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durch gespeicherte, feststeckende Erregungsmuster zu lösen. Auf diese Weise kann die osteopathische Behandlung durch eine methodisch reflektierte Beziehungsgestaltung eine erhöhte Wirksamkeit in Bezug auf die Fähigkeit zur Selbstregulation und Entwicklung von Resilienz entfalten. Nicht nur bei Patienten mit Schmerzen, nach Unfällen oder Operationen oder bei chronischen Syndromen kann eine Einbeziehung dieser Aspekte für die Effizienz der osteopathischen Behandlung von ausge-
ORIGINALIA sprochenem Nutzen sein. Eine bewusste Ausrichtung auf die eigene therapeutische Erregungslage ebenso wie auf die des Patienten er weitert das Feld jeder Behandlungssituation und eröffnet den Raum für Empathie und Begegnung.
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Korrespondenzadresse: Dorothea Metcalfe-Wiegand Osteopathie Institut Frankfurt Niedenau 36 60325 Frankfurt/Main
[email protected]
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Osteopathie im biodynamischen Bereich und Psychotherapie Holger Pelz
Zusammenfassung Die Osteopathie im biodynamischen Bereich (OBB) ist, wenn sie nachhaltig therapeutisch wirksam für Patienten funktioniert, auf die Grundbedingung eines Neutral, das sowohl beim Patienten als auch beim Therapeuten als Afferenz vorliegen muss, angewiesen. Die Phänomene der Stillness eines Neutral in der OBB sind weitgehend naturwissenschaftlich zuzuordnen und in jeder interpersonalen Behandlung aus der gemeinsamen Metaperson heraus therapeutisch wirksam, in der Osteopathie wie auch in der Psychotherapie.
Schlüsselwörter Dynamik, Neutral, Afferenz, Stille, Rhythmen
Abstract Osteopathy in the Biodynamic Field (OBF) is dependent on the basic condition of a neutral, which has to be present as afference both in patient and practitioner, in order to achieve a sustained therapeutic effect for the patient. In OBF the phenomena of stillness in the Neutral are largely attributable to natural science and are therapeutically effective in every interpersonal treatment arising from a common metaperson, in osteopathy as well as in psychotherapy.
Keyword Dynamics, neutral, stillness, afference, rhythms
Einleitung Die Kurse der DGOM (Deutsche Gesellschaft für Osteopathische Medizin) über Osteopathie im biodynamischen Bereich (OBB), an denen ich auch als Assistent von Prof. David C. Eland1 teilgenommen habe, bilden diverse gemeinsame Schnitt- und Berührungspunkte mit der Psychotherapie. Meine langjährigen Erfahrungen sowohl als Psychotherapeut als auch als Osteopath verdeutlichten mir dies eindeutig und nachhaltig. Unter OBB versteht man im Gegensatz zu den Ansätzen der Osteopathie, in denen efferent, d.h. aktiv manuell behandelt wird, einen afferenten Ansatz, in dem der manuelle Kontakt beobachtend, passiv, eher die organismischen Aktivitäten des Patienten begleitend, stattfindet. Inwiefern könnten Inhalte der „osteopathy in the biodynamic field“ und Psychotherapie eine Integration finden, obwohl sie vermeintlich ganz unterschiedliche Ansätze in der Behandlung von Patienten sind? Worin bestehen wesentliche Unterschiede? Menschen sind ganz unzweifelhaft durch beide Aspekte des Seins, die Psyche und das
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Soma, bestimmt. Birgt diese Idee Risiken? Eröffnen sich hier neue Möglichkeiten? Meine Überlegungen werde ich aus der Perspektive des Osteopathen beginnen und nach dem Schritt, der in der OBB als „doorway“ eröffnendes „Neutral“ bezeichnet wird, durch einen Perspektivwechsel aus Sicht des Psychotherapeuten fortführen. Der Grund für dieses „merkwürdige“ Vorgehen – es ist würdig sich das zu merken – wird sich aus den Darstellungen selbst ergeben. Dabei sei im Voraus bemerkt, dass die Reihenfolge der perspektivischen Betrachtung prinzipiell unbedeutend ist. Für die vergleichenden Darstellungen müssen die Terminologien der verschiedenen Tätigkeitsbereiche verwendet werden. Eine einheitliche Sprache, wie sie die Musik, die Kunst, Träume und auch die Mathematik weltweit darstellen, kennen wir hier nicht. Begrifflichkeiten, insbesondere wenn sie in verschiedenen Sprachen oder Kulturen Anwendung finden, sind oft „belegt“, was mit dem semantischen Bedeutungsanteil von Sprache zu tun hat. Allerdings wird eine Bedeutung allgemein klarer, je intensiver ein Begriff ge-
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ORIGINALIA meinsam – und meist irgendwann wie selbstverständlich – verwendet wird. So geschieht es stets auch beim Lernen von Osteopathie. Taktiles, Visuelles und Auditives werden immer miteinander verknüpft. Die osteopathische Biodynamik und die Psychotherapie haben in jedem Fall zunächst die Dynamik als ausdrücklich zu nennenden gemeinsamen Aspekt. Im Psychotherapeutengesetz sind in Deutschland drei Behandlungsmethoden anerkannt und in der ärztlichen und psychologischen Behandlung zugelassen: Die analytische Psychotherapie, die tiefenpsychologische Psychotherapie und die Verhaltenspsychotherapie. Allen drei Methoden ist gemeinsam, dass sie psychodynamische Prinzipien berücksichtigen. OBB und die psychodynamischen Psychotherapie sind ein von physikalischer Zeit abhängiger, andauernder und fortschreitender, eben dynamischer Prozess. In der Psychotherapie werden daher 25–300 Therapiestunden, je nach Methode und Kasus, in einem Gutachterverfahren genehmigt. In der OBB hat Zeit eine wesentliche Bedeutung. So wandte sich R. Becker einmal mit den Worten an J. Jealous: „Wait until the will of the patient yields to the will of primary respiration.“ Und David Eland bemerkte: „You have to be a good waiter!“
Vorbereitung der Therapie in der OBB Es gibt fünf immer wiederkehrende Vorbereitungsschritte in der OBB. Diesen Termini werden im Folgenden zentrale Termini der grundlegenden psychotherapeutischen Techniken gegenübergestellt: • Centering bezeichnet das innere Sammeln des Osteopathen, noch bevor er mit dem Patienten taktil Kontakt aufnimmt. Es findet eine Konzentration statt, bei der sich der Therapeut auf Ort, Zeit, den Patienten und auf das weitere Vorgehen fokussiert. Es findet eine bewusste Abschirmung gegen äußere Störun-
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gen statt. Die Achtsamkeit ist in der Psychotherapie eine bewusste Einstellung, die zum Beispiel im Focusing verwendet wird. Sie wird auf wichtig erachtete Aspekte ausgerichtet. Weiteres ergibt sich in der Bedeutung durch den Begriff Centering von selbst [1, 2]. • Zero Voltage ist ein afferentes Listening, eine Kontaktaufnahme mit einem Fokus auf die Informationen, die als kontemplativer Akt des Wahrnehmens vom Patienten zum Therapeuten gelangen. Die nicht direktive Beratung, die unter anderem durch Techniken wie das aktive Zuhören geprägt ist, entspricht in der Psychotherapie in diesem Sinne einer Kontaktaufnahme mit dem Patienten auf der sprachlichen Ebene [3]. • Abreaction: David Eland sagte: „One of the hardest things to learn about osteopathy is to not react.“ Die Passivität ist für sonst aktiv behandelnde Therapeuten ein notwendiges Mittel, um Zugang zu dynamischen Prozessen zu erlangen. Die therapeutische Abstinenz ist eine in der Psychotherapie universell angewendete Technik der Beschränkung von Interventionen zum Zweck der Selbstreflexion des Patienten, was in der Biodynamik der Förderung der Selbstheilungskräfte entspricht und allgemein auf einer Ressourcenorientierung basiert [4]. • Mit Divided Attention ist eine Aufmerksamkeitsteilung gemeint, bei der der osteopathische Therapeut nur zu einem kleineren Teil die Aufmerksamkeit auf die lokale Läsion und den größeren Teil auf das ganze System (Health) lenkt. „Whenever you are working locally, you feel systemically.“ (Tensegrity klingt ähnlich!) Die therapeutische Spaltung ist wohl die psychotherapeutische Entsprechung zur biodynamischen Aufmerksamkeitsteilung. Dabei werden sowohl die realen Beziehungsaspekte als auch die Übertragungsaspekte beim Patienten berücksichtigt. Dieser
schwierige, letztlich einzig ursächlich wirksame psychotherapeutische Vorgang der therapeutischen Ichspaltung erfordert Erfahrung, Übung, Selbstreflexion und auch stets Supervision [5]. • Synchronisation meint ein „Mitschwingen“ mit einer der Wahrnehmung nach stabilen Frequenz der biodynamischen Rhythmen. Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie ist das dem „Mitschwingen“ vergleichbare Verfahren in der Psychotherapie, das mit Techniken des Einlassens auf die verbale Kommunikation des Patienten erreicht wird, ohne im Wesentlichen mit den bislang betrachteten Schritten in Widerspruch zu gelangen [6]. Die fünf Schritte sind für den Therapeuten Orientierung und notwendige Vorbereitung für die nachfolgende biodynamische Therapie mit dem Patienten. Die Techniken der Psychotherapie, die den fünf vorbereitenden Schritten in der OBB entsprechen, sind ebenso notwendige Vorbereitung mit dem Patienten, um die nachfolgenden therapeutischen „Interventionen“ wirksam werden zu lassen. Der Osteopath durchläuft in der OBB quasi die Vorbereitung eines Patienten in der Psychotherapie, um behandeln zu können. Dabei ruht der Patient (z.B. bei einem Zugang des Osteopathen mittels Vault-Hold-Technik) ruhig und ohne zu sprechen passiv auf der Behandlungsliege, weil die Berührung die Kommunikationsbeziehung definiert. Im Vergleich mit einem Psychotherapiesetting durchläuft anders herum der Patient in der OBB quasi die Vorbereitung des Therapeuten in der Psychotherapie, weil (z.B. im sitzenden Vis-à-visGesprächssetting) der Zugang zu eigenen, nicht bewussten Konflikten vorwiegend durch die Kommunikationsbeziehung Sprache (auch visuell, also non verbal, aber nicht taktil) und Gedanken definiert ist. In der OBB dient diese Vorgehensweise dem Fokus, einen Doorway für das weitere Behandlungsprozedere
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mit den Patienten zu finden. In der Psychotherapie entspricht das dem Fokus, einen Zugang für die weitere Behandlung mit den Patienten zu bekommen. Die Aspekte der ersten fünf Vorbereitungsschritte der osteopathischen Biodynamik stehen in enger Verwandtschaft mit psychotherapeutischen Basistechniken. Sie haben einen gemeinsamen afferenten Ansatz und suchen ein einheitliches Ziel. Die Herangehensweise (Approach) mündet aber nicht nur in ein gemeinsames Ziel (Doorway), sondern in eine gemeinsame „Grundbedingung“, sowohl beim Therapeuten als auch beim Patienten, sowohl in der Psychotherapie als auch in der OBB.
Sechster Schritt: Neutral Aus Sicht des Osteopathen ist der nächste Schritt der OBB wie ein Fulkrum (Dreh- und Angelpunkt) für die nachfolgende Behandlung mit der Option eines Rebalancing des Patienten. Aus Sicht des Psychotherapeuten ist dieser Schritt die Schlüsselbedingung für die Option einer Integration neuer Konfliktlösungs- und Rebalancierungsmuster im Patienten. Die Bedingung Neutral muss in der osteopathischen Biodynamik – genauso wie in der Psychotherapie – sowohl der Therapeut als auch der Patient (wegen der „Berührungsbeziehung“) im Moment der therapeutischen Wirkung erreicht haben. Dieser Moment wird auch als psychovegetative Umschaltung oder autogene bzw. autosuggestive Bedingung beschrieben. Dieser Zustand wirkt durch die Umschaltung des Gesamtorganismus nachweislich Stress reduzierend. Die Regie hat der Parasympathikus. Die Wahrnehmung von Schwere, Wärme, Ruhe, langsamer Atmung, Aktivität des Darms und auch die Überleitung in den Schlaf sind typisch für diese Bedingung des Neutrals. Die Eigenerfahrungen des Osteopathen und des Patienten nach
ORIGINALIA entsprechenden Behandlungen bestätigen diesen „PostbehandlungsTran-Zustand“. Die Rückumschaltung zu einem weniger parasympathisch geprägten Zustand, mit mehr Spannung und Vigilanz, wird im Autogenen Training auch Rücknahme genannt und durch willkürliche Muskelanspannungen, tiefe Atemzüge und am Schluss das Öffnen der Augen initiiert [7, 8]. Während der Behandlung ist der Fokus des Patienten auf das ruhige Liegen beschränkt. Die Folge ist nicht selten das Einschlafen. In einem Vis-à-vis-Gesprächssetting schlafen Patienten so gut wie nie ein, weil der Patient kognitiv sprechend kommuniziert. Allerdings ist das „aktive Zuhören“ gelegentlich sehr ermüdend. Insbesondere bei psychoanalytischen Behandlungen ohne Vis-àvis-Setting, wenn der Therapeut am Kopfende der Behandlungsliege sitzt, soll schon so mancher Analytiker eingeschlummert sein. Das Kursbeispiel der „Tour of Minnow“ (imaginierte Tour durch das Ventrikelsystem des Gehirns) macht verständlich, warum ein Osteopath nicht entschlummert [9]. Erstens ist er auf einen Vorgang fokussiert, der prozesshaft voranschreitet und wegen der inneren Vorstellung eine gewisse mentale Vigilanz erfordert. Zweitens liegt in der Ausbildung eine besondere Bedingung vor, denn die Übenden werden verbal durch den anleitenden Lehrer durch die Tour geführt. Dies ist in der Praxis später nicht der Fall. Hier führt der Behandler die Tour alleine durch. Eine „geführte Imagination“ unter Kursbedingungen stellt die Bedingung des Neutrals aber schneller und stabiler her, was zu nachhaltigerer visueller und taktiler Erinnerungsfähigkeit (Lernen) führt, aber auch zum schnelleren Einschlafen des Patienten. Ausnahme: Der Patient kann der Tour fachlich folgen und tut dies auch. Die Lehrsituation enthält alle Kriterien einer Hypnose, mit Induktion (Schritte 1–5), Hypnoid (Neutral) und Suggestion (verbale Führung durch die Tour), was die
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sehr wirksame Erinnerungsfähigkeit erklärt [10]. Im ersten OBB-Kurs erklärt David Eland als Anleitung zum therapeutischen Vorgehen zunächst ausschließlich: „Follow the Neutral and wait for expression!“ Der zweite OBB-Kurs beschäftigt sich darüber hinaus mit den spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten, die das Neutral therapeutisch eröffnet.
Subjektiver Ausdruck der therapeutischen Stille Als Behandlungseffekt wird sich aus der palpatorischen Stille ein regelmäßiger Rhythmus einstellen (z.B. der kraniale rhythmische Impuls, langsamere Rhythmen wie Breath-of-LifeRhythmus oder auch Long-TideRhythmen), der in der OBB als afferenter palpatorischer Ausdruck der gegenwärtigen Health, der Gesundheit des Patienten, als individuell und einzigartig zu verstehen ist. In Erinnerung an die zu Beginn genannte Merkwürdigkeit der nun folgenden Fortführung aus primärer Sicht des Psychotherapeuten, mag sich das Merkwürdige auflösen, denn der Zugang bzw. Doorway ist für Patienten und Therapeuten ein und dieselbe innere Bedingung, auch wenn das aufgrund der unterschiedlichen Kommunikationsmodi (taktile, verbale Zugänge) vordergründig nicht so scheint. Das Neutral ermöglicht aber die therapeutisch relevante, notwenige, metapersonale, interindividuelle Beziehungsbegegnung zwischen Patient und Therapeut [11, 12]. Die „Sternstunden“ der Psychotherapie sind die Momente des „fallenden Groschens“, die Momente des Begreifens. Sie rühren an, sie berühren den Patienten ebenso wie den Therapeuten. Sie sind evident und integrierend, lassen zum Beispiel bislang Widersprüchliches („gute Miene zum bösen Spiel“) oder Ambivalentes
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ORIGINALIA („Ja, aber…!“) aufklaren und stabilisieren die ganze Person nachhaltig im täglichen Leben. Diese Momente sind begleitet und gefolgt von einer tiefen ruhigen Zufriedenheit, einer Stimmigkeit. Dabei heben sich die „Schwingungen“ in Frequenz und Amplitude im Rhythmus zu Null auf, das heißt, Patient und Therapeut können sich in den emotionalen Aspekten exakt gegenseitig verstehen und fühlen. Obwohl alles weiterschwingt, scheinen die (dysfunktionalen) Schwingungen merkwürdigerweise zur Ruhe zu kommen. Kann man besser beschreiben was eine Dynamic Stillness [13] ist? Kann man besser verstehen, was ein Stillpoint in the Tissue [13] ist? Es handelt sich aber um eine psychodynamische Beschreibung! Das ist der First Level of Stillness, osteopathisch wie psychotherapeutisch. Die Fachtermini werden ebenso zur Nebensache wie die Zeit, was wesentlicher Aspekt einer dynamischen Ruhe ist [14]! Quasi automatisch kommen Patienten nach „Sternstunden“ mit Berichten aus dem Lebensfluss zurück in die Therapiesitzungen. Die vormals als Unmöglichkeiten wirkenden Unstimmigkeiten des unbewussten Erlebens werden wie selbstverständlich neu angewendet. Patienten verfügen mit dem Erleben über neue Möglichkeiten und empfinden dies, als sei es schon immer so gewesen. Die Veränderungen werden wie automatisch ins Leben integriert, was natürlich mit der Anknüpfung an vorhandene, aber vormals ungenutzte Ressourcen zu tun hat und der Aufrechterhaltung der dynamischen Stille bedarf. Kann man besser beschreiben was ein Fluid Body [13] ist? Kann man besser verstehen was ein Automatic Shifting [13] ist? Wiederum handelt sich aber um eine psychodynamische Beschreibung! Das ist der Second Level of Stillness, osteopathisch wie psychotherapeutisch ist das der Grund des Ozeans, des „nicht Bewussten“ [15].
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Patienten, die gelernt haben, Veränderung zu integrieren, fangen ganz langsam an, mehr und mehr zu reflektieren, sich zu hinterfragen. Sie bemerken, dass sie, indem sie sich immer besser kennenlernen, auch andere Menschen besser verstehen und sich in sie hineinversetzen können, was zu einer noch tieferen Veränderung hin zu noch mehr Ausgeglichenheit auf der Basis der dynamischen Ruhe führt. Kann man besser beschreiben was eine Long Tide [13] ist? Kann man besser verstehen was ein Homogenizing [13] ist? Es handelt sich ausschließlich um eine psychodynamische Beschreibung! Das ist der Third Level of Stillness, osteopathisch wie psychotherapeutisch ist da nun das Haus, „der sichere Ort“, am Grund des Ozeans [16]. Patienten, die sich auf tiefere Schichten der Persönlichkeit bewusst einlassen können, erleben unter diesen Bedingungen zum Beispiel Trancezustände, etwa in Hypnosen, in katathymem Bilderleben oder geführten Imaginationen. Es werden so grundlegende Anteile bewusst deutlich und scheinen dabei jenseits der Körperlichkeit zu existieren, sodass sie als spirituell bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang können zum Beispiel auch Armlevitationen (Schwerelosigkeitserleben), Venusvon-Milo-Phänomene (Körperauflösungs- bzw. Oberflächenänderungserleben) oder Phänomene der freischwebenden körperlosen Aufmerksamkeit erlebt werden, die aber von psychotischen Derealisationszuständen (mit fehlender Realitätsprüfung) wegen der fehlenden Beängstigung klar unterschieden werden können. Innere Realitäten werden bewusst in die äußeren Erlebenssphären integriert und führen durch Verknüpfungen mit sonstigen Erfahrungen im „Hier und Jetzt“ zu persönlichkeitsmodulierenden Effekten. Kann man besser beschreiben was der Dallas Fountain [13] ist? Kann man besser verstehen was gemeint ist mit „patient seems to disappear“ oder
„lost form and function“ [13]? Es werden ausschließlich psychodynamische Beschreibungen benutzt! Das ist der Fourth Level of Stillness in the Light, osteopathisch wie psychotherapeutisch führt das zu Gesundheit oder Health [7, 17–19].
Implikationen der Bioneuropsychophysiologie für die Ausdrücke des Neutral Die im Fourth Level of Stillness in the Light beschriebenen Phänomene lassen sich heute mit den neuesten wissenschaftlichen Methoden und Techniken der Neurobiologie und Psychoneuroimmunologie weitgehend einordnen. Zum Beispiel beschäftigt sich das Gehirn des Osteopathen nicht mehr mit dem haptischen Input seiner Fingerspitzen, wenn auf diesem Weg kein Input (keine Bewegung, Abreacting, Waiting) mehr ins Gehirn gelangt. Wird sich der Therapeut dessen bewusst, ist der Körper des Patienten für ihn (bzw. sein Gehirn) real nicht mehr (haptisch) vorhanden. Die visuelle Gegenkontrolle (versus Derealisation) macht diese Wahrnehmung zum genannten Trancephänomen. Das Gehirn weicht auf andere Bereiche der Wahrnehmung (Wärme, Elektrostatik etc.) aus, die sonst nicht bewusst wahrgenommen werden (Ressourcennutzung) [20–22]. Man kann sich nun zu Recht fragen, was denn ein Prozedere in einer einzigen osteopathisch-biodynamischen Behandlungseinheit mit ganz offensichtlich lange andauernden therapeutischen Episoden mit vielen Sitzungen überhaupt zu tun haben kann. Die psychotherapeutischen Techniken in den fünf Schritten und den vier Levels der Stillness scheinen in den einzelnen Sitzungen „isoliert“ aufzutauchen und somit nicht mit dem osteopathisch-biodynamischen Schrittprozedere vergleichbar zu sein. Das ist aber nur scheinbar so, denn
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die Psychotherapiesitzungen dauern jeweils 50–60 Minuten. Sie finden regelmäßig, meist kontinuierlich wöchentlich, in der Psychoanalyse sogar mehrfach wöchentlich, über viele Monate statt. Die physikalische Zeit ist ganz deutlich länger als in der Osteopathie. Die erlebten Zustände werden aber „konserviert“ (gelernt) und dann in einzelnen Stunden („Sternstunden“) beschleunigt, aber alle Schritte durchlaufend, abgerufen, was durch die genannten Techniken stets unterstützt wird. Zeit ist ein sehr relatives Phänomen (frei nach A. Einstein); so ist schon lange bekannt, dass lang und ausführlich berichtete Trauminhalte (lange Träume) binnen Bruchteilen von Sekunden „stattfinden“. Beispiel: Der Patient berichtet von einem Sturz, der real passiert ist. Diesen Sturz fügt er logisch völlig schlüssig in seinen Trauminhalt ein. Dieser Sturz passierte aber unabhängig vom Traum, er konnte nicht vorausgeahnt und schon gar nicht bewirkt werden. Vielmehr fügt das träumende Gehirn den Sturz blitzschnell und nahtlos in den geträumten und erinnerten Trauminhalt ein, weil es parallel, synchron vernetzt, synergistisch mit Zeit funktioniert. Die Verarbeitung des Aktuellen wird mit dem Alten verknüpft. Hinweise für diese Erklärungen finden sich bereits in Freuds Hauptwerk, der „Traumdeutung“ [23, 24]. Ich habe keinen Zweifel, wohl weil ich sowohl psychotherapeutisch als auch osteopathisch arbeite, dass unser Gehirn eine individuelle Uhr besitzt. Wir werden durch die physikalische Zeit aber ständig gezwungen, Stress induzierende Korrekturen vorzunehmen. Schlaf-Wach-Rhythmen, das Warten auf Erfreuliches, die Unendlichkeit von Unangenehmem, die Kürze des Angenehmen und auch die Zeitverschiebungen sind Beispiele dafür, dass die Zeit „wie im Fluge vergeht“ oder „stillsteht“ [25]. Insofern ist Dynamik für Psychodynamik und osteopathische Biodynamik ein einheitliches Prinzip [26].
ORIGINALIA Legt man die physikalische Zeit zugrunde, ist der verbale Zugang zweifellos ein langer dynamischer Prozess (dem Gehirn ist das letztlich egal). Dies wird zwar in den drei klassischen Psychotherapiemethoden anerkannt, aber zunehmend auch infrage gestellt. Es wird nach Fokal- und Kurzzeittherapien gesucht, um Zeit und Geld zu sparen, aber auch Lebensqualität für die Patienten zu gewinnen [27].
EMDR EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) wird in der Psychotraumatherapie als Methode so erfolgreich angewendet, dass sie heute quasi Goldstandard ist, auch wenn sie erst 1987 von Francine Shapiro entwickelt und publiziert wurde. In wenigen Sitzungen ist über diesen Zugang Heilung zu erzielen, was zuvor entweder gar nicht möglich schien oder jahrelange herkömmliche Psychotherapie erforderte. Neurophysiologie und der körperliche Zugang werden hierbei mit psychotherapeutischen Gesprächstechniken kombiniert eingesetzt [28].
Schlussbetrachtungen Es besteht sicher kein Zweifel, dass die Sprache ein sehr wichtiger Zugang zum Patienten sein kann und bei Erwachsenen auch sein muss. Gleichwohl kann Sprache für viele psychische Phänomene nicht der schnellste und „stimmigste“ Zugang für unser Gehirn sein, denn die wichtigsten Inhalte erlernt das Gehirn vor dem Spracherwerb, in einer sehr kurzen Lebenszeit und mit sehr viel taktilem und visuellem „Input“, an den die Sprache später anknüpft. Worte und Redewendungen der deutschen Sprache spiegeln lebendige, „blumige“ semantische Beispiele massenhaft wieder. Im ersten OBB-Kurs heißt es zum Emotional Release: „The biodynamic
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approach involves very deep processes. It is respectful of the individual patient. It is possible to get to doors that you, the practitioner, may not be ready to deal with. It is sometimes ethically necessary to back away from those doors.“ Als Osteopath ist die Vorsicht vor dem Risiko des „Mysteriums Psyche“ verständlich, jedoch findet die eigentliche Therapie des Osteopathen – wie die des Psychotherapeuten auch – biodynamisch betrachtet tatsächlich in den Schritten nach dem Neutral statt. Den Zugang (Doorway) zum Neutral nicht zu durchschreiten käme der Vernachlässigung von Ressourcen und somit des Ungenutztlassens von Chancen gleich. Ich halte das Risiko, psychische Probleme mit osteopathischer Biodynamik zu induzieren, für die meisten Patienten für unbedeutend, da die Patienten nicht efferent behandelt werden und in das Behandlungssetting zuvor eingewilligt haben sollten. Ausnahmen hiervon bilden Psychosen, schwere Depressionen, Erregungszustände im Status der akuten Angst, Panikattacken, Süchte oder die Einnahme psychotroper Pharmaka. Erfahrene, kompetent ausgebildete Osteopathen können OBB ansonsten sicher „gefahrlos“ einsetzen. Bleibt die Frage, was Patienten, wenn sie denn nicht gerade gelangweilt „entschlummern“, in der Behandlungszeit machen. Ich weiß von Patienten, dass sie nicht nichts machen. Selbst wenn sie schlafen, werden Träume erinnert. Ich weiß, dass sie ganz viel denken (sprachlich). Sie imaginieren viel, haben also visuelle Vorstellungen. Sie hören und fühlen ganz viel in sich, in ihren Körper, hinein. Und sie machen sich viele Gedanken (sprachliches Grübeln), was da wohl gerade mit ihnen geschieht und was sich wohl für sie tun wird. Hat die osteopathisch-biodynamische Behandlung Einfluss darauf, was die Patienten machen, und beeinflusst das wiederum die Patienten und die osteopathischen Befunde? Sicher, denn die Patienten sprechen mit
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ORIGINALIA mir genau darüber und berichten das immer wieder. Osteopathisch wiederum finde ich vor und nach psychotherapeutischen Sitzungen zum Teil deutlich unterschiedliche somatische Dysfunktionen, Strains und Kompensationen, insbesondere nach „Sternstunden“ (aber auch nach sehr aufwühlenden Stunden) [29]. Die Befunde sind evident, da somatische Veränderungen von den Patienten sogar spontan, unaufgefordert benannt werden. Ich glaube daher, dass es enorme Ressourcen gibt, wenn man die osteopathische Biodynamik mit psychotherapeutischen Techniken, wie ich es für die etablierte EMDR-Technik angesprochen habe, kombiniert. Ich denke, man sollte Patienten in der Therapie mit OBB in den Schritten nach dem Neutral aktiv einbinden, jedoch ohne selbst als Therapeut die Stillness zu verlieren (Patienten sind ja so oder so mental beteiligter, als es äußerlich den Anschein hat, oder entschlafen andersherum gänzlich). So
lassen sich die psychotherapeutischen Effekte intensivieren, die psychodynamischen Prozesse verkürzen und alle Selbstregulationsressourcen nutzbar machen. Als Psychotherapeut behandele ich auch immer synchron den Körper und ebenso als Osteopath auch immer die Psyche. Psyche und Soma sind nur jeweils eine Seite ein und derselben Medaille, deren andere Seite man suchen muss und finden kann, um alles zu berücksichtigen. Reaktion auf Zuhören und Palpieren ist in diesem Sinne sämtlich exterozeptive Emotion (ex = heraus, motion = bewegen). Emotionen sind strukturelle Ausdrücke der Funktionen. Psyche ist funktioneller Eindruck der Strukturen. Ein- und Ausdruck gestalten die metapersonalen Beziehung, sowohl in der Osteopathie als auch in der Psychotherapie. Für mich persönlich ist OBB in der Osteopathie zusammen mit Psychotherapie der praktische, wissenschaft-
lich spannende Anfang, nicht das „unbegreifliche“ mystische Ende der Psychotherapie, weil „Begreifen“ (der osteopathische Touch) eine Voraussetzung für das dynamisch Wissen schaffende „Verstehen“ ist und mit der Verknüpfung von Psyche und Soma erst beginnt. Ich weiß heute, das funktioniert, wenn man den oben dargestellten Prinzipien sowie den sprachlich-auditiven zusammen mit den taktil-palpatorischen Modi folgt. Die Ausgangsfrage, was OBB mit Psychotherapie zu tun, gebe ich als Gegenfragen zurück: Ist OBB nicht ganz einfach Psychotherapie mit osteopathischem Approach und ist Psychotherapie nicht ganz einfach OBB mit psychotherapeutischem Approach?
Korrespondenzadresse: Dr. med. Holger Pelz St-Petri-Platz 5 21614 Buxtehude
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