¨bung durch behinderte Menschen nicht mit einer erho¨hten Anzahl an medizinischen Problemen verbunden ist. Schwere akute Verletzungen Zu den schweren Verletzungen geho¨ren die Frakturen und Dislokationen. Wa¨hrend die Fingerfrakturen und Dislokationen in Fingergelenken im Basketball als sportartspezifisch bezeichnet werden mu¨ssen und auch in a¨hnlichem Ausmaß wie bei den Nichtbehinderten auftreten [18], mu¨ssen die Frakturen an den unteren Extremita¨ten im Rollstuhlsport als behinderungsspezifisch bezeichnet werden. Bei Frakturen ist speziell der Kniebereich betroffen. Bei Stu¨rzen aus dem Rollstuhl oder auch durch eine Kontusion des Knies an einem Gegenstand z. B. beim Roll-
Abbildung 3 Ro¨ntgenbilder (Funktionsaufnahmen) einer komplexen distalen Femurfraktur nach Kontusion des Knies im Rennrollstuhl mit einem Gegenstand.
stuhlmarathon kann es zu Frakturen sowohl suprakondyla¨r wie im Bereich des Tibiaplateaus kommen (Abb. 3). In geringerem Maße treten Oberschenkel- oder Schenkelhalsfrakturen auf. Inwieweit die Sitzpositionen der Athleten in den unterschiedlichen Rennrollstu¨hlen die Entstehung der genannten Frakturen im Kniebereich begu¨nstigen ist unklar. Gelegentlich reicht fu¨r die Entstehung einer Malleolar- oder Unterschenkelfraktur ein leichtes Ha¨ngenbleiben des gela¨hmten Fußes beim Rollstuhltransfer aufgrund der stark ausgepra¨gten Osteoporose in den gela¨hmten Extremita¨ten. Auch ein Muskelspasmus oder die reine Durchfu¨hrung einer Stretchingu¨bung kann an der unteren Extremita¨t zu einer Fraktur fu¨hren (Abb. 4). Bei fehlender Sensibilita¨t in diesem Bereich kann eine
solche Fraktur auch durchaus mal einige Tage u¨bersehen werden, wenn man nicht fru¨hzeitig an diese Mo¨glichkeit denkt. Gelegentlich kann eine Schwellung einziges Zeichen einer erlittenen Fraktur sein. Im Zweifelsfall muss deshalb eine Ro¨ntgenaufnahme durchgefu¨hrt werden. Spa¨testens wenn der Athlet vermehrt Spasmen entwickelt, muss neben der Mo¨glichkeit eines Infektes auch an eine bisher nicht diagnostizierte Fraktur gedacht werden. Obere Extremita¨t Bezu¨glich Verletzungslokalisation ist die obere Extremita¨t gema¨ß mehreren Arbeiten [7,9] o¨fter betroffen als die untere Extremita¨t und verdient besonderes Augenmerk. Ferrara et al. [6] bezifferten die Verletzungen der oberen Extremita¨t 1,4x
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Abbildung 4 a) Mediale Malleolarfraktur nach Ha¨ngenbleiben mit dem Fuß am Rollstuhl bei Transfer eines tetraplegischen Patienten mit schwerer Osteoporose. b) Konsolidierung der Fraktur im Verlaufskontrollbild 3 Monate nach Zuggurtungsosteosynthese.
ha¨ufiger als diejenigen der unteren Extremita¨t. Dabei werden Schulter-, Handgelenk- und Ellenbogenverletzungen in absteigender Ha¨ufigkeit genannt [21]. Die Rollstuhlsportler sind nicht nur in der Sportausu¨bung sondern auch in ihrem Alltag fu¨r den Transfer, die Fortbewegung und ihre schwer erarbeitete Selbsta¨ndigkeit ein Leben lang auf gut und schmerzfrei funktionierende und kra¨ftige obere Extremita¨ten angewiesen [17]. Dies deutet bereits auf das Risiko von U¨berlastungsscha¨den vor allem an den oberen Extremita¨ten hin. Dabei werden ebenfalls am ha¨ufigsten Weichteilverletzungen wie Tendinosen und Myogelosen im Schulterbereich genannt [8,18]. Die vermehrte Belastung der oberen Extremita¨t bei Rollstuhlfahrern bereits im Alltag spiegelt sich auch in Ro¨ntgenbildern der Gelenke der oberen Extremita¨t wider, welche in ca. 25% der Behinderten ein u¨ber das
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altersentsprechende Maß hinausgehende degenerative Vera¨nderungen der Gelenke zeigen [9]. Demgegenu¨ber haben andere Arbeiten [8,21] gezeigt, dass Nicht-Athleten doppelt so ha¨ufig u¨ber Schulterschmerzen klagten als Rollstuhlathleten und somit eine aktive Beu¨bung der Schulter von Rollstuhlfahrern durch den Sport zu einer Verringerung von Schulterschmerzen beigetragen hat. Daraus resultierte eine gro¨ßere Anzahl an schmerzfreien und funktionellen Jahren fu¨r den Rollstuhlfahrer. Um ein solch positives Resultat zu erzielen, mu¨ssen U¨berlastungsla¨sionen an den Weichteilen an Schulter, Handgelenk und Ellenbogen schon in der Fru¨hphase richtig behandelt und gut u¨berwacht werden, um einen chronischen Verlauf zu verhindern. Dabei ist die Prophylaxe immer noch die beste Behandlung. So gilt es bereits bei den jungen Rollstuhl-
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sportlern und in der in die Rehabilitation integrierten Sportausu¨bung auf korrekte Bewegungsabla¨ufe und Technik zu achten. Beim Eintreten einer U¨berlastungsverletzung ist aus sportorthopa¨discher/medizinischer Sicht dem Rollstuhlsportler eindeutig klar zu machen, dass bei zu fru¨her Wiederaufnahme des Sportes mit schweren Folgen bezu¨glich seiner Selbsta¨ndigkeit im spa¨teren Leben zu rechnen ist. Taylor et al. [19] fanden wiederkehrende Verletzungen ha¨ufiger bei denjenigen Athleten, welche mit dem Training wieder starteten bevor sie schmerzfrei waren. Diesbezu¨glich unterscheiden sich die Rollstuhlsportler sicherlich nicht von nichtbehinderten Sportlern. Ein Rollstuhlsportler kann bei Entwicklung einer chronischen Verletzung zum Beispiel im Schulterkomplex wegen eingeschra¨nkter Gelenkbeweglichkeit oder verminderter Kraftentwicklung deshalb im
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Gegensatz zum nichtbehinderten Sportler vermehrt auf Hilfe beim Transfer und bei anderen Alltagsausfu¨hrungen angewiesen sein und verliert so seine Selbsta¨ndigkeit. Dies bedeutet eine verminderte Lebensqualita¨t und hat negative Einflu¨sse auf die Psyche. Mit einem gezielten Aufbautraining oder Rehabilitationsprogramm und spa¨ter mit einem durchdachten Trainingsplan und Wettkampfkalender kann man all die positiven Effekte des Sportes fu¨r den Rollstuhlsportler nutzen [16,17]. Durch die allta¨gliche Fortbewegung im Rollstuhl kommt es zu einem Muskel/Sehnen-Ungleichgewicht an der oberen Extremita¨t. Dabei hypertrophieren die Ellenbogenextensoren im Vergleich zu den Flexoren deutlich [13,21]. Dies geschieht sowohl bei Nichtsportlern als auch bei Rollstuhlathleten und zeigt die große Bedeutung der Ellenbogenextensoren in der Aktivita¨t des ta¨glichen Lebens von Rollstuhlfahrern. Bei den Rollstuhlsportlern ist dieses Muskelungleichgewicht zwischen Ellenbogenextensoren und -flexoren noch versta¨rkt. Diese kra¨ftige Ellenbogenextensorenmuskulatur wird einerseits fu¨r ein effizientes Rollstuhlfahren speziell im Bereich Leichtathletik/Fahren beno¨tigt, anderseits birgt es die Gefahr von Einschra¨nkungen der Gelenkbeweglichkeit und Kontrakturen. Prophylaktisch kann dem natu¨rlich mit regelma¨ßigem Dehnen der Ellenbogenextensoren und gezieltem Kra¨ftigen der Ellenbogenflexoren entgegengewirkt werden. Im Marathon gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem La¨ufer und dem Rollstuhlfahrer [13]. Im Rollstuhlrennen variiert die Ruhephase der Arme zwischen 9% und 26% der Renndauer, wa¨hrend der La¨ufer seine Beine nie ausruhen kann. Es wird vermutet, dass Rollstuhlfahrer deshalb auch anaerobe
Rennphasen nutzen ko¨nnen, da die Mo¨glichkeit fu¨r Ruhephasen der Arme bestehen. Dies kann taktisch eingesetzt werden. Diese Mo¨glichkeit von Ruhephasen der Arme erlauben auch einem a¨lteren Rollstuhlfahrer einen Marathon zu beenden.
Behinderungsbedingte medizinische Probleme Im Rollstuhlsport ist die kontinuierliche Weitergabe von Informationen und Ausbildung des Athleten und auch der Trainer und begleitenden Personen wichtig, nicht nur fu¨r eine optimale Leistung, sondern auch fu¨r die sichere Beteiligung am Rollstuhlsport und um gleichzeitig Verletzungen und Komplikationen zu verhindern. Diesbezu¨glich sind Dehydratation, Hyper-/Hypothermie, Dekubitus, urologische Infektionen, Spasmen und autonome Hyperreflexie zu nennen [2,17]. Dehydratation Dehydratation begu¨nstigt die Hyperthermie. Durch die bei gela¨hmten Patienten fehlende Hilfe der Muskelpumpe fu¨r den veno¨sen Ru¨ckfluss des Blutes aus den Beinen zum Herzen kommt es zu einem gewissen Pooling des Blutes in den Beinen und fu¨hrt somit zu einer relativen Hypovola¨mie, welche in Wechselwirkung mit der Dehydratation steht. Athleten mu¨ssen deshalb stetig daran erinnert werden regelma¨ßig und oft zu trinken. Dies gilt bei heißen und bei kalten Umweltbedingungen. Hyper-/Hypothermie Bei Ru¨ckenmarkverletzten fa¨llt die normale autonome Kontrolle der Ko¨rpertemperatur und die Schweißproduktion unterhalb des Verletzungsniveaus aus [16]. Die Schweiß-
produktion an den Armen bleibt normalerweise bei Paraplegikern und partiellen Tetraplegikern erhalten. So ist die Temperaturregulation mit Wa¨rmeabgabe u¨ber das Schwitzen und Verdunstungska¨lte nur u¨ber die Armbewegungen mo¨glich. Die beste Behandlung von Hyperoder Hypothermie ist die Prophylaxe. Dies kann durch eine Anpassung der Trainingszeit bei guten a¨ußeren Konditionen erfolgen [1,10,21]. Es ist an eine ausreichende Flu¨ssigkeitszufuhr zu denken. Um einer Hyperthermie vorzubeugen sollte wa¨hrend der Sportausu¨bung versucht werden, die Verdunstungsku¨hlung zu steigern, indem speziell Tetraplegiker vermehrt mit Wasser zur Abku¨hlung abgespritzt werden Zudem sollte die direkte Sonneneinstrahlung gemieden werden. Zur Vorbeugung von Hypothermie geho¨rt eine Limitierung der Zeit im Wasser beim Schwimmen entsprechend der Toleranz des Athleten. Nach Abschluss des Wettkampfes sollte so rasch wie mo¨glich die Kleidung durch trockene ersetzt werden und bei Bedarf sind die Athleten in Decken zu wickeln. Dies ist notwendig, da mit der Beendigung des Wettkampfes auch die Wa¨rmeproduktion stoppt, die Haut bleibt aber la¨nger vasodilatiert, hypera¨misch und schweißig, wodurch der Wa¨rmeverlust mit einer ho¨heren Rate bestehen bleibt [16]. Dekubitus Rollstuhlfahrer mit neurologischen Dysfunktionen haben eine hohes Risiko Druckgeschwu¨re zu entwickeln. Diese entstehen durch Scherkra¨fte und Druck. Die Zeitdauer bis zur kritischen Phase ist bei jeder Person unterschiedlich und ha¨ngt auch von der Ko¨rperform und dem Erna¨hrungszustand ab [10,16]. Die Sitzposition in den Rennrollstu¨hlen, bei welchen die Knie ho¨her sind als
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Autonome Hyperreflexie Darunter versteht man eine anfallsartig eintretende generalisierte sympathische Hyperaktivita¨t als Antwort auf einen Stimulus. Dieses Geschehen kann zu lebensbedrohlichen Kreislaufregulationssto¨rungen fu¨hren. Es tritt vor allem bei hohen Paraplegikern und Tetraplegikern auf. Das Syndrom ist durch paroxysmale, krisenhafte Hypertension, Angst, massive Kopfschmerzen, Schweißausbru¨che und Hautro¨tung im Gesicht-Hals-Nackenbereich gekennzeichnet. Dies entsteht durch Vasodilatation oberhalb und Vasokonstriktion unterhalb der La¨sion. Zudem besteht eine reflektorische Bradykardie mit gelegentlich gleichzeitigen bizarren Rhythmussto¨rungen. Die Ho¨he der Ru¨ckenmarkla¨sion – normalerweise oberhalb Th5 – bestimmt das Auftreten und die Auspra¨gung. Da die Symptome oft mild und atypisch sind, ko¨nnen sie leicht u¨bersehen werden. Als auslo¨sende Stimuli werden verschiedenartige Reize genannt. So ko¨nnen Harnblasendehnung, Katheterisierung oder
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auch ein Harnwegsinfekt zur autonomen Hyperreflexie fu¨hren. Gelegentlich werden auch Wa¨rme- oder Ka¨lteexposition als Stimuli genannt. Beim Auftreten des Syndroms sollten ko¨rperliche Aktivita¨ten und Sport gestoppt werden und der Athlet sollte medizinisch u¨berwacht werden. Meist ist eine rasche aber konservative Behandlung hilfreich [16]. Zeitweise ist der Einsatz von Medikamenten zur Kreislaufregulation notwendig. Da bei den hohen Paraplegikern und Tetraplegikern die Steigerung der Herzfrequenz auf einem tiefen Niveau limitiert ist, wird von diesen Athleten eine Phase der generalisierten sympathischen Hyperaktivita¨t gelegentlich durch eine Blasenfu¨llung stimuliert, um die Leistung zu verbessern [1]. Diese Maßnahme ist nicht nur gesundheitsgefa¨hrdend sondern auch regelwidrig. Im Allgemeinen untersteht auch der Rollstuhlsportler wie der nichtbehinderte Sportler den Anti-Doping-Regeln.
Fazit fu¨r die Praxis Keine Angst vor Fettna¨pfchen-Fragen an den aus dem Rollstuhl gestu¨rzten Rollstuhlsportler wie: Wo tut es dir weh, wo hast du ’’Schmerzen? Auch ein Paraplegiker oder Tetraplegiker, der Rollstuhlsport treibt, hat noch schmerzempfindliche Bereiche. Er bezieht Ihre Frage einfach auf diesen Bereich. Die restlichen Ko¨rperpartien mu¨ssen dann sorgfa¨ltig klinisch begutachtet und untersucht werden. Beim geringsten Zweifel bezu¨glich einer mo¨glichen Fraktur sollte mo¨glichst rasch ein Ro¨ntgenbild durchgefu¨hrt werden. Im Wesentlichen unterscheidet sich das Verletzungsmuster bei den Rollstuhlsportlern nicht von demjenigen bei Nichtbehinderten in den vergleichenden Sportarten. Es sind ’’
das Gesa¨ß, fu¨hrt zudem zu einer Druckversta¨rkung und wird bezu¨glich Dekubitusentwicklung als ungu¨nstiger betrachtet. Demgegenu¨ber konnte in einigen Kollektiven von Rollstuhlsportlern mit solchen Rennrollstu¨hlen keine vermehrte Dekubitusentwicklung festgestellt werden. Statische und dynamische Kontraktionen von Muskeln an der oberen Extremita¨t steigern auch den Blutfluss in der Haut in den gela¨hmten Regionen und helfen so bei der Prophylaxe von Druckgeschwu¨ren mit [13]. Trotz dieser Hilfestellung sind eine regelma¨ßige Druckentlastung und Positionsa¨nderung wie auch eine gesunde Erna¨hrung und gute Ko¨rperhygiene als Prophylaxe fu¨r den Rollstuhlfahrer von besonderer Wichtigkeit.
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zusa¨tzlich nur die behinderungsspezifischen Probleme zu beachten.
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und Entta¨uschung, so dass das Training nicht fortgefu¨hrt wird. Der Autor, man merkt es gleich beim Lesen, ist ein erfahrener und kompetenter Fitnesstrainer. Das Buch, eingeteilt in 10 Kapitel mit jeweils 10 Tipps, besticht durch seine vielfa¨ltigen inhaltlichen Bezu¨ge. Vor allem der Einsteiger erfa¨hrt hier wertvolle Hinweise fu¨r einen guten Einstieg in sein perso¨nliches Fitnesstraining. Angefangen mit der Auswahl des richtigen Fitnessstudios u¨ber Hinweise zum Muskelaufbau und Ausdauertraining, zur Rehabilitation und zur Erna¨hrung bis hin zur Entspannung und Wellness erha¨lt der Leser alles, was er braucht um motiviert gezielt zu trainieren, statt nach wenigen Wochen das
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Casper Grim Osnabru¨ck
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