ARTICLE IN PRESS
www.elsevier.de/zaefq Z.a¨rztl. Fortbild. Qual. Gesundh.wes. (ZaeFQ) 101 (2007) 117–118
Schwerpunkt
Zusammenfassung der Diskussion zu Konsens in Leitlinien$ Frank Thalau Institut fu¨r Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitso¨konomie, Charite´-Universita¨tsmedizin Berlin
Im Anschluss an die Beitra¨ge von Ko¨bberling, Kopp und Lelgemann (Seiten 85, 89 und 97 in diesem Heft) fand eine Diskussion des Themas Konsens in Leitlinien’’ statt, an der ’’sich die Zuho¨rer im Auditorium und die Vortragenden rege beteiligten. Die Moderation u¨bernahm Prof. Neugebauer (Witten). Zwei Aspekte wurden dabei eingehender beleuchtet. Zum einen ging es um die Rolle und die Tauglichkeit von Konsensprozessen angesichts unzureichender oder widerspru¨chlicher Evidenz. Zum anderen drehte es sich um die Wu¨nsche und Vorstellungen der Patienten und wie diese in angemessener Weise bei der Leitlinienentwicklung Beru¨cksichtigung finden ko¨nnen.
Konsens kann Evidenz nicht ersetzen Unter den Diskutanten bestand Einigkeit darin, dass Konsens in Leitlinien kein Ersatz fu¨r Evidenz sein kann. Prof. Abholz (Du¨sseldorf) pla¨dierte eingangs dafu¨r, dass bei der Entwicklung von Leitlinien die Evidenz unbedingt anhand der Original-Literatur bewertet
werden mu¨sse. Die Bedingungen fu¨r diese aufwendige Arbeit haben sich nach Ansicht von Prof. Neugebauer (Witten) hierzulande in den letzten Jahren z. B. durch Zentrenbildung und gezielte Fo¨rderung der Allgemeinmedizin bereits erheblich verbessert. Die Aussagekraft von Studien wird in der Evidenz-basierten Medizin anhand der so genannten Hierarchie der Evi’’ denz’’ eingeteilt, wobei ihre methodische Wertigkeit vor allem in Bezug auf das Risiko einer systematischen Verzerrungen beru¨cksichtigt wird. Diese Abstufung sollte sich nach Auffassung von PD Dr. Richter (Du¨sseldorf) auch bei der Formulierung von Leitlinienempfehlungen ausdru¨cken. Dabei sollten nur patientenrelevante Endpunkte beru¨cksichtigt und die Vermischung verschiedener Evidenzaspekte innerhalb einer Empfehlung vermieden werden. Einer Graduierung mittels Konsenstechniken steht er kritisch gegenu¨ber. Ein oft beklagter Mangel der bestehenden Evidenzhierarchie liegt darin, dass qualitative Studien darin bisher nicht
abgebildet werden. Dieses Problem muss angegangen werden, meint Prof. Raspe (Lu¨beck) und weist darauf hin, dass es entsprechende Methoden und Techniken durchaus gibt. Zum Umgang mit so genannten Evi’’ denzlo¨chern’’ gibt es unterschiedliche Erfahrungen. Prof. Ollenschla¨ger (Berlin) berichtet, dass in einer Patientenleitlinie zum Thema Asthma Punkte aufgeworfen wurden, die aus Sicht der Evidenz-basierten Medizin in einer Art Grauzone’’ liegen, weil dazu bisher ’’keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse vorliegen. Dennoch bestand o¨ffentlicher Druck, zu solchen Fragen Stellung zu nehmen. Prof. Ko¨bberling (Wuppertal) schla¨gt vor, in solchen Fa¨llen ehrlich zu sagen wissen wir ’’ Medizin nicht’’. Die Evidenz-basierte hat den Konsens in der Wissenschaft zu Recht in Frage gestellt. Es besteht die Gefahr, dass einige in der Leitlinienentwicklung praktizierte Verfahren den wissenschaftlichen Konsens erneut salonfa¨hig’’ machen ko¨nnten. Das Mit’’tel, dieser Gefahr zu begegnen lautet fu¨r Frau PD Dr. Kopp (Marburg) und Dr. Antes (Freiburg) Transparenz ’’
$ Zusammenfassung der Diskussion der Session Konsens in Leitlinien’’ im Rahmen der 7. Jahrestagung des Deutschen Netzwerkes Evidenzbasierte Medizin’’ am 8. Ma¨rz ’’ 2006 in Bochum.
Z.a¨rztl. Fortbild. Qual. Gesundh.wes. (ZaeFQ) doi:10.1016/j.zgesun.2007.01.006
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ARTICLE IN PRESS und methodische Klarheit’’. Nach ihrer Ansicht kann das Aufzeigen von Forschungsbedarf in diesem Zusammenhang sogar zu sozialem Handlungszwang beitragen. Konsens ist also kein tauglicher Lo¨sungsansatz, wenn es an klarer Evidenz mangelt. Die Vorgehensweise bei Gerichtsverfahren bo¨te sich stattdessen fu¨r Dr. Wulf (Herrenberg) viel eher zur Entscheidungsfindung an, denn dort wird nach Abwa¨gen von pro’’ und contra’’ ein Urteil gefa¨llt, das’’ sich ’’ vorrangig an der Qualita¨t der Belege orientiert.
Patientenpra¨ferenzen sollten direkt und fru¨hzeitig ermittelt werden Einen breiten Raum nahm das Thema Patientenwu¨nsche’’ ein und wie diese ’’ ermitteln und bei Konsensverfahren zu im Rahmen der Leitlinienentwicklung zu beru¨cksichtigen sind. Der beste Weg liegt – nach mehrheitlichem Votum – in der direkten Beteiligung von Patientenvertretern bei der Entwicklung von Leitlinien. Auch wenn im Einzelfall nicht sichergestellt werden kann, dass die Vertreter repra¨sentativ sind, ist diesem Verfahren immer noch der Vorzug zu geben anstatt Spekulationen u¨ber die Patientenpra¨ferenzen
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anzustellen. Ebenso wie fu¨r alle anderen im Konsensverfahren stimmberechtigten Mitglieder einer Leitliniengruppe sollte allerdings auch fu¨r die Patientenvertreter eine Darlegung mo¨glicher Interessenkonflikte verbindlich sein. Fu¨r Frau Dr. Sa¨nger (Berlin) sollte der Zeitpunkt der Beteiligung mo¨glichst fru¨h im Entwicklungsverfahren erfolgen und nicht erst nachdem schon die Empfehlungen formuliert wurden. Damit wird deutlich, dass es sich um eine echte inhaltliche Beteiligung handelt und die Patientenvertreter nicht als Feigenblatt’’ missbraucht werden. ’’Wie die Praxis gezeigt hat, ko¨nnen Patientenvertreter einen ganz eigensta¨ndigen Beitrag leisten und nach den Erfahrungen von Herrn Weingart (Ko¨ln) fu¨hrt ihre fru¨hzeitige Einbeziehung zu breiter angelegten Evidenzrecherchen und vermehrter Beru¨cksichtigung relevanter Themen wie z.B. Lebensqualita¨t. Patientenvertreter, die an solchen Verfahren teilnehmen, sollten jedoch speziell fu¨r die Mitarbeit in Leitliniengruppen geschult werden, auch in Bezug auf die dortigen Konsensverfahren. Dass sich die Fragen und Themen, die von Seiten der Patientenvertreter angesprochen werden, deutlich von denen der A¨rzte unterscheiden, entspricht auch den Erfahrungen von Frau Dr. Brockmann (Du¨sseldorf). Zur Illustration berichtete sie vom Leitlinienprojekt der Deutschen Gesellschaft fu¨r Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) zum Kreuzschmerz’’. Die Expertenentwu¨rfe’’ waren eher aktionis’’
tisch’’ und gepra¨gt vom intuitiven Wunsch der A¨rzte zu handeln. Diese Handlungskultur bei A¨rzten kann komplexe Einflu¨sse auf die Arzt-Patient-Beziehung ausu¨ben. Wie symbolisches Handeln’’ bei man’’ oder widerspru¨chlicher Evidenz gelnder zu beurteilen ist, bleibt im Auditorium umstritten. Aus dem Blickwinkel von Hausa¨rzten besteht seitens der Patienten eine positive Erwartungshaltung, die Nichtstun zum echten Problem macht. Im Gegenzug warnt Prof. Ko¨bberling (Wuppertal) davor, den Patientenwunsch so aufzufassen, dass Handlung immer eine Art der Zuwendung sei und sich stattdessen kritisch zu fragen, ob es sich im Einzelfall nicht um eine reine Sekunda¨rbegru¨ndung’’ ’’ Dieses Problem la¨sst handeln ko¨nnte. sich auch auf Konsensentscheidungen in Leitliniengruppen u¨bertragen, denn die dortigen Verfahren bieten keinen Schutz vor Verzerrungen aufgrund eines gemeinsamen Gruppen-Bias’’ ’’ oder gemeinsamer Sekunda¨rinteressen.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Frank Thalau MPH MSc - wissenschaftlicher Mitarbeiter Charite´—Universita¨tsmedizin Berlin Institut fu¨r Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitso¨konomie Luisenstr. 57 10117 Berlin Telefon+49 (0) 30 450 529 005 Frax +49 (0) 30 450 529 902 E-Mail
[email protected] Internet: www.charite.de/epidemiologie/german/index.htm
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