Verhaltenspräventive Intervention in einem DAX-30 Industriebetrieb – Ergebnisse einer kontrollierten und randomisierten Studie

Verhaltenspräventive Intervention in einem DAX-30 Industriebetrieb – Ergebnisse einer kontrollierten und randomisierten Studie

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€ventive Intervention in einem DAX-30 Verhaltenspra Industriebetrieb – Ergebnisse einer kontrollierten und randomisierten Studie Harald Gu¨ndel, Heribert Limm, Mechthild Heinmu¨ller, Birgitt Marten-Mittag und Peter Angerer Fehlzeiten aufgrund psychischer Sto¨rungen steigen in Deutschland an (Grobe und Do¨rning, 2011). Der Anteil dieser Sto¨rungen an Fru¨hberentungen macht aktuell mit rund 40% die gro¨ßte Diagnosegruppe aus (Statistik der Deutschen Rentenversicherung Bund 2010). Die Ursachen fu¨r den Anstieg psychischer Diagnosen sind ha¨ufig eine Kombination aus perso¨nlichen und beruflichen Belastungen. Unter anderem werden die Anforderungen an Mobilita¨t und Flexibilita¨t der Arbeitnehmer ho¨her, der Arbeitsprozess verdichtet sich, wa¨hrend die Unsicherheit in Bezug auf Arbeitsplatz und Karriereplanung zunimmt (Melchior et al., 2007 und Rau et al., 2010). Vor diesem Hintergrund gewinnt die Vorbeugung stressassoziierter Gesundheitsscha¨den zunehmend an Bedeutung. Stressmanagementtrainings im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsfo¨rderung haben in kleinen, zeitlich sehr umschriebenen und kurzfristig evaluierten Interventionsstudien erste Erfolge gezeigt. Aussagen u¨ber psychische Langzeiteffekte fehlen aber, wie auch Daten zu physiologischen Effekten. Deshalb wurde eine Mitarbeiterschulung nach Siegrist und Silberhorn (1998), die auf dem Gratifikationskrisenmodell basiert, zielgruppenspezifisch weiterentwickelt und im Rahmen eines randomisierten Wartekontrolldesigns im Ein-JahresFollow-up evaluiert. Ziel der Studie war es, bei produktionsnahen Fu¨hrungskra¨ften im Setting eines metallverarbeitenden Industriebetriebes (DAX-30 Unternehmen) die

Wirkung eines arbeitsplatzbezogenen gruppenbasierten Stressbewa¨ltigungstrainings auf Stressreaktivita¨t, psychische Gesundheit, somatische Stresskorrelate und kardiovaskula¨res Risikoprofil zu untersuchen. Von 262 potenziellen Teilnehmern meldeten sich 189 Personen an, 174 Personen (66% der angesprochenen Zielgruppe) konnten in die randomisierte Interventionsstudie im Wartekontrollgruppendesign eingeschlossen werden. Die Zuordnung zur Interventionsgruppe erfolgte anhand einer computergenerierten Zufallsliste. Dem Studienarzt wurden sequenziell nummerierte, blickdichtverschlossene Kuverts ausgeha¨ndigt, in denen ein Randomisierungszettel enthalten ist. Die Intervention bestand aus einem 2-ta¨gigen Stressbewa¨ltigungstraining (8 Doppelstunden) mit zwei halbta¨gigen Folgetreffen nach ca. 4 und 8 Monaten und wurde in Gruppen zu 8-10 Teilnehmern durchgefu¨hrt. Das Training wurde in einer Reihe von Pilotschulungen spezifisch auf die Bedu¨rfnisse der Zielgruppe und den betrieblichen Rahmen angepasst. Inhaltliche Schwerpunkte/Lernziele sind: 1. Verbesserte Wahrnehmung ko¨rperlicher Anspannung 2. Identifizierung und Analyse stress auslo¨sender Situationen anhand eines verhaltensmedizinischen Modells 3. Vermittlung und Einu¨bung individuell passender Selbstmanagement-Techniken

Daru¨ber hinaus fo¨rdert die Intervention die Fa¨higkeit zwischenmenschlichen Ru¨ckhalt zu suchen und zu geben, sowie den Umgang mit Empathie ¨ rger und dessen und Gefu¨hlen, v.a. A Regulation. Zur Ergebnisevaluation wurde zu Beginn und nach einem Jahr jeweils ein Gesundheits-Check mit Erhebung psychometrischer und biologischer Daten durchgefu¨hrt. Hauptzielparameter war die Stress-Reaktivita¨tsSkala (SRS) nach Schulz (2005). Die Ergebnisse wurden den Teilnehmern mitgeteilt. 174 Mitarbeiter (171 Ma¨nner, 3 Frauen, Alter 40,9  7,8 Jahren) wurden in die Studie eingeschlossen, 154 (89%) nahmen an der Kontrolluntersuchung nach einem Jahr teil. Die Interventionsgruppe (IG) bestand zum Ein-Jahres-Follow-up aus 75 Teilnehmern, die Warte-Kontrollgruppe (KG) aus 79 Personen. Die Datenauswertung nach einem Jahr zeigte eine signifikante Reduktion der Stressreaktivita¨t (SRS) in der Interventionsgruppe (F = 5.932; p = 0.016). Die a-Amylase im Speichel als Marker der basalen Sympathikusaktivita¨t nahm in der Interventionsgruppe sta¨rker ab (AUC Tag und Anstieg im Tagesverlauf) und erreichte nahezu Signifikanz. Auch bei weiteren sekunda¨ren Zielparametern waren positive Effekte zu beobachten (Depression, Angst, chronischer Stress, Effort-Reward-Imbalance), die umso ausgepra¨gter ausfielen, je deutlicher sich die Stressreaktivita¨t vera¨nderte. Die Gesundheits-Checks offenbarten ein hohes pra¨ventives Potenzial

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hinsichtlich kardiovaskula¨rer Risikofaktoren: 26% der Teilnehmer waren adipo¨s (BMI  30), 30% Raucher, 19% hatten erho¨hte Blutdruckwerte und 36% gaben an, sich weniger als eine Stunde/Woche sportlich zu beta¨tigen. Nach einem Jahr zeigten sich in der Gesamtgruppe messbare positive Effekte auf Gesundheitsverhalten (Sport, Rauchen) und kardiovaskula¨re Risikofaktoren (HDL-Cholesterin, Blutdruck). Diese randomisiert-kontrollierte Studie untersuchte die Langzeitwirkung einer spezifischen, zweita¨gigen Intervention sowie zweier Booster-Sitzungen zur Stressbewa¨ltigung am Arbeitsplatz ausgehend vom Gratifikationskrisenmodell (Siegrist, 1996). In der Interventionsgruppe zeigte sich nach einem Jahr im Vergleich zur Kontrollgruppe eine signifikante Abnahme der Stressreaktivita¨t. Zu beachten ist, dass industrielle Betriebe sich stetig und kurzfristig vera¨ndern, um wettbewerbsfa¨hig zu bleiben. Umstrukturierungen, Arbeitsverdichtungen u.a¨. fu¨hren neben einer Erho¨hung der Produktivita¨t zu vermehrter Belastung der Mitarbeiter. Langzeitstudien, die in diesem Umfeld durchgefu¨hrt werden, sind dadurch mit sich ha¨ufig a¨ndernden Bedingungen konfrontiert (Theorell und Karasek, 1996). Das Unternehmen, in dem die vorliegende Studie durchgefu¨hrt wurde, erho¨hte im Zeitraum der Studie die Produktivita¨t um ca. 16% pro Jahr. Es erscheint mo¨glich, dass

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ohne die betrieblichen Vera¨nderungen die Effekte der Intervention noch ausgepra¨gter ausgefallen wa¨ren. Im Ergebnis steht fest, dass es mit der vorgestellten Interventionsstudie gelungen ist, einen relevanten Anteil einer risikobelasteten Zielgruppe zu erreichen (berufsta¨tige Ma¨nner mittleren Alters), die i.d.R. als schwer zuga¨nglich gilt. Durch das Design einer randomisierten, kontrollierten Studie konnte die Effektivita¨t des Stressbewa¨ltigungstrainings belegt werden. Die wiederholten Gesundheits-Checks mit Lebensstilberatung wirkten sich in der Gesamtgruppe nachhaltig positiv auf das kardiovaskula¨re Risiko aus. Im Sinne der Nachhaltigkeit werden wir die Effekte auch im Zwei-Jahres Follow-up untersuchen. Neben der Verbesserung individueller Fa¨higkeiten im Umgang mit (beruflichem) Stress waren das wachsende gegenseitige Versta¨ndnis und der gesta¨rkte Zusammenhalt in den Gruppen ein zu beobachtender Wirkmechanismus. Einflussgro¨ßen fu¨r die hohe Akzeptanz des Programms im Betrieb zeigten sich in der Niedrigschwelligkeit des Angebots, das kostenfrei in der Arbeitszeit stattfand. Die personelle Konstanz erfahrener Studiena¨rzte und -psychologen hat u.E. erheblich zu Effekt und Teilnahmetreue beigetragen. Wesentliche Erfolgsfaktoren fu¨r die langfristige Umsetzung des Projekts im Betrieb waren u.a. die

Kommunikation und Vernetzung mit den beteiligten Gruppen (Werksleitung, Personalentwicklung, Gesundheitsdienst, Meisterverein). Das betriebliche Setting und die Fokussierung auf berufliche Stressfaktoren und deren Bewa¨ltigung ermo¨glichten u¨ber die individuellen Effekte hinaus Ru¨ckschlu¨sse auf Handlungsbedarf hinsichtlich struktureller bzw. organisatorischer Vera¨nderungen wie auch betrieblicher Angebote der Gesundheitsfo¨rderung. Als erwu¨nschter Nebeneffekt wurden Maßnahmen zur Reduktion der Fu¨hrungsspanne (d.h. der Anzahl von Mitarbeitern pro Fu¨hrungskraft) der Zielgruppe eingeleitet, fla¨chendeckende Schulungen zu gesundheitsorientierter Fu¨hrung eingefu¨hrt und in Pilotbereichen eine psychische Gefa¨hrdungs- und Belastungsanalyse mit anschließenden Gesundheitszirkeln begonnen. Der korrespondierende Autor erkla¨rt, dass kein Interessenkonflikt vorliegt. Literatur siehe Literatur zum Schwerpunktthema. www.elsevier.de/phf-literatur doi:10.1016/j.phf.2011.06.011

Prof. Dr. Harald Gu¨ndel Klinik fu¨r Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universita¨t Ulm Am Hochstra¨ss 8 89081 Ulm [email protected]

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Einleitung Chronischer Stress am Arbeitsplatz erho¨ht das Risiko gravierender Gesundheitssto¨rungen. Nach Implementierung eines speziellen Stressbewa¨ltigungstrainings in einem Betrieb wurde der Langzeiteffekt untersucht. 174 Teilnehmer, randomisiert in Interventions- (IG) oder Warte-Kontrollgruppe (KG), nahmen teil. Eine zweifaktorielle Varianzanalyse belegte signifikant bessere Effekte bzgl. Stressreaktivita¨t in der IG. a-Amylase, als Marker fu¨r die Sympathikusaktivierung, nahm in der IG sta¨rker ab. Die Stressmanagement-Intervention erwies sich 1 Jahr nach Beginn der Intervention als wirksam. Schlu¨sselwo¨rter: Stress = Stress, Stressbewa¨ltigungstraining = stress management intervention, Arbeitsplatz = workplace, Amylase = Amylase, Depression = Depression

Literaturverzeichnis Grobe T, Do¨rning H. (Institut fu¨r Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung) Gesundheitsreport 2011. Herausgegeben von der Techniker Krankenkasse, Hamburg, 2011. Melchior M, Caspi A, Milne B, Danese A, Poulton R, Moffitt T. Work stress precipitates depression and anxiety in young, working women and men. Psychol Med 2007;37:1119–29.

Rau R, Gebele N, Morling K, Ro¨sler U. Untersuchung arbeitsbedingter Ursachen fu¨r das Auftreten von depressiven Sto¨rungen. 1. Auflage Dortmund: Bundesanstalt fu¨r Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin; 2010. Siegrist J. Adverse health effects of high-effort/ low-reward conditions. J Occup Health Psychol 1996;1:27–41. Siegrist K, Silberhorn T. Streßabbau in Organisationen. Ein Manual zum Streßmanagement. Mu¨nster: LIT-Verlag; 1998.

Statistik der Deutschen Rentenversicherung Bund – Rentenversicherung in Zeitreihen 2010-3 Rentenzugang nach ausgewa¨hlten Diagnosegruppen S. 88 (online). Berlin, abrufbar unter http://forschung.deutsche-rentenversicherung. de (Stichwortsuche: Statistik-Rentenzuga¨ngeDiagnose) Abrufdatum 27.03.2011. Theorell T, Karasek RA. Current issues relating to psychosocial job strain and cardiovascular disease research. J Occup Health Psychol 1996;1:9e26.

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