Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) 121 (2017) 14–20
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Versorgungsforschung / Health Services Research
Arzneimitteltherapiesicherheit bei Pflegeheimbewohnern mit eingeschränkter Nierenfunktion - Ergebnisse einer qualitativen Studie Medication safety in nursing home residents with renal insufficiency – Results of a qualitative study Guido Schmiemann a,c,∗ , Anne Dehlfing a,c , Alexandra Pulst a,c , Falk Hoffmann b a
Abteilung Versorgungsforschung, Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP), Universität Bremen, Bremen, Deutschland Department für Versorgungsforschung, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaft, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Oldenburg, Deutschland c Health Sciences Bremen, Universität Bremen, Deutschland b
a r t i k e l
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Artikel-Historie: Eingegangen: 13. Oktober 2016 Revision eingegangen: 8. Januar 2017 Akzeptiert: 26. Februar 2017 ¨ 2017 Online gestellt: 24. Marz
Schlüsselwörter: Medikamentensicherheit Pflegeheim Niereninsuffizienz Polypharmazie
a r t i c l e
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Article History: Received: 13 October 2016 Received in revised form: 8 January 2017 Accepted: 26 February 2017 Available online: 24 March 2017
Keywords: medication safety nursing home renal insufficiency polypharmacy
z u s a m m e n f a s s u n g Einleitung: Pflegeheimbewohner sind oft von Multimorbidität und Polypharmazie betroffen. Eine eingeschränkte Nierenfunktion sowie fehlende Dosisanpassungen erhöhen das Risiko von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) weiter. Die Ursachen einer inadäquaten Arzneimitteltherapie sowie geeignete Interventionsmöglichkeiten zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) bei Pflegeheimbewohnern mit chronischer Niereninsuffizienz werden in dieser qualitativen Studie untersucht. Methoden: In einem Mixed-Method-Ansatz wurden neben einer multizentrischen Querschnittsstudie Fokusgruppen mit Hausärzten, Pflegekräften, Nephrologen und Apothekern durchgeführt. Die Fokusgruppen wurden transkribiert, inhaltsanalytisch ausgewertet und durch die Teilnehmer validiert. Ergebnisse und Diskussion: In den Fokusgruppen wurden unterschiedliche Ursachen und Interventionsmöglichkeiten in Bezug auf eine inadäquate Arzneimitteltherapie von Pflegeheimbewohnern mit Niereninsuffizienz diskutiert. Die genannten Aspekte konnten den Oberkategorien ,,Versorgungssituation‘‘, ,,Ursachen für unerwünschte Arzneimittelwirkungen‘‘ und ,,Interventionen‘‘ zugeordnet werden. In Bezug auf die aktuelle Versorgungssituation wurde neben der Infrastruktur, dem Einfluss einer Multimedikation und der Erfassung der Nierenfunktion auch das Rollenverständnis der Beteiligten als wesentlicher Aspekt in Bezug auf die Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit genannt. Aus Sicht der Beteiligten fehlen beispielsweise evidenzbasierte Standards zur Durchführung von Laborkontrollen oder zur Bestimmung der Nierenfunktion.
a b s t r a c t Background: Nursing home residents often suffer from multimorbidity and polypharmacy. Impaired renal function and the lack of dose adjustments further increase the risk of adverse drug reactions (ADR). The aims of this qualitative study were to analyze the reasons for inadequate drug treatment and to identify possible intervention options to improve safety of drug treatment in nursing home residents with renal insufficiency. Methods: Using a mixed-method approach a cross-sectional study and focus group discussions were performed in the project. Focus groups with general practitioners, nursing staff, nephrologists and pharmacists were held. Audiotapes were transcribed verbatim, qualitative content analysis of the transcripts according to Mayring was conducted using MAXQDA. Results and conclusions: Focus groups discussed different aspects and possible interventions related to inadequate drug treatment in nursing home residents with renal insufficiency. The main topics identified were ‘‘health service situation’’, ‘‘reasons for ADR’’ and ‘‘interventions’’. Regarding the current health
∗ Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Guido Schmiemann, MPH, Abteilung Versorgungsforschung, Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP), Universität Bremen, Grazer Str. 4, 28359 Bremen. E-mail:
[email protected] (G. Schmiemann). http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2017.02.003 1865-9217/
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service situation ‘‘infrastructure’’, ‘‘role of polypharmacy’’, ‘‘assessment of renal function’’ and the ‘‘different role models’’ were identified as relevant aspects for improving the safety of drug treatment in nursing homes. According to the participants, there is a lack of evidence-based standards regarding laboratory monitoring and estimation of kidney function.
Einleitung Aufgrund ihres Alters, einer begleitenden Multimorbidität und daraus resultierenden Multimedikation haben Pflegeheimbewohner1 ein im Vergleich zur übrigen Bevölkerung erhöhtes Risiko, unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) zu erleiden. Für Deutschland wird eine 30-Tagesinzidenz von fast 8 UAW pro 100 Heimbewohnermonaten beschrieben [1]. Da die Nierenfunktion mit dem Alter abnimmt [2,3], gleichzeitig aber etwa 50% aller Medikamente bzw. deren Metabolite renal eliminiert werden [4], steigt das Risiko einer inadäquaten Pharmakotherapie bei Vorhandensein einer Nierenfunktionsstörung weiter an. Schwere unerwünschte Arzneimittelwirkungen, die zu Krankenhauseinweisungen oder sogar zum Tod führen, können die Folge sein [5]. Die Mehrzahl dieser Ereignisse bei Pflegeheimbewohnern wird jedoch als potentiell vermeidbar bzw. reduzierbar eingestuft [1,6]. Bei Patienten mit Niereninsuffizienz sind fehlende Dosisanpassungen bzw. der Einsatz von Medikamenten, die bei der vorliegenden Nierenfunktion kontraindiziert sind, von besonderer Bedeutung [7,8]. Die wenigen vorliegenden internationalen Studien aus dem Setting Pflegeheim zeigen, dass 12-29% der Bewohner mindestens ein Medikament erhalten, das nicht adäquat dosiert wurde [9,10]. Die Fehlerursachen sind meist multifaktoriell, die interprofessionelle Kommunikation spielt sowohl als Fehlerursache wie auch als Lösungsmöglichkeit eine entscheidende Rolle für die Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS). Die explizite Bedeutung der Nierenfunktionsschwäche bei der Verbesserung der AMTS wurde in den bisher durchgeführten Untersuchungen jedoch allenfalls am Rande erfasst [1,11]. Im Rahmen der Studie ,,Inappropriate medication in patients with renal insufficiency in nursing homes‘‘ (IMREN) konnten wir zeigen, dass 48,2% der Bewohner aus den 21 eingeschlossenen norddeutschen Pflegeheimen eine mittelgradige (eCCr 59–30 mL/min) und 15,5% eine schwere Niereninsuffizienz aufwiesen (eCCr < 30 mL/min). Insgesamt ein Fünftel der Bewohner erhielt mindestens eine Dauermedikation, die bei der vorliegenden Nierenfunktion nicht adäquat dosiert oder kontraindiziert war [3]. Ziel dieses Artikels ist es, die Ergebnisse des qualitativen Teils der IMREN-Studie darzustellen. In einem explorativen Vorgehen haben wir dazu in Fokusgruppen Ursachen einer inadäquaten Pharmakotherapie und Interventionsmöglichkeiten zur Verbesserung der AMTS bei Pflegeheimbewohnern mit eingeschränkter Nierenfunktion ermittelt.
bereits an andere Stelle publiziert [3,12,13]. In diesem Artikel wird ausschließlich der qualitative Teil dieses Projektes dargestellt. Fokusgruppen sind ein etabliertes Instrument, um die Erfahrungen spezifischer Zielgruppen zu einem konkreten Thema zu erfragen und möglichst viele Facetten dieses Themas zur Sprache zu bringen [14]. Eine Stärke der Methode liegt in der Exploration von Hypothesen. Aus diesem Grund wurden Fokusgruppen gewählt, um Antworten für folgende Fragen zu generieren: 1) Was sind aus Sicht der beteiligten Berufsgruppen Ursachen einer inadäquaten Arzneimitteltherapie? und 2) Welche Interventionsmöglichkeiten sehen die beteiligten Berufsgruppen zur Verbesserung der AMTS bei Pflegeheimbewohnern mit Niereninsuffizienz? Durch die Wahl des fokussierten Diskussionsthemas erwarteten wir bereits nach zwei Fokusgruppen eine theoretische Sättigung. Über die Realisierung weiterer Fokusgruppen sollte anschließend entschieden werden. Zusammensetzung der Fokusgruppen Die Verordnung, Gabe und Überwachung der medikamentösen Therapie ist ein interdisziplinärer Prozess, an dem verschiedene Berufsgruppen beteiligt sind. Auch in der Zusammensetzung der Fokusgruppen wollten wir die dabei zentralen Berufsgruppen abbilden. In Pflegeheimen ist es tägliche Routine des Hausarztes (Folge)Rezepte auszustellen und des Pflegepersonals, die Medikamente an die Bewohner auszugeben sowie die Therapie zu überwachen. Viele Pflegeheime arbeiten mit einer sog. Hausapotheke zusammen, die die Medikamente liefert. Weiterhin sollten Nephrologen als Experten für Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion in die Fokusgruppen eingeschlossen werden. Es wurden zwei Fokusgruppen mit jeweils fünf bzw. sechs Teilnehmern durchgeführt. Sie waren interdisziplinär zusammengesetzt (jeweils zwei Pflegekräfte, ein bzw. zwei Hausärzte, ein Nephrologe, ein Apotheker), um auch im Alltag bestehende interdisziplinäre Prozesse abbilden zu können. Die Einladung zur Fokusgruppe erfolgte im Schneeballsystem nach persönlicher Ansprache durch die Autoren, Einschlusskriterium war eine langjährige Berufserfahrung in der Versorgung von Pflegeheimbewohnern. Die Teilnehmer kamen aus Bremen und dem niedersächsischen Umland. Die Teilnahme an den Fokusgruppen erfolgte nach vorheriger schriftlicher Einverständniserklärung. Alle Teilnehmer erhielten eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 50 Euro. Durchführung der Fokusgruppen
Material und Methoden Im Sinne eines Mixed-Methods-Ansatzes wurden in dem Projekt ,,Inappropriate medication in patients with renal insufficiency in nursing homes‘‘ (IMREN) eine multizentrische Querschnittstudie und Fokusgruppen kombiniert. Die Ergebnisse der Querschnittstudie zur Prävalenz der eingeschränkten Nierenfunktion bei Pflegeheimbewohnern und der daran angepassten Medikation sind
1 Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit nutzen wir im folgenden Text die männliche Form, gemeint sind jeweils beide Geschlechter.
Die Fokusgruppen fanden im November 2014 im Konferenzraum eines Krankenhauses statt. Die Fokusgruppengespräche dauerten 90 bzw. 105 Minuten und wurden von zwei Autorinnen moderiert/begleitet (AD, AP). Die Moderation erfolgte auf der Basis eines detaillierten Themenleitfadens. Der Leitfaden diente entsprechend einer explorativen, qualitativen Gesprächsführung als flexibel handhabbarer Themenrahmen. Er stellte sicher, dass die im Vorfeld hypothesengeleitet erstellten Forschungsfragen in der Fokusgruppendiskussion abgebildet wurden. In den Fokusgruppen wurden zunächst Zweck und Ablauf der Fokusgruppen dargelegt. Nach der Vorstellungsrunde der Teilnehmer wurde das Projekt IMREN sowie erste Ergebnisse vorgestellt.
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Als thematischen Einstieg in die Fokusgruppen wurden drei Thesen präsentiert: • Die Prävalenz einer chronischen Niereninsuffizienz und die häufig bestehende Polypharmazie begünstigen das Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen bei Pflegeheimbewohnern. • Die häufigsten Ursachen einer inadäquaten Pharmakotherapie sind: Zu hohe Dosierungen, zu kurze Dosierungsintervalle, mangelnde Adhärenz und fehlendes Therapie-Monitoring. • Maßnahmen, um eine hinsichtlich der Nierenfunktion angepasste Medikation zu realisieren, sind nur durch Mitwirkung aller beteiligten Berufsgruppen wirksam umzusetzen. Vor dem Einstieg in die Gruppendiskussion wurden die Teilnehmer gebeten, auf Moderationskarten Notizen zu diesen Thesen zu machen. Folgende Fragen wurden als Denkanreize gestellt: • • • •
Welche Erfahrungen haben Sie bereits gemacht? Haben Sie aus Ihrem Alltag noch Ergänzungen? Wie sehen Sie das vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrung? Welche Möglichkeiten hätten Sie sich in dem Fall gewünscht, wie man das hätte verhindern können oder im Nachhinein verändern können? • Was glauben Sie, könnte Ihre Berufsgruppe zu einer Verbesserung beitragen? • Was können aus Ihrer Sicht die anderen Berufsgruppen dazu beitragen? Was wünschen Sie sich von den anderen Berufsgruppen? Im Folgenden tauschten sich die Fokusgruppenteilnehmer in einer moderierten Diskussion zu den von ihnen notierten Punkten aus. Die ausgefüllten Moderationskarten wurden thematisch gegliedert für alle sichtbar an einer Pinnwand befestigt. Dadurch wurden Inhalte bereits im Diskussionsverlauf dokumentiert und es wird durch die Anzahl der Moderationskarten sichtbar, welche Punkte besonders häufig genannt wurden. Durch Nachfragen oder Ergänzungen der Teilnehmer zu genannten Punkten ergab sich dabei eine intensive Diskussion. Während der Diskussion aufkommende neue Punkte ergänzten die bereits auf der Pinnwand vorhandenen und lieferten weitere Diskussionsanreize. Dokumentation und Auswertung Die Gruppendiskussionen wurden mit Einverständnis der Teilnehmenden auf Tonband aufgezeichnet und anonymisiert transkribiert. Die Transkripte wurden inhaltsanalytisch in Anlehnung an die Methode nach Mayring ausgewertet [15]. Die Inhaltsanalyse und die Erstellung von Themenclustern wurden durch die Moderatoren mittels Gruppierung und Strukturierung des Datenmaterials durchgeführt und mithilfe der Software MAXQDA realisiert (Version 11.1.1). Sie basieren auf den zu Grunde liegenden Fragestellungen: • Welche Ursachen benennen die Fokusgruppenteilnehmenden für eine inadäquate Pharmakotherapie bei Pflegeheimbewohnern mit chronischer Niereninsuffizienz? • Welche Interventionsmöglichkeiten benennen die Fokusgruppenteilnehmenden zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit bei Pflegeheimbewohnern mit chronischer Nierenschwäche? Es wurden aus Kenntnis des Forschungsstandes und der Diskussion innerhalb der Autorengruppe deduktiv drei Oberkategorien zur Strukturierung der Auswertung formuliert. Diese sind:
• Ursachen: In dieser Kategorie werden Aussagen zusammengefasst, die als Gründe für eine inadäquate Arzneimitteltherapie bei Pflegeheimbewohnern benannt werden. • Bekannte Interventionsmöglichkeiten: In dieser Kategorie werden Aussagen zusammengefasst, die bekannte Strategien zur Verbesserung der AMTS bei Pflegeheimbewohnern mit Nierenschwäche benennen. • Innovative Interventionsmöglichkeiten: In dieser Kategorie werden Aussagen zusammengefasst, die wünschenswerte Strategien zur Verbesserung der AMTS bei Pflegeheimbewohnern mit Niereninsuffizienz benennen. Während des Auswertungsprozesses wurden induktiv weitere Kategorien ergänzt. Die Identifikation der Ursachen und Interventionsmöglichkeiten sowie die Zuordnung zu den Kategorien bzw. die Bildung neuer Kategorien erfolgte dabei unabhängig von zwei Autoren (AD, GS). Unterschiede wurden unter Hinzuziehung des Transkriptes konsentiert. Durch Interpretation, Abstraktion und Verdichtung der einzelnen Aussagen wurden Subkategorien herausgearbeitet. Die beiden Fokusgruppen wurden nacheinander ausgewertet. Das entwickelte Kategoriensystem wurde durch die Fokusgruppenteilnehmenden validiert. Sie wurden schriftlich gebeten zu prüfen, ob: 1) alle Themen der Fokusgruppe in den Kategorien abgedeckt sind, 2) die Beschreibungen/ Definitionen der Kategorien für sie passend sind und 3) sie weitere Kategorien ergänzen möchten. Die Studie wurde durch die Ethikkommission der Universität Bremen geprüft und befürwortet.
Ergebnisse In den Fokusgruppen wurden eine Vielzahl von Ursachen und Interventionsmöglichkeiten in Bezug auf eine inadäquate Pharmakotherapie von Pflegeheimbewohnern mit Niereninsuffizienz diskutiert. Dabei zeigte sich, dass alle Teilnehmenden schon Erfahrung damit hatten. Aus der Auswertung der ersten Fokusgruppe ergaben sich drei Oberkategorien, welche die vorab deduktiv generierten Oberkategorien ersetzten. Die Auswertung der zweiten Fokusgruppe ergab keine weiteren Kategorien. Die aus der Analyse der Fokusgruppen entwickelten und im folgenden Text näher beschriebenen Kategorien sind in den Tabellen 1–3 dargestellt sowie mit Beispielen veranschaulicht. In dieser Form (jedoch ohne Ankerzitate) wurde die Auswertung auch durch die Teilnehmer validiert. Für die Validierung konnten 9 der 11 Teilnehmer persönlich kontaktiert werden. Durch die Rückmeldungen kam es zu kleineren sprachlichen Verbesserungen in den Kategorienbeschreibungen, Änderungen der entwickelten oder Aufnahme neuer Kategorien waren nicht erforderlich.
Aktuelle Versorgungssituation Hier werden Aspekte beschrieben, die die Teilnehmenden zur Versorgung von Pflegeheimbewohnern mit Niereninsuffizienz benennen (s. Tabelle 1). Neben der Infrastruktur (z.B. in Form von Interaktionsprogrammen) gehören dazu auch die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten im Medikationsprozess (Rollenverständnis), der Einfluss einer Multimedikation sowie die Versorgungssituation in Bezug auf die Erfassung der Nierenfunktion. Die genaue Beschreibung sowie die zugehörigen Ankerzitate zu den Unterkategorien sind in Tabelle 1 dargestellt. Zusätzlich zum Ankerzitat ist auch die Berufsgruppe des jeweiligen Teilnehmers genannt (NE= Nephrologe, HA= Hausarzt, AP= Apotheker, PF= Pflegekraft).
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Tabelle 1 Unterkategorien und Ankerzitate zur Versorgung von Pflegeheimbewohnern mit Niereninsuffizienz (Oberkategorie: Aktuelle Versorgungsituation). Unterkategorie
Beschreibung
Ankerzitat
Infrastruktur/ technische Unterstützung
Techniken, die zur Unterstützung der Arzneimittelversorgung von Heimbewohnern mit eingeschränkter Nierenfunktion vorhanden sind. Dazu gehören beispielsweise Interaktionsprogramme bei Apothekern und Hausärzten. Eigen- und Fremdwahrnehmung der beteiligten Berufsgruppen sowie ihre Rolle in Bezug auf die Arzneimitteltherapiesicherheit bei Pflegeheimbewohnern mit eingeschränkter Nierenfunktion. Dem Hausarzt wird z.B. eine zentrale Verantwortung für die Versorgung von Pflegeheimbewohnern zugeschrieben.
Sie haben jetzt auch keine Software in der Praxis, wenn Sie zum Beispiel Medikamente ansetzen, die Ihnen sagt, Mensch, aufpassen, GFR ist hier niedrig. Das haben Sie nicht, das gibt es nicht. (FG 1, NE) Nein, aber Überwachungsproblem und dann müssen wir das eigentlich rüber faxen, dass Sie als Arzt/ das ist ja auch dann Aufgabe des Mediziners, zu sagen, okay, da muss ich mal alle halbe Jahr mal nachmessen. Das ist ja nicht mehr unsere Aufgabe, auch den Wert zu, sagen wir mal, zu beurteilen. Das ist ja nicht Aufgabe des Apothekers. Das muss ja der Mediziner machen, nicht. (FG 1, AP) Und sie hat den eher vollständigsten Medikamentenplan, weil sie Dinge einpflegen muss, die irgendein Spezialist noch dazu geschrieben hat, von denen wir nichts wissen. (FG 1, HA)
Rollenverständnis
Kommunikation/Information
Multimedikation
Nierenfunktion
Umfasst Angaben zur Kommunikation der beteiligten Berufsgruppen inklusive Patienten und Angehörigen und des Austauschs von Informationen. Es geht u.a. darum, in welcher Form die interprofessionelle Kommunikation bezüglich der Nierenfunktion und der tatsächlichen Medikamenteneinnahme der Pflegeheimbewohner erfolgt. Einfluss der Verordnung von Medikamenten und der Kontrolle von Multimedikation auf die Nierenfunktion. Beispielsweise werden der hohe Anteil von Pflegeheimbewohnern, die über sechs Medikamente einnehmen und die Schwierigkeiten, dies zu regulieren, dargestellt. Versorgungssituation in Bezug auf die Erfassung und Kontrolle der Nierenfunktion. Z.B. wird auf fehlende Standards bei der Erfassung der Nierenfunktion hingewiesen.
Also ich glaube, das Spektrum ist relativ groß und dann kommt noch, der war jetzt im Krankenhaus, und dann kommt nochmal der nächste Büddel drauf. (FG 1, HA) Aber also weil ich würde sagen, die, die bei mir dann im Heim leben, haben 90 Prozent über sechs Medikamente. Also so, da kommen wir gar nicht drum herum. (FG 1, HA) Also ich würde mal, also gefühlt, meine Heimpatienten kriegen alle sechs Monate ein Labor. (FG 1, HA) Meine nicht. (FG 1, HA)
(FG= Fokusgruppe, HA= Hausarzt, AP= Apotheker, NE= Nephrologe)
Ursachen für unerwünschte Arzneimittelwirkungen
Diskussion
In dieser Oberkategorie wurden die im Alltag erlebten Ursachen für unerwünschte Arzneimittelwirkungen sowie bestehende Barrieren und Herausforderungen bei der Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit zusammengefasst (s. Tabelle 2). Neben der fehlenden Evidenz für eine Verbesserung der AMTS (evidenzbasierte Praxis), spielen eine bestehende Multimedikation sowie die Schwierigkeiten in der Kommunikation bei der Erfassung aller Medikamente (Kommunikation/Information) eine Rolle. Spezifisch für den Umgang mit einer eingeschränkten Nierenfunktion ist das Vorhandensein unterschiedlicher Standards (Messung der Nierenfunktion).
Im Rahmen von zwei Fokusgruppen diskutierten Pflegekräfte, Hausärzte, Apotheker und Nephrologen über Ursachen einer inadäquaten Pharmakotherapie und Interventionsmöglichkeiten zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit bei Pflegeheimbewohnern mit eingeschränkter Nierenfunktion. Bisher vorliegende Studien [9,10] haben die Relevanz der Arzneimitteltherapiesicherheit in dieser besonders vulnerablen Gruppe beschrieben, jedoch bislang keine spezifische Analysen der Ursachen und Lösungsmöglichkeiten aus Sicht der beteiligten Berufsgruppen geliefert. Andere qualitative Studien haben zwar Ursachen einer inadäquaten oder problematischen Medikation bei Heimbewohnern erforscht. Diese Untersuchungen konzentrierten sich jedoch teilweise nur auf einzelne Berufsgruppen wie Hausärzte [16] oder unterschieden sich im Setting (Akutpflegestationen bei [11]). Die Bedeutung einer eingeschränkten Nierenfunktion wurde in diesen Arbeiten nicht als eigenständiger Faktor genannt [16] oder nur am Rande thematisiert [11]. Auch die in Deutschland im Setting Pflegeheim durchgeführten Studien oder Übersichtsarbeiten zur AMTS [1,17] haben die Bedeutung einer eingeschränkten Nierenfunktion nicht explizit untersucht. Die Effekte bislang durchgeführter Interventionsstudien zur Verbesserung der AMTS sind bislang uneinheitlich [18]. Ob eine verstärkte Berücksichtigung der Nierenfunktion dies ändern würde, ist aktuell nicht geklärt. Die in der vorliegenden Arbeit genannten Probleme und Interventionsmöglichkeiten sind keine grundsätzlich neuartigen Aspekte, weil wesentliche Punkte bereits im Kontext der AMTS bei Patienten mit Multimedikation thematisiert wurden [1,18]. Letztlich sind beide Aspekte auch gar nicht voneinander zu trennen, da Pflegeheimbewohner einerseits oft eine Vielzahl an Arzneimitteln bekommen [19]. In unserer Querschnittserhebung des IMREN-Projektes erhielten etwa 70% der Bewohner 5 oder mehr und 16% sogar 10 oder mehr Dauermedikamente [3,12]. Wir konnten andererseits auch zeigen, dass eine solche Multimedikation (5 oder mehr Dauermedikamente) mit einer eingeschränkten Nierenfunktion assoziiert ist, Bewohner mit Niereninsuffizienz also mehr Medikamente bekamen als solche
Interventionen In dieser Oberkategorie sind bekannte und neu identifizierte Interventionen zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit bei Bewohnern mit eingeschränkter Nierenfunktion zusammengefasst. Diese Interventionen sind dabei den bereits identifizierten Unterkategorien zugeordnet (s. Tabelle 3). In dieser Oberkategorie werden konkrete Maßnahmen und damit auch der direkte Bezug zur Versorgungssituation (Tabelle 1) und den Ursachen (Tabelle 2) deutlich. In der Unterkategorie Infrastruktur/technische Unterstützung werden konkrete Änderungswünsche, z.B. in Bezug auf die Praxissoftware, formuliert. In der Unterkategorie Rollenverständnis werden unterschiedliche Vorstellungen der Verantwortlichkeiten in Bezug auf die AMTS zusammengefasst. Maßnahmen zur Verbesserung der Kommunikation/Information zwischen den beteiligten Berufsgruppen inklusive Patienten und Angehörigen könnten einen vollständigeren Informationsaustausch gewährleisten. In der Unterkategorie Multimedikation werden in der Diskussion genannte Maßnahmen zum Umgang mit/zur Reduktion einer Multimedikation gebündelt, in der Kategorie Nierenfunktion werden spezifische Maßnahmen für das Krankheitsbild Niereninsuffizienz zusammengefasst.
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Tabelle 2 Unterkategorien und Ankerzitate zu Ursachen für unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei Pflegeheimbewohnern mit einer Nierenfunktionsschwäche (Oberkategorie: Ursachen für unerwünschte Arzneimittelwirkungen). Unterkategorie
Beschreibung
Ankerzitat
Evidenzbasierte Praxis
Fehlende Evidenz als mögliche Ursache für unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Beispielsweise wird auf die fehlende Evidenz zu den adäquaten Zeitabständen von Laborkontrollen zur Erfassung der Nierenfunktion bei Pflegeheimbewohnern eingegangen.
Multimedikation
Die Gründe für die Entstehung einer Multimedikation sowie der Einfluss der Multimedikation als Ursache für unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Z.B. wird dargestellt, dass Angehörige z.T. auf der Gabe von vielen Medikamenten bestehen.
Kommunikation/Information
Diese Kategorie beschreibt Barrieren in der Kommunikation der beteiligten Berufsgruppen (inklusive Patienten und Angehörigen) als Ursachen für unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Es geht hier z.B. um die Schwierigkeiten beim Abgleich der Medikamentenpläne zwischen Pflegeheimen und Hausarztpraxen, die zusätzliche Versorgung mit Medikamenten durch Angehörige oder die (fehlende) Kommunikation zwischen verschiedenen Behandlern. Die Schwierigkeiten in der regelmäßigen Bestimmung der Nierenfunktionswerte als Ursache für unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Diese sind beispielsweise bedingt durch die Vielzahl unterschiedlicher Formeln, den organisatorischen Aufwand sowie den fehlenden Standards zur Häufigkeit der Messung bei Altenpflegeheimbewohnern.
Das Problem, was wir als Ärzte haben, ist ein Stück weit, dass gewisse Leitlinien uns unter einen Therapiezwang stellen [. . .] Die Leitlinie sagt doch, aus ihrer Gesellschaft der braucht einen Cholesterinsenker oder, oder, oder. Und das ist sozusagen ein Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen. (FG 1, NE) Versuchen Sie immer mit fünf Medikamenten auszukommen. Alles drüber wird schon mit den Interaktionen unüberschaubar. (FG 1, NE) Aber das ist ein Problem, also dass die zum Teil nicht voneinander wissen, was die kriegen, und zum Teil haben die Bewohner Sachen auch noch in der Schublade irgendwo versteckt. (FG 1, AP) Und die bringen dann Dulcolax mit und das Gängige, was man sich so kaufen kann. (FG 2, PF) Soll der noch ein Statin kriegen, soll der noch ein Schmerzmittel kriegen oder sagst du, Mensch, da eher zurückhalten. Das klappt natürlich nicht immer, weil wir zeitlich das nicht gemanagt kriegen. (FG 1, NE) Also wir haben ja ein Problem ist Polypharmazie und das andere Problem ist ja Schnittstelle. Also Schnittstelle Krankenhaus, von uns zu Ihnen genauso problematisch wie von Ihnen zu uns. (FG 1, HA)
Messung der Nierenfunktion
Ja, das Schwierige ist einfach, wir haben das Problem mit der Bestimmung. Das ist alles kreatininbasiert und diese Altenheimbewohner sind ja doch häufig aus einer Malnutration mangelernährt, da sind diese Formeln, die überschätzen das dann. Das heißt, wir orientieren uns an etwas und das muss man aber auch kritisch hinterfragen, passt das. (FG 1, NE)
(FG= Fokusgruppe, HA= Hausarzt, AP= Apotheker, NE= Nephrologe, PF= Pflegekraft)
mit normaler Nierenfunktion [12]. Polypharmazie war auch der wichtigste Prädiktor für die Verordnung von Arzneimitteln, welche bei vorliegender Nierenfunktion nicht adäquat dosiert oder kontraindiziert waren [3]. Interessant war trotzdem, dass das Thema Multimedikation bzw. Polypharmazie ein solch zentraler Diskussionspunkt in den Fokusgruppen war. Dies alles unterstreicht erneut, dass Polypharmazie bzw. deren Reduktion letztlich ein wesentlicher Punkt bei Interventionen zur Verbesserung der AMTS bei Pflegeheimbewohnern sein sollte. Die genannten Interventionen können dennoch die Diskussion um die Verbesserung der AMTS bereichern und Anregungen für weitere Maßnahmen geben. So wäre beispielsweise die systematische Berücksichtigung der Nierenfunktion in den Diagnosen der Pflegedokumentation (inklusive der aktuellsten Laborergebnisse) eine einfach umzusetzende Maßnahme, die ein hohes Potential zur Verbesserung der AMTS hat. Aufgrund des bereits beschriebenen Zusammenhangs von Multimedikation und eingeschränkter Nierenfunktion sowie der Komplexität des Medikationsprozesses bezieht sich allerdings nur ein kleiner Teil der herausgearbeiteten Kategorien speziell auf Pflegeheimbewohner mit Nierenfunktionsstörungen. Viele der diskutierten Lösungsmöglichkeiten (z.B. interprofessionelle Kommunikation, Multimedikation) sind auf den Medikationsprozess allgemein sowie auf andere Krankheitsbilder oder auf daheim lebende Patienten übertragbar. So fehlen mit Ausnahme einer S1-Leitlinie zum Medikamentenmonitoring (AWMF 053 – 037) evidenzbasierte Standards zur Häufigkeit und zum Umfang von Kontrollen für viele Medikamente – unabhängig von der Nierenfunktion. Das von den Teilnehmern unserer Fokusgruppen genannte Problem der unterschiedlichen Referenzwerte zur Erfassung einer Nierenfunktion wird in weiteren Studien bestätigt [20]. Mit der Entwicklung der BIS-Formel [21] ist inzwischen eine höhere diagnostische Genauigkeit in der Bestimmung der Nierenfunktion bei
älteren Patienten möglich, das Problem des Vorhandenseins unterschiedlicher Standards wird dadurch allerdings eher verstärkt. Insbesondere den Hausärzten wird in ihrer Rolle als Betreuer und erster ärztlicher Ansprechpartner für Pflegeheimbewohner eine entscheidende Einflussmöglichkeit auf die AMTS zugesprochen. Der Einfluss anderer Berufsgruppen (wie der Pflegekräfte und des Apothekers) in Bezug auf die ATMS wird in den Fokusgruppen zwar gewürdigt, deren aktive Beteiligung bei der ATMS ist bislang aber kaum von Bedeutung. So wird die aktive Beteiligung von Pflegekräften fast ausschließlich in Studien (1) umgesetzt und ist in den Ausbildungsrichtlinien bisher nicht verankert. Apotheker sind nach Apothekenbetriebsordnung dazu verpflichtet, Arzneimittelrisiken zu überprüfen und ggf. Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Eine Einbeziehung der Risiken durch eine eingeschränkte Nierenfunktion kann dabei im Allgemeinen nicht mitberücksichtigt werden, weil Apotheken im Regelfall keinen Zugriff auf klinische Daten wie Diagnosen oder Laborwerte haben. Dies gilt auch für heimversorgende Apotheken. Eine stärkere Einbeziehung der Apotheker, beispielsweise durch eine Bereitstellung klinischer Angaben zur Nierenfunktion, kann jedoch den Anteil der korrekt dosierten Medikamente erhöhen [22].
Stärken und Schwächen der Studie Der Artikel beruht auf der Auswertung von lediglich zwei Fokusgruppen mit insgesamt 11 Teilnehmern. Die Option zur Realisierung weiterer Fokusgruppen wurde nicht genutzt, da die Auswertung zeigte, dass im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand eine gute theoretische Sättigung erreicht werden konnte. Die Rückkopplung der Ergebnisse an und die Validierung durch die Teilnehmer unterstützen die getroffenen Aussagen zusätzlich. Möglicherweise könnte eine zusätzliche Einbindung z.B. von
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Tabelle 3 Unterkategorien und Ankerzitate bezogen auf Interventionen zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit (Oberkategorie: Interventionen zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit). Unterkategorie
Beschreibung
Ankerzitat
Infrastruktur/ technische Unterstützung
Umfasst alle Maßnahmen der Infrastruktur/technischer Art. Dazu gehören automatisierte Interaktionswarnungen durch Software in Apotheken und Praxen ebenso wie Erinnerungssysteme an fällige Laboruntersuchungen.
Rollenverständnis
Wie nehmen die beteiligten Berufsgruppen sich selbst/ die anderen Berufsgruppen in Bezug auf ihre Aufgaben im Zusammenhang mit der Arzneimitteltherapiesicherheit wahr? Es geht hierbei um die Professionellen, nicht um Patienten und Angehörige. Der Hausarzt wird hier z.B. als zentraler Ansprechpartner gesehen, eine Erinnerung an fällige Laboruntersuchungen durch Pflegekräfte wird unterschiedlich beurteilt. Diese Kategorie beschreibt Maßnahmen, wie die Kommunikation zwischen den beteiligten Berufsgruppen inklusive Patienten und Angehörigen verbessert werden kann, um einen vollständigen Informationsaustausch zu gewährleisten. Beispielsweise werden Patienten- und Angehörigengespräche als Mittel der Medikamentenkontrolle und –reduktion genannt. Beschreibt Maßnahmen, durch die Multimedikation reduziert oder die Gefahr unerwünschter Arzneimittelwirkungen reduziert werden kann. Z.B. wird die Priscus-Liste erwähnt, die eingesetzt werden kann, um zu überprüfen, welche Medikamente bei Pflegeheimbewohnern eher nicht gegeben werden sollten oder die Möglichkeit von klaren Regeln und Absprachen im Altenpflegeheim zu zusätzlichen Medikamenten genannt. Es handelt sich um die Beschreibungen von Maßnahmen, wie die Nierenfunktion valide und regelmäßig erfasst und die Medikation an die Nierenfunktion angepasst werden kann. Z.B. wird vorgeschlagen, Heimbewohner als niereninsuffizient zu betrachten, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Ich werde jetzt meinen Softwarehersteller fragen, ob es eine Möglichkeit gibt, relativ einfach in dem Routinemedikamentenplan einen Platzhalter einzufügen, in dem der letzte Nierenwert drin steht. (FG 1, HA) Ich habe jetzt ein Heim, die haben das komplett auf EDV umgestellt, das heißt, diese 20 Mal durchgestrichen und 60 Mal hinzugefügten Pläne gibt es nicht mehr. (FG 2, AP) Und ich mach zum Teil ja auch Pflegevisiten. Das heißt, ich kontrolliere auch die Medikamentenpläne. . .. (FG 1, PF) Deswegen finde ich diese Informationen, die Sie dann weitergeben könnten: ,,Pass mal auf, ein halbes Jahr ist die letzte Blutuntersuchung gemacht worden‘‘, finde ich gar nicht mal so schlecht, wenn das aus Ihren Reihen vielleicht nochmal so als Information kommt. Das finde ich gut. (FG 2, NE)
Kommunikation/Information
Multimedikation
Nierenfunktion
Und schreibe zum Teil schon auf unseren Assessmentbogen Fragen an den Arzt. . .. (FG 1, PF) Der Doktor kommt, nimmt Blut ab und behält seine Befunde zuhause. Wir haben nur einen, der uns die Befunde dann auch gibt, dass wir auch was in der Hand haben. (FG 2, PF)
Wie heißt dieses Projekt? Choosing wisely. Da gibt es so ein Projekt aus den Vereinigten Staaten, das sammelt aus den verschiedenen Fachgesellschaften so Dinge, die man nicht tun sollte. (FG 1, HA)
Ich glaube, dass wir zum Beispiel recht gut sind. Wir machen jährlich eine Kreatininkontrolle bei den Leuten, die von uns Medikamente bekommen. (FG 1, HA) Und das wäre also der erste Schritt, erst mal die vermeintliche oder mutmaßliche Niereninsuffizienz zu dokumentieren, zu feststellen, zu sagen, welche Höhe, wie fortgeschritten ist das und danach müsste man quasi die Medikation diesbezüglich immer hinterfragen und zumindest anpassen. (FG 1, NE)
(FG= Fokusgruppe, HA= Hausarzt, AP= Apotheker, NE= Nephrologe, PF= Pflegekraft)
Patienten oder ihren Angehörigen weitere, von den beteiligten Berufsgruppen nicht berücksichtigte Aspekte einbringen. Aufgrund der kleinen Fallzahl und der regionalen Begrenzung der Fokusgruppenteilnehmer bleiben die Ergebnisse kontextgebunden und erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität und Generalisierbarkeit. Die Diskussion der Fokusgruppen zeichnete sich insgesamt durch eine große Konsensfähigkeit und das Fehlen berufspolitisch gefärbter Argumente aus. Diese würden bei einer Diskussion der Vorschläge in einem anderen Kontext (z.B. in Bezug auf die Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen) sicherlich eine größere Rolle spielen. Fazit für die Praxis Aufgrund des qualitativen Studiendesigns sind folgende Hypothesen generierende Schlussfolgerungen möglich. • Multimedikation wird als zentrales Problem in der Arzneimittelversorgung von Pflegeheimbewohnern von allen beteiligten Berufsgruppen wahrgenommen. • Die interprofessionelle Zusammenarbeit mit Pflegekräften und Apothekern (z.B. in Form gemeinsamer Visiten) kristallisierte sich als wichtiger Punkt heraus, um die Arzneimitteltherapiesicherheit in Pflegeheimen verbessern zu können. • Die regelmäßige Bestimmung und Bereitstellung von Laborergebnisse (z.B Kreatininbestimmung aller 6 Monate) könnte
unangemessene Medikamentendosierungen verhindern und dadurch zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit beitragen. • Die Nierenfunktionswerte sollten einheitlich (z.B. Angabe von Kreatinin und eGFR) dargestellt und als Diagnose (Niereninsuffizienz vorhanden/ausgeschlossen) in der Akte hinterlegt werden. • Eine eingeschränkte Nierenfunktion sollte bei der Verordnung kritischer Medikamente durch die Praxissoftware automatisch berücksichtigt werden und eine Warnung an den verschreibenden Arzt auslösen.
Interessenkonflikt Der korrespondierende Autor gibt für sich und seine Koautoren an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Danksagung Die Studie wurde finanziell durch die KfH-Stiftung Präventivmedizin unterstützt. Die KfH-Stiftung Präventivmedizin war an der wissenschaftlichen Auswertung der Daten nicht beteiligt und hatte keinen Einfluss auf die Erstellung des Manuskripts und die Entscheidung der Einreichung zur Publikation. Wir danken den Teilnehmern der Fokusgruppen und Anna Raith für die Unterstützung bei der Auswertung.
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