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Warum braucht es fu¨r einen Wettbewerb im Gesundheitswesen einen Risikostrukturausgleich? Ju¨rgen Wasem, Susanne Staudt und Rebecca Jahn Aus betriebswirtschaftlicher Sicht einer im Wettbewerb stehenden einzelnen Krankenkasse ist es rational, schlechte Risiken (Versicherte ’’ also, die aufgrund ihrer Krankheiten mehr Kosten verursachen als sie Einnahmen bringen) mo¨glichst nicht aufzunehmen. Selbst bei Kontrahierungszwang, wie er im deutschen GKV-System besteht, liegt es nahe, durch Risikoselektion die eigene Position am Markt zu verbessern (Ho¨ppner et al., 2006). Gesamtgesellschaftlich gesehen ist eine solche Selektion aber zum einen aufgrund der unno¨tigen Ressourcenverbra¨uche unproduktiv, zum anderen schadet sie auch der Qualita¨t der Versorgung, weil es fu¨r die Krankenkassen keinen Sinn macht, gute Behandlungsprogramme z.B. fu¨r chronisch Kranke anzubieten, da diese schlechte Risiken sonst ’’ besonderes Interesse an der jeweiligen Kasse entwickeln ko¨nnten (Jacobs et al., 2002). Es gibt grundsa¨tzlich zwei Mo¨glichkeiten, in unserem umlagefinanzierten GKV-System der ungewu¨nschten Risikoselektion entgegen zu wirken: Zum einen ko¨nnte den Krankenkassen gestattet werden, risikoa¨quivalente Pra¨mien zu kalkulieren. Ein sozialer Ausgleich fu¨r die Bu¨rger, die dadurch u¨ber ihre Mo¨glichkeiten belastet wu¨rden, ko¨nnte aus Steuermitteln geschaffen werden (Zweifel und Breuer, 2006). Die zweite Mo¨glichkeit besteht darin, einen Risikostrukturausgleich (RSA) zu schaffen, durch den die Kassen bei ungleichma¨ßiger
Verteilung der Risiken Ausgleichszahlungen erhalten, damit der Wettbewerb nicht zu stark verzerrt wird. Die nicht risikobezogenen Beitra¨ge der Versicherten werden dadurch in risikoa¨quivalente Zahlungen an die Kasse umgewandelt (van de Ven und Ellis, 2000). Diese zweite Methode wurde in Deutschland ab 1994 umgesetzt, als zur Flankierung der Kassenwahlfreiheit der Risikostrukturausgleich (RSA) in der GKV eingefu¨hrt wurde. Auch in anderen La¨ndern mit wettbewerblicher Krankenversicherung und (aufgrund der fehlenden Akzeptanz in der Bevo¨lkerung) nicht-risikoa¨quivalenten Beitra¨gen hat sich das Konzept des RSA durchgesetzt, zum Teil mit Gesundheitsfonds, zum Teil ohne, zum Teil mit einkommensabha¨ngigen Beitra¨gen, zum Teil mit Pauschalbeitra¨gen oder auch in Mischmodellen (van de Ven et al., 2003). Da Ash et al. (1989) schon gezeigt hatten, dass RSA-Modelle, die nur mit Angaben wie Alter, Geschlecht und ggf. Invalidita¨t/Erwerbsminderungsstatus arbeiten, relativ schlecht die Ausgabenunterschiede erkla¨ren ko¨nnen und damit der Ausgleich im RSA nur eingeschra¨nkt wirksam ist, wurde u¨berall nach Verbesserungen gesucht. Seit Mitte der 90er Jahre wurde auch in Deutschland die Einfu¨hrung einer Morbidita¨tskomponente diskutiert (z.B. Wasem, 1998). Anhand von GKV-Daten konnte die deutlich bessere Performance solcher Modelle auch nachgewiesen
werden (Behrend et al., 2007; Reschke et al., 2005). Der deutsche Gesetzgeber beschloss bereits 2001 eine Reform des RSA hin zu einer Morbidita¨tsorientierung. Nach kurzfristigen U¨bergangsregelungen – Beru¨cksichtigung von strukturierten Behandlungsprogrammen (Disease Management Programmen) und einem Risikopool – sollte 2007 ein morbidita¨tsorientierter RSA eingefu¨hrt werden, zuvor wurde ein wissenschaftliches Gutachten erstellt (Reschke et al., 2005). Aufgrund der politischen Konstellationen konnte diese Reform vom BMG jedoch nicht umgesetzt werden. Erst im Rahmen der Großen Koalition kam es 2006/2007 zu einem Kompromiss, der die Einfu¨hrung des morbidita¨tsorientierten RSA erlaubte. Allerdings gab es vor seiner Einfu¨hrung zum 01.01.2009 noch Dispute um die konkrete Ausgestaltung, vor allem um die Frage, welche Krankheiten wie zu beru¨cksichtigen seien, um die Morbidita¨t des Versichertenkollektivs abzubilden. Von der Auswahl/Definition der Krankheiten ist abha¨ngig, wie zielgenau die Ausgaben durch den RSA prognostiziert werden ko¨nnen. Der zur Weiterentwicklung des RSA eingesetzte Wissenschaftliche Beirat wa¨hlte in seinem Gutachten zur Krankheitsauswahl von Dezember 2007 eine sehr enge Auslegung des Krankheitsbegriffs und wollte z.B. Krankheiten, die durch Pra¨vention beeinflussbar sind, ausschließen (Wissenschaftlicher Beirat zur Weiterentwick-
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lung des Risikostrukturausgleichs, 2007). Andere Vorschla¨ge waren weiter gehend, z.B. die so genannte Essener Liste (Ulle et al., 2008), ’’ die sta¨rker auf die Pra¨valenz der Krankheiten abhob. Schließlich vero¨ffentlichte das Bundesversicherungsamt (BVA) im Mai 2008 eine finale Liste (BVA, 2008a) und anschließend auch seine U¨berlegungen zur genauen Ausgestaltung des Klassifikationssystems fu¨r den morbidita¨tsorientierten RSA (BVA, 2008b). Diese Schilderung zeigt, wie wichtig die Ausgestaltung des RSA fu¨r seine Funktionsfa¨higkeit ist, so dass die Akteure hart um die Festlegungen ringen. Bei der Positionierung der Krankenkassen spielen neben grundsa¨tzlichen Vorstellungen auch ’’
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Eigeninteressen – gro¨ßtenteils bedingt durch die unterschiedliche Versichertenstruktur – eine Rolle. Wenn es gelingt, die Risikoselektion zu verhindern, sollte sich im Wettbewerb der Krankenkassen eine Verbesserung der Wirtschaftlichkeit und Qualita¨t der Versorgung ergeben. Dies wird aber nur funktionieren, wenn den Krankenkassen auch ada¨quate Wettbewerbsparameter zur Verfu¨gung gestellt werden. Eine konsistente Wettbewerbsordnung fu¨r die GKV ist verschiedentlich angemahnt (Cassel et al., 2006; Ebsen et al., 2003), aber bislang bei weitem nicht realisiert worden. Der morbidita¨tsorientierte RSA in seiner jetzigen Form ist ein wichtiger und unabdingbarer Schritt, aus-
Literatur siehe Literatur zum Schwer- punktthema. www.elsevier.de/phf-literatur doi:10.1016/j.phf.2009.06.003 Ju¨rgen Wasem Inhaber des Stiftungslehrstuhls fu¨r Medizinmanagement Universita¨t Duisburg Essen Schu¨tzenbahn 70 45127 Essen
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reichend aber ist er nicht. Die jetzige Regelung sollte als ein lernendes System, dessen Wirkung kontinuierlich zu u¨berpru¨fen ist, verstanden werden.
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Einleitung Seit 1.1.2009 soll die Morbidita¨tsorientierung des Risikostrukturausgleichs zu einem besseren Ausgleich der unterschiedlichen Morbidita¨tsrisiken der verschiedenen im Wettbewerb stehenden Krankenkassen der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland fu¨hren. Dieser Ausgleich, der fu¨r die Kassen risikoada¨quate Zahlungen simuliert, ist no¨tig, um Wettbewerbsverzerrungen zu minimieren und einen ersten Schritt zur Verbesserung von Wirtschaftlichkeit und Qualita¨t der Versorgung zu erreichen.
Schlu¨sselwo¨rter: Risikostrukturausgleich, Morbidita¨tsorientierung, Risikoselektion Keywords: Risk structure adjustment, Morbidity orientation, Risk selection
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